Die Linke war immer stolz auf ihre Aufmüpfigkeit. Heute richtet die Bewegung ihre ganze Energie darauf, dass Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen. Was ist bloß schiefgelaufen?
Zu den Büchern, die mich durch das Studium begleiteten, gehörte ein schmaler Band mit schwarzem Wachsumschlag, von dem sich in roten Buchstaben der Titel abhob: „Schumann’s Barbuch: Drinks & Stories“.
Das Buch leistete mir wertvolle Dienste. Ich hatte neben dem Literaturstudium einen Job als Barkeeper angenommen, eine Nebenbeschäftigung, die mich viel über das Leben und seine Abgründe lehrte. Als ich mich an der Journalistenschule bewarb, fragte mich einer der Prüfer, wie denn ein Negroni beschaffen sei. Als ich es ihm, auch dank Schumanns Barbuch, erklären konnte, lehnte er sich zurück und sagte: „Wenn das hier nichts wird, haben Sie ja noch einen anderen Beruf in Aussicht.“ Es ist dann zum Glück doch etwas mit dem Journalismus geworden.
Charles Schumann ist heute 78 Jahre alt und wahrscheinlich der berühmteste Barkeeper der Welt. Weil er nichts davon hält, zu Hause seine Zeit zu vertrödeln, steht er nach wie vor in seiner Bar am Münchner Odeonsplatz und kümmert sich um die Gäste. Vor zweieinhalb Wochen habe ich ihn am Flughafen getroffen, er kam gerade aus London, wo er wieder einen Preis entgegengenommen hatte, den Industry Icon Award, verliehen von der Vereinigung „The World’s 50 Best Bars“. Wir teilten uns ein Taxi in die Stadt.
Er habe ein Problem, sagte er, ob ich ihm einen Rat geben könne. Seit dem Morgen gebe es im Netz eine Kampagne, dass man ihm keine Preise mehr verleihen dürfe. Ein paar Aktivisten hatten ein Interview mit der „Japan Times“ aus dem Jahr 2009 ausgegraben, in dem er gesagt hatte, dass Frauen abends nicht hinter die Bar gehörten.
Es war klar, dass der Satz nicht ganz ernst gemeint war, aber das war egal. Charles Schumann hindere Frauen, Geld in der Gastronomie zu verdienen, hieß es jetzt in dem Aufruf. Zwei Tage später veröffentlichte „The World’s 50 Best Bars“ eine „Entschuldigung“: Die Organisation bedaure die „Verletzungen“, die durch die Auszeichnung an Schumann entstanden seien. Man verurteile jegliche Form von „Frauenfeindlichkeit“ und „Sexismus“.
Vor zehn Jahren hat der Münchner Gastronom Charles Schumann also einmal gesagt, dass er Frauen nicht raten würde, ins Bargewerbe zu gehen. Das reicht, um ihn als Feind zu markieren, den man boykottieren muss. Wenn man einen Barmenschen wie Schumann zu einem Symbol im politischen Kampf machen kann, dann kann es jeden treffen, würde ich sagen. Aber das zu demonstrieren ist ja vielleicht auch das Ziel.
Wann ist die linke Bewegung auf den Weg des Pietismus eingeschwenkt? Die Linke, mit der ich aufgewachsen bin, war stolz auf ihre Aufmüpfigkeit und ihren Widerspruchsgeist. Bei den sogenannten K-Gruppen gab es schon damals nichts zu lachen. Wer gläubiger Marxist ist, hält Ironie für ein Zeichen von Dekadenz.
Aber die eigentliche Anziehungskraft der Bewegung beruhte auf dem Regelbruch, der Unangepasstheit, der Aussicht auf ein wildes, ungebärdiges Leben, das sich den Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft verweigerte. Jimi Hendrix, „Easy Rider“ und der ewige Sommer der Liebe: Das waren die Versprechen der Counterculture, nicht eine besonders strenge Befolgung der Sittengesetze. Alles, was vom wilden Leben geblieben ist, ist ein bisschen Haschisch am Abend, und auch das nur, wenn keiner zuguckt.
Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.
Der kanadische Premierminister Justin Trudeau wurde mit 18 Jahren Verspätung dabei erwischt, dass er während seiner Studentenzeit einmal mit Turban und dunkler Schminke als Aladdin verkleidet bei einem Kostümfest aufgetaucht war. Er hat sich jetzt tausendmal entschuldigt, trotzdem hätte ihn der Vorgang fast die Wiederwahl gekostet.
Der neue Puritanismus stellt besondere Anforderungen an den Menschen, erst recht, wenn er als einflussreich gilt. Als vor einem Jahr Philip Roth starb, der Mann, der mit den Sexszenen in „Portnoys Beschwerden“ 1969 das amerikanische Establishment in Schockstarre versetzte, hieß es in einem Nachruf auf Spiegel Online: Philip Roth, ein bewunderter Schreiber, gut und schön, aber diese Form der Literatur, in der ein alter weißer Mann Frauen als Objekt der Begierde darstelle, gehöre doch der Vergangenheit an.
Ich frage mich manchmal, was im Buchregal einer aufrechten Feministin steht. Jojo Moyes wahrscheinlich oder Nicholas Sparks. Wenn man die heutigen Maßstäbe an die geforderte Harmlosigkeit anlegt, muss vieles raus, angefangen bei Goethe (er 73, sie 17), Thomas Mann (hat ständig den Kellnern auf den Hosenstall gestarrt), Bertolt Brecht natürlich (räkelte sich beim Sex gelangweilt auf dem Sofa, während ihm Helene Weigel zu Diensten war). Leider gehen Genialität und mustergültige Lebensführung selten Hand in Hand, tatsächlich ist die Zahl der Scheusale unter Künstlern sogar relativ hoch.
Weil theoretisch alles verstörend sein kann, was sich auf dem Terrain zwischen Mann und Frau abspielt, gehen Museen dazu über, vor Räumen mit anstößigen Bildern Warntafeln anzubringen. Studenten erhalten vor der Lektüre von Textpassagen, die sie belasten könnten, sogenannte Trigger-Warnungen. Die Rechte habe ein Problem mit freier, selbstbestimmter Sexualität, hat die Feministin Margarete Stokowski dieser Tage geschrieben. Mag sein, ließe sich einwenden, aber zumindest muss man als Rechter vor dem Beischlaf nicht lange Verträge unterschreiben, um mögliche Klagen abzuwenden, wenn einer oder eine anschließend enttäuscht ist.
Manchmal frage ich mich, was dieses freudlose Leben so reizvoll macht, dass ihm eine ganze Generation von Studenten folgt. Anderseits fühlten sich auch jahrhundertelang junge Mädchen vom Klosterleben angezogen.
Wir reden viel über den Wert der Freiheit, aber in Wahrheit ist Freiheit für ängstliche Naturen eher Drohung denn Verheißung. Der Nachteil des Glücksversprechens der siebziger Jahre war, dass es jedem Einzelnen die Verantwortung aufbürdete, sein Glück zu finden. Wer einsam zu Hause saß, weil er keinen Anschluss fand, musste es sich selbst zuschreiben, wenn das wilde Leben an ihm vorbeizog. Von dieser Last ist die nachfolgende Generation befreit. Die Freuden der Selbstkasteiung stehen jedem offen. Wer sich bei den linken Flagellanten einschreibt, muss nie fürchten, dass andernorts die bessere Party stattfindet.
Charles Schumann hat jetzt übrigens den Icon Award zurückgegeben. „Ich will ihn nicht mehr“, schrieb er auf seiner Facebook-Seite. Wenn man 78 Jahre alt ist, können einem bestimmte Dinge einfach egal sein. Das ist ein Vorteil des Alters.
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