Wenn die zweite Welle rollt

Das Einzige, was uns gegen eine neue Infektionswelle schützen kann, ist eine Tracing-App. Doch das erste Modell haben Datenschützer gleich zu Fall gebracht. Motto: lieber tot als überwacht.

Einmal war ich mit Karl Lauterbach zum Mittagessen verabredet. Wir wählten ein Restaurant am Gendarmenmarkt, das für seine gute Küche bekannt ist. Lauterbach studierte die Speisekarte. Dann winkte er den Kellner herbei und sagte, er habe sich entschieden. Ob er den von ihm gewünschten Gang auch ohne Salz bekommen könne? Der Kellner wirkte ein wenig konsterniert.

Lauterbach hat Medizin studiert, bevor er bei der SPD anheuerte und dort zum führenden Gesundheitspolitiker aufstieg. Er hat vor Jahren entschieden, komplett auf Salz zu verzichten. Wenn ich mich richtig erinnere, verwies er auf Studien, die nahelegen, dass salzlose Kost der Gesundheit zuträglicher sei als salzreiche, aber mein Eindruck war nach unserem Gespräch, dass es sich mehr um einen Selbstversuch handelt. Andere Menschen haben sich geschworen, in ihrem Leben nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren, Lauterbach hat beschlossen, dem Salz zu entsagen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich mag Lauterbach. Ich habe ein starkes Faible für Menschen, die anders sind als andere. Meist sind sie unterhaltsamer. Außerdem gehört Lauterbach zu den wenigen Politikern, die über Humor verfügen. Ich erlaube mir nur die Einschätzung, dass jemand, der in der persönlichen Lebensführung zu extremem Verhalten neigt, auch in der Politik eher extremen Ansichten den Vorzug gibt. Das Exzentrische bleibt selten auf eine Äußerungsform beschränkt. Wenn ich auf Lauterbachs Auftritte in den letzten Wochen blicke, habe ich nicht den Eindruck, falschzuliegen. Sobald es in der Krise wieder eine düstere Prognose oder schlechte Zahl gibt: Er hat sie parat.

In dieser Woche allerdings muss ich Lauterbach recht geben, und zwar was seine Einschätzung des Thüringer Weges in der Pandemiebekämpfung angeht. Er halte es für Wahnsinn, dass Bodo Ramelow ab Juni auf landesweite Vorgaben verzichten wolle, sagte Lauterbach. Wenn der Ministerpräsident so tue, als sei das Virus besiegt, habe das Auswirkungen auf ganz Deutschland. Ich würde noch hinzufügen, dass sich in Thüringen einmal mehr die Hufeisentheorie bestätigt. Während sie bei der AfD zum Widerstand gegen die CoronaRegeln aufrufen, erklärt man bei der Linkspartei die Pandemie dort, wo man regiert, einfach für beendet. Man kann nur hoffen, dass das Virus das auch so sieht.

Bislang war ich ganz zuversichtlich, dass es mit den verbliebenen Einschränkungen gelingen könnte, die Krankheit in Schach zu halten. Inzwischen rechne ich fest damit, dass es wieder zu einem Anstieg der Infektionen kommen wird. Ein Kollege aus Berlin berichtete mir von seinem Besuch in zwei von ihm regelmäßig frequentierten Restaurants. Spätestens um neun Uhr versammeln sich alle an der Bar. Wer hinzutritt, wird mit großem Hallo begrüßt, gerne auch mit Bussi und Umarmung. Christian Linder ist, was das Umarmungsverhalten angeht, keine Ausnahme. Er hatte nur das Pech, bekannt genug zu sein, dass jemand im richtigen Moment das Handy zückte.

Die einzige Hoffnung ist, dass man die Spur der Infektionen nachverfolgt, um die Neuinfizierten ausfindig zu machen und sie in Quarantäne zu nehmen. Glücklicherweise gibt es technische Möglichkeiten, die einem das erlauben. Sie sind sogar erprobt. In Südkorea haben sie vorgemacht, wie eine Gesellschaft den Kampf gegen das Virus mit dem Handy gewinnen kann. Smartphones haben ein sehr viel genaueres Gedächtnis als Menschen, das macht sie bei der Nachverfolgung von Kontakten so nützlich.

 

Der Journalist Wolfgang Bauer hat in einem langen Text für „Die Zeit“ das südkoreanische Wunder beschrieben. Südkorea hatte schlechte Ausgangsbedingungen. Es ist ein dicht bevölkertes Land, nahe an China, und es war zu Beginn der Pandemie neben China auch am härtesten getroffen. Inzwischen haben die Südkoreaner die Neuinfektionen so weit unter Kontrolle, dass die Bürger wieder ein weitgehend normales Leben führen können. Dass sie das ohne Lockdown und ohne Schulschließungen geschafft haben, verdanken sie einem Tracing System von Korea Telecom, dem größten Telefonanbieter des Landes.

Einmal am Tag, so kann man in Bauers Reisebericht lesen, veröffentlicht Korea Telecom die Namen der Restaurants, der Läden und Parks, in denen sich ein Infizierter aufgehalten hat. Die Nummern der Buslinien, die er benutzt hat, die Uhrzeiten. Ob der Betreffende allein oder in Begleitung unterwegs war. Jeder Einwohner in der Nähe wird per SMS informiert und hat so die Möglichkeit zu überprüfen, ob er zur selben Zeit am selben Ort war. Wenn die Inkubationszeit vorbei ist, werden die Daten gelöscht.

In der Bundesregierung ist man sich einig, dass man auch in Deutschland unbedingt eine Tracing-App braucht. Technisch ist die Sache nicht so furchtbar kompliziert. Die Entwickler in Südkorea brauchten für die Programmierung wenige Tage. Wahrscheinlich hätten sie uns das System sogar überlassen, wenn wir gefragt hätten.

Der Bundesgesundheitsminister persönlich hat sich hinter die Sache geklemmt. Im Mai sollte es auch bei uns losgehen. Aber dann traten die Netzaktivisten vom Chaos Computer Club auf die Bühne und sagten, dass der Datenschutz nicht gewährleistet sei. Seitdem ist die Szene heillos zerstritten. Die beteiligten IT-Experten verbrachten mehr Zeit damit, sich gegenseitig mit Vorwürfen zu überziehen, als mit dem Coden. Vielleicht kommt die App jetzt im Juni, vielleicht auch erst im Herbst. Oder pünktlich mit dem Impfstoff.

Wie der Koreaner sagt: Eine Freiheit muss im Kampf gegen die Pandemie dran glauben. Die Koreaner haben sich entschieden, auf etwas Privatsphäre zu verzichten, um sich im Gegenzug ihre Bewegungsfreiheit zu bewahren. Wir opfern lieber die Freiheit, uns frei zu bewegen, damit unsere Daten in Sicherheit sind. Das ergibt, wenn man darüber nachdenkt, auch Sinn: Der Computernerd bleibt ohnehin am liebsten zu Hause.

Ich habe die deutsche Obsession mit dem Datenschutz nie ganz verstanden. Ich weiß noch, wie ich als 25-Jähriger über dem Fragebogen für die Volkszählung saß und mir zu erklären versuchte, warum uns die Beantwortung der Fragen zurück in die Diktatur führ en würde. Da ich den Warnungen vertraute, klebte ich trotzdem einen Aufkleber an die Tür, um dem Volkszähler zu zeigen, dass er unerwünscht sei. Ein Freund hat mich jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass die Tobereien zum 1. Mai, die in Kreuzberg seit den Achtzigern Tradition sind, im Kampf gegen die Volkszählung ihren Ursprung haben. Passt, würde ich sagen.

In der Welt der Hacker ist der Staat eine Macht, die uns überwachen und gängeln will. Glaubt man den Netzleuten, kann man nicht vorsichtig genug sein: Wer eben noch als Bürger Einsicht in seine Mobilfunkverbindungen gewährt hat, liegt morgen schon an der digitalen Kette! Ich will dagegen gar nichts sagen. Ich frage mich nur: Ist das nicht ziemlich genau das Denken, das man jetzt auch auf den sogenannten Hygiene-Demos antrifft? Eine Regierung, die ganz andere Absichten verfolgt, als sie uns sagt? Das Mobiltelefon als Einfallstor für finstere Mächte? Ein System, das jederzeit ins Totalitäre umkippen kann?

Normalerweise muss uns die Weltsicht des Hackers nicht weiter bekümmern. Wenn sich der Chaos Computer Club vor dem Merkel-Totalitarismus fürchtet, sei’s drum. Wenn die Netzgemeinde allerdings das wichtigste Instrument zu Fall bringt, das wir zur Bekämpfung des Virus bräuchten, wird es heikel. Das Leugnen und Verdrehen von Fakten könne in der Pandemie Leben gefährden, hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht mit Blick auf die Corona-Demos gesagt. Vielleicht könnte die Ministerin auch einmal ein Wort an die Netzgemeinde richten.

Der Corona-Demonstrant, der sich vor dem Virenchip fürchtet, ist nur ein Trottel. Der Netzaktivist, der die Tracing-App als Überwachungsinstrument denunziert, ist ein Gefährder.

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