Eine breite Allianz, die von Madonna bis zum ARD-Chefredakteur reicht, sieht die Krise als Mahnung, Konsum und Lebensstil radikal in Frage zu stellen und sich mit weniger zu begnügen. Gute Idee, warum nicht bei der ARD anfangen?
Der Chefredakteur der ARD, Rainald Becker, hat die Deutschen dazu aufgerufen, ihr Leben zu überdenken. Es sei an der Zeit, Lebensstil, Konsumverhalten und Wirtschaft grundlegend zu verändern, sagte er in einem „Tagesthemen“-Kommentar. Becker berief sich dabei auf die Sängerin Madonna und den Schauspieler Robert De Niro, die zusammen mit anderen Unterhaltungsgrößen einen Appell gegen das „Streben nach Konsum“ und das „Besessensein von Produktivität“ lanciert haben. Wer glaube, er könne nach der Krise einfach so weitermachen wie zuvor, sei ein Wirrkopf und Spinner.
Ich habe mir den „Tagesthemen“-Kommentar in der Mediathek mehrfach angeschaut, es war wie ein Zwang. Ich hege normalerweise gewisse Vorbehalte gegenüber älteren Herren mit Kurzhaarschnitt und Kurzarmhemden. Einmal haben Becker und ich uns in Berlin am Lufthansa-Gate getroffen. Es war auch ein kurzes Gespräch. Becker ist kein Freund des Small Talks, wie ich bei der Gelegenheit erfuhr.
Ich muss meine Meinung über den ARD-Chefredakteur revidieren. Ich hielt ihn für einen dieser Gremienlurche, wie ihn alle Bürokratien unweigerlich hervorbringen. Wer hätte gedacht, dass sich hinter der biederen Fassade des öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Funktionärs ein Revolutionär verbirgt? Oder vielleicht sollte man besser sagen: ein Swami beziehungsweise eine Swamini?
Der letzte ARD-Star, der sich unter den Augen der Öffentlichkeit auf den Weg nach innen begab, war die Schauspielerin Barbara Rütting, deren Engagement für Ökologie und Esoterik sie nach Stationen im Ashram in Poona und bei den Grünen in Bayern zur „V-Partei3“ führte, der „Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer“. Rainald Becker als eine Art Barbara Rütting der Corona-Welt: Die Krise hält die verrücktesten Wendungen bereit.
Dass die Pandemie ein Tor sei, durch das wir gemeinsam gehen müssen, um in eine bessere, gerechtere Welt zu gelangen, ist eine Vorstellung, die in diesen Tagen an Popularität gewinnt. Es ist, wenn man so will, die religiöse Deutung des Virus: durch die Schmerzen zu den Sternen.
Selbst Presseorgane, die nicht im Verdacht der Schwärmerei stehen, träumen von der Wende zum Weniger. „Der Aufbruch“ war eine Titelgeschichte überschrieben, in der ausgerechnet der „Spiegel“ den Nachweis zu führen versuchte, warum der Corona-Schock die Chance auf eine bessere Welt berge.
In der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ malte ein vom Politikchef Bernd Ulrich angeführtes Autorenteam aus, wie der Kapitalismus in die Knie gezwungen werde, wenn die Menschen massenhaft feststellen, dass sie das meiste, was er ihnen anbietet, nicht mehr brauchen. Ein neues Auto, ein neues Haus, der Jahresurlaub auf den Seychellen: alles entbehrlich, alles gestrichen. Der wahre Reichtum liegt am Boden der Seele, das wusste schon Barbara Rütting.
Sie werden es vermutet haben, mich plagen Zweifel, was die Läuterungswirkung der Pandemie angeht – auch wenn die Idee etwas ungemein Tröstliches hat, wie ich sofort einräume. Wer wünschte sich nicht, dass all die Opfer und Entbehrungen zu etwas Positivem führen könnten. Leider fehlt mir die Fantasie, um mir vorzustellen, dass eine Krise, die dafür sorgen wird, dass Millionen in Armut fallen, den Weg in einer besseren Welt ebnet.
Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass sich Menschen in Not nicht immer so verhalten, dass am Ende das Gute triumphiert. In Italien gehört jetzt die Mafia zu den Profiteuren. Wer in Zahlungsschwierigkeiten steckt, dem bietet sie ganz unbürokratisch ihre Unterstützung an. Auch die Drogenkartelle in Lateinamerika haben ihr Angebot um finanzielle Nachbarschaftshilfe erweitert. Dass es sich nicht um Charity-Organisationen handelt, wird man mit etwas Zeitverzug ebenfalls feststellen.
Konsumkritik ist wahrscheinlich so alt wie der Konsum. Vermutlich saßen die ersten Konsumkritiker schon in der Höhle beisammen und zerbrachen sich den Kopf, wie sie wieder loswerden könnten, was sie am Tag zuvor zusammengerafft hatten.
Je erfolgreicher das Wirtschaftssystem, desto stärker die Versuchung, sich über seine Wohltaten zu beklagen. Dass der Kapitalismus den Menschen ausbeute, indem er ihm nicht zu wenig, sondern im Gegenteil zu viel anbiete, ist eine Volte, die seit den siebziger Jahren ihren festen Platz im gesellschaftskritischen Diskurs hat. Den Menschen zum Konsumsklaven abgerichtet zu haben, gehört zu den unverwüstlichen Evergreens der Klage über den Entfremdungscharakter des Kapitalismus.
Der Schönheitsfehler der Wachstumskritik ist, dass sie bei den Leuten, die den Laden am Laufen halten, spätestens in Krisenzeiten nicht mehr richtig zündet. Wäre es anders, müssten die Grünen weiter von Höhenflug zu Höhenflug segeln. Wenn es eine Partei gibt, bei der Verzicht und protestantisches Entsagungsethos zum Kernbestandteil des Programms gehören, dann die Bewegung um Robert Habeck und Annalena Baerbock. Stattdessen sind die Grünen in den Umfragen bös abgerutscht, was man als Hinweis verstehen darf, dass die Wende zum Weniger deutlich weniger glamourös erscheint, wenn sie nicht nur in der Theorie, sondern ganz praktisch angetreten werden muss.
Es ist halt eine Sache, die Automobilindustrie in Gedanken abzuwickeln, wenn man weiß, dass mächtige Interessen gegen einen stehen, die das schon zu verhindern wissen. Oder wenn ein Wirtschaftszweig, den man zum Teufel wünscht, wirklich zum Teufel geht – mitsamt der zwei Millionen Arbeitsplätze, die dran hängen. Plus den 800 000 Arbeitsplätzen in der Luftfahrtindustrie. Das werden sie in der Zukunftsbranche der erneuerbaren Energie nicht wirklich herausreißen, selbst wenn sie in jeden Vorgarten ein Windrad pflanzen.
Ich sage es ungern, aber ich fürchte, der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian hat recht, wenn er sagt: Die Welt wird s ein wie zuvor, nur schlimmer. Ich glaube keinen Wimpernschlag lang, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. In Wahrheit verläuft die Pandemie erstaunlich überraschungsfrei. Die Deutschen schlagen sich besser als die Franzosen, die Spanier und die Italiener. Den Leuten ist die Öffnung des Baumarkts wichtiger als die Öffnung einer Buchhandlung. Wer in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, ist mal wieder am meisten gekniffen.
Insofern hat mich ARD-Chefredakteur Becker angenehm überrascht. Ich habe ein klein bisschen Angst davor, was passiert, wenn Madonna jetzt die Schlipsauswahl übernimmt, um die angekündigte Änderung des Lebensstils einzuleiten. Das Letzte, was die Sängerin zu Corona von sich hinterließ, war ein Instagram-Video, das sie beim Bad in einer mit Rosenblättern gefüllten Wanne zeigte und in dem sie darüber nachsann, wie sehr die Krise uns doch alle gleichmache Warum man sich ausgerechnet Entertainment-Millionäre als Botschafter der Wachstumskritik aussucht, ist mir ein Rätsel, aber ich arbeite ja auch nicht bei der ARD.
Was die Degrowth-Pläne von Swami Becker angeht, hätte ich einen praktischen Vorschlag. Acht Milliarden Euro nehmen ARD und ZDF jedes Jahr an Gebühren ein, gerade steht eine neue Gebührenerhöhung ins Haus. Warum nicht mit der Wende zum Weniger im eigenen Hause beginnen? Vielleicht für den Anfang ein Verzicht von 5,5 Prozent der aktuellen Gebührenlast als Corona-Soli, das wäre doch eine tolle Sache.
Und wenn ich mir noch eines wünschen darf, lieber Rainald Becker: die nächste Sendung dann aus der Badewanne. Statt importierter Rosen kann es, ökologisch bewusst, auch Löwenzahn sein. „Lasst hundert Blumen blühen!“, forderte schon der Kapitalismuskritiker Mao Tse-tung.