Die Vertreter der neuen Gendersprache proklamieren, es ginge ihnen um den gesellschaftlichen Fortschritt. In Wahrheit zementiert das politisch korrekte Sprechen die sozialen Unterschiede
Von dem berühmten, jüngst verstorbenen Anthropologen David Graeber gibt es ein Buch namens „Bullshit Jobs“. Darin findet sich die Beobachtung, dass die unteren Schichten mehr gegen Intellektuelle hätten als gegen reiche Leute. Warum das so ist? Ganz einfach, sagt Graeber: Weil der Lastwagenfahrer vom Lande genau wisse, dass seine Tochter niemals eine internationale Menschenrechtsanwältin werde oder eine Theaterkritikerin der „New York Times“.
Millionärin vielleicht. Das ist unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen. Aber Theaterkritikerin? Nie im Leben. Selbst wenn die Lastwagentochter die richtigen Schulen besucht hat, bleibt ihr die Welt der Intellektuellen mit ihren raffinierten Sprachcodes und Lebensweisen verschlossen. Schon die Zahl der Praktika, die sie absolvieren müsste, um sich dort zu empfehlen, sorge dafür, dass sie außen vor bleibe.
Graeber hat recht. Der Millionärsklub kennt zumindest die Figur des Neureichen, also den Aufsteiger, der dazustößt, trotz zweifelhafter Herkunft und noch zweifelhafterer Ansichten. Die intellektuelle Welt ist auf einzigartige Weise hermetisch und exklusiv. Hier erkennt man schon nach wenigen Sätzen, die einer äußert, ob er (oder sie) dazugehört oder nicht. Sprache verändere Bewusstsein, lautet ein Mantra im linken Lager. Vor allem aber markiert sie soziale Grenzen.
Ich musste dieser Tage wieder an Graeber denken, als ich las, dass die Fahrkartenkontrolleure in Berlin jetzt angehalten sind, Schwarzfahrer nicht mehr Schwarzfahrer zu nennen. Wenn sie auf jemanden ohne Ticket stoßen, sollen sie ihn als „Person ohne gültigen Fahrschein“ ansprechen. Die Anti Schwarzfahrer Initiative ist Teil eines 44-seitigen Leitfadens des Senats, um die Vielfalt in der Stadt zu stärken, wie es darin heißt.
Besonderen Wert wird in dem Papier auf die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit gelegt, weshalb Mann und Frau nicht mehr einfach Mann und Frau genannt werden, sondern man von „Cis Geschlechtlichkeit“ spricht. Erklärung der Senatsverwaltung für Justiz, die den Leitfaden erstellt hat: „Mit der Vorsilbe ,cis‘ wird beschrieben, dass eine Person in Übereinstimmung mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht lebt. Der Begriff ist das Pendant zu Transgeschlechtlichkeit und stellt gesellschaftlich die ,Norm‘ dar.“
Was als Ausweis fortschrittlichen Denkens gilt, ist in Wahrheit nichts anderes als die Zementierung der Klassengesellschaft. Kann man sich weiter von den normalen Bürgern entfernen beziehungsweise ihnen zeigen, welche Verachtung man insgeheim für sie empfindet, als ihnen nahezulegen, künftig von „Cis Männern“ und „Cis Frauen“ zu sprechen?
Früher war der Gebrauch von Messer und Gabel ein Merkmal, an dem man unwillkürlich erkannte, ob jemand zur Elite zählte – oder, wie am russischen Zarenhof, die Beherrschung des Französischen. Heute ist es der mühelose Gebrauch der Sprache der Vielfalt, die Dazugehörige und Außenstehende trennt.
Ich habe die neue Gendersprache lange nicht richtig ernst genommen. Ein Spezialvokabular, das zum Teil schrecklich ungelenk wirkt, das oft auch grammatikalisch falsch ist, aber im Grunde harmlos – so dachte ich. Der Mensch sucht beim Sprechen die Abkürzung. Niemand bei klarem Verstand spricht statt von Fußgängern lieber von zu Fuß Gehenden, geschweige denn von Fußgänger*innen. Außer bei offiziellen Anlässen. Oder wenn er gezwungen wird. Ich war überzeugt, das funktioniert nur in geschlossenen Anstalten wie Behörden oder Hochschulen.
Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wenn selbst Anne Will und Claus Kleber sich bemüßigt fühlen, beim Reden eine Kunstpause einzulegen, um den Genderstern mitzusprechen, dann zieht die Sache breitere Kreise. Der Deutschlandfunk hat seine Redakteure gerade auf die durchgängige Anwendung gendergerechter Sprache verpflichtet – gut, der geht noch als geschlossene Anstalt durch. Aber auch in Hannover oder im braven Kiel gelten mittlerweile strenge Genderrichtlinien. Selbst das Bistum Eichstätt fühlt sich dem Zeitgeist verpflichtet und teilt per Twitter mit, dass die „Bischöfe und Liturg*innen“ zum Schöpfungstag Kraniche gebastelt hätten, als Zeichen für den Frieden.
Das Irre ist, dass nie ganz klar ist, was mit dem Genderstern eigentlich zum Ausdruck gebracht werden soll. Dass Frauen unsichtbar blieben, wenn die weibliche Form nicht explizit mitgesprochen werde, wie es zur Begründung heißt: Schon das ist eine waghalsige Annahme. Jüngere Frauen verfügen bekanntlich über deutlich höhere Bildungsabschlüsse als Männer. Warum das sogenannte generische Maskulinum schuld daran sein soll, wenn sie den Karrierepfad verlassen und sich ins Familienleben verabschieden, will mir nicht recht einleuchten. Aber meinetwegen.
Nur, warum dann mit Pause reden? Weil es nicht mehr ausreiche, nur Frauen sichtbar zu machen, wie die Vertreter der neuen Sprache betonen, sondern man auch all diejenigen berücksichtigen müsse, die sich irgendwo auf dem Weg zwischen den Geschlechtern befinden. Damit allerdings hat die Sache den Bereich des Nachvollziehbaren verlassen.
Es ist eine Sache, Menschen, die sich nicht für eines der beiden Geschlechter entscheiden können, mit Höflichkeit und Respekt zu begegnen. Etwas völlig anderes ist es, eine ganze Gesellschaft darauf verpflichten zu wollen, beim Reden und Schreiben eine Art Schluckauf einzubauen, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt.
Es ist übrigens gar nicht so einfach, richtig zu gendern. Beim Schreiben wirft man überall, wo man denkt, dass es sein muss, einen Stern dazwischen. Das geht noch relativ leicht. Kompliziert wird es beim Reden. Da man den Genderstern nicht sprechen kann, muss man bei jedem Wort in der Mitte eine Dehnungssekunde einlegen. Wobei aufgepasst: Ist die Pause zu lange, ist es auch nicht recht. Dann gerät man in Verdacht, man wolle sich lustig machen und die Angelegenheit ins Lächerliche ziehen. Schlimmer als jemand, der im Zustand der Unwissenheit lebt, ist der Ignorant, der zwar weiß, wie es richtig geht, sich aber bewusst darüber hinwegsetzt.
Wie bei jeder Revolution geht es auch darum, sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, indem man den weniger Gebildeten und Erleuchteten demonstriert, wie sehr sie der Entwicklung hinterherhinken. Deshalb durchzieht alle Proklamationen ein Ton der Herablassung und augenverdrehenden Indigniertheit.
„Wisst ihr es nicht besser oder ist das eure Unfähigkeit, sich auf Veränderungen einzulassen?“ war vergangene Woche ein Text überschrieben, in dem der aktuelle Jahrgang der Deutschen Journalistenschule ein Plädoyer fürs Gendern ablegte. Der Text endete damit, dass die neue Zeit unaufhaltsam sei und die Widersacher in den Redaktionen glücklicherweise bald in Rente gingen, wo sie dann nur noch wütende Leserbriefe schreiben könnten, die niemand mehr zur Kenntnis nehme.
Bleibt der Unwille in den niederen Ständen. Alle Versuche, sie zur Akzeptanz der neuen Sprache zu bewegen, stoßen auf finstere Ablehnung. Die werktätigen Massen mögen nicht einsehen, warum sie plötzlich so sprechen sollen wie die Söhne und Töchter des Bürgertums, die es sich leisten können, zwischen Abitur und „irgendwas mit Medien“ sechs Semester Genderstudies einzulegen. Instinktiv spüren sie, dass man sie für minderbemittelt und erziehungsbedürftig hält. Das erfüllt sie verständlicherweise mit Grimm.
Dass sich gesellschaftliche Teilhabe auch übers Sprachverständnis entscheidet, ist eine Erkenntnis, die gerade die Linke lange umgetrieben hat. In den siebziger Jahren führte das zu verschiedenen Initiativen, auf Groß und Kleinschreibung zu verzichten. Heute gibt es den Versuch, über die sogenannte Leichte Sprache die Barriere zu senken. Wie sich die Cis Grammatik mit dem Versuch verträgt, auch Menschen zu erreichen, die ohnehin Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, wird für immer das Geheimnis der Genderaktivisten bleiben.