Monat: März 2020

Die Politik der Epidemiologie

Die Medizin empfiehlt der Gesellschaft die Selbstabschließung, nur so ließe sich Leben retten. Aber auch der Kollaps des wirtschaftlichen Lebens fordert Tausende Tote. Man sieht sie nur nicht gleich

Jede Krise hat ihre Priester. Nach 9/11 waren es die Terror-Experten, die in den Talkshows die Zuschauer in die Geheimnisse der islamischen Netzwerke einführten. Nach der Finanzkrise kam die große Stunde der Bankenkritiker, die einem erklärten, wie aus harmlosen Immobilienkrediten finanzielle Massenvernichtungswaffen werden konnten. Jetzt gehört die ganze Aufmerksamkeit den Epidemiologen. Was sie sagen, ist Gesetz, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der bayerische Ministerpräsident spricht vom „Primat der Medizin“, wenn er immer weiter reichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigt. „Der Maßstab ist nicht das, was wir glauben, sondern der Maßstab ist, was uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen“, erklärt die Bundeskanzlerin.

Der Epidemiologe empfiehlt die Abschließung der Gesellschaft, was soll er auch anderes empfehlen? Wo Menschen sich begegnen, zirkuliert das Virus. Also sorgt man dafür, dass jeder Kontakt unterbleibt, dann kommt die Pandemie zum Erliegen. Welche Folgen die Selbstabschließung für das soziale und ökonomische Gefüge hat, liegt außerhalb seines Fachgebiets, das müssen andere beurteilen.

Wir wissen über Covid-19 furchtbar wenig. Wie tödlich das Virus ist, ist zum Beispiel noch immer unklar. Liegt die Letalität bei neun Prozent wie in Italien (was eine Albtraumzahl ist)? Oder pendelt sie sich eher bei 0,5 Prozent ein, so wie es bislang aus Deutschland gemeldet wird? 0,5 Prozent sind immer noch schrecklich, aber eben auch nicht dramatisch viel höher als die Sterblichkeit bei einer außergewöhnlich schwer verlaufenden Grippewelle.

Da sich ohne Datengrundlage keine Entscheidungen treffen lassen, werden Verläufe simuliert. Ich habe mir viele der Modelle angesehen, die derzeit im Umlauf sind. Die Studie der Stunde stammt von Wissenschaftlern des Imperial College in London, die für Großbritannien drei Pandemie-Szenarien durchgerechnet haben.

Die Politik lässt das Virus laufen, die Seuche kommt nach vier Monaten zum Erliegen. Tote: 550 000. Die Politik versucht, das Ansteckungstempo zu verlangsamen: 250 000 Tote. Die Politik versucht, den Ausbruch so weit wie möglich zu unterdrücken, indem sie das Wirtschaftsleben einfriert: mehrere Tausend Tote, alle anderen gerettet. Wenn Sie sich fragen, was das für Deutschland bedeutet: Schlagen Sie auf die Schätzungen einfach 25 Prozent drauf.

Welche Regierung will es verantworten, eine halbe oder vielleicht sogar eine Million Tote in Kauf zu nehmen? Das sind Zahlen, bei denen sich jede weitere Diskussion erübrigt. Es drängen sich natürlich Fragen auf. Man müsste eigentlich darüber reden, ob es vorstellbar ist, dass man eine freie Gesellschaft im Lockdown hält. Was wäre in einem solchen Fall das Ergebnis für Sozialstaat und Demokratie? Aber wer solche Fragen stellt, gilt schnell als Mensch ohne Herz und Moral.

Der Verleger Jakob Augstein hat es versucht. Er hat in den vergangenen Wochen mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Kollaps des öffentlichen Lebens möglicherweise noch schlimmere Auswirkungen hätte als die befürchtete Überlastung der Krankenhäuser. Es hieß dazu, er wolle Menschenleben gegen Wirtschaftszahlen aufwiegen, was insofern eine gewisse Komik hat, als Augstein nun wirklich der Letzte ist, dem man Marktgläubigkeit vorwerfen kann.

Dem Ökonomen Thomas Straubhaar erging es nicht besser, als er in der „Welt“ den Versuch unternahm, für einen Strategiewechsel zu werben. Statt alle Deutschen in Quarantäne zu nehmen, solle man es bei den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen belassen und damit die Immunisierung der Mehrheit vorantreiben, lautete Straubhaars Vorschlag. Das sei zynisch und verantwortungslos, erhielt er zur Antwort, eine Zeitung, die so etwas publiziere, sei ein Schundblatt. Auch so erledigt man eine Debatte. Man unterstellt denjenigen, die auf die unerwünschten Folgen politischer Entscheidungen hinweisen, niedere Motive.

Weil selbst die Epidemiologen wissen, dass man eine entwickelte Volks-wirtschaft nicht einfach für zwei Jahre ins Koma versetzen kann, jedenfalls dann nicht, wenn man anschließend noch etwas vorfinden will, was einem modernen Gesundheitssystem ähnelt, schlagen sie eine Vorgehensweise vor, die unter dem Begriff „der Tanz“ Verbreitung gefunden hat.

Was nach einem Vormittag in der Waldorfschule klingt, bedeutet Koma in Raten. Man öffnet die Schulen, die Geschäfte, die Restaurants für einen Monat. Dann wird alles wieder eingefroren, bis man nach zwei, drei Monaten erneut ein wenig Leben zulässt. Auf und zu, auf und zu: In diesem Rhythmus geht es weiter, bis endlich ein Mittel gefunden ist, welches das Virus in Schach hält, oder ein Impfstoff, der uns von der Seuche erlöst.

Reden wir nicht von den sozialen Verwerfungen, die ein solches Leben im Ausnahmezustand bedeuten würde. Den Verzicht auf Begegnung und Austausch, die prolongierte Einschränkung der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die inzwischen selbst Leuten, die sonst bei jeder Polizeikontrolle einen Anschlag auf den Rechtsstaat wittern, als Quantité négligeable gilt. Bleiben wir bei den Folgen für die Gesundheit.

Auch die Politik der Epidemiologie produziert Tote. Man sieht diese Toten nur nicht gleich. Der Finanzexperte Leonhard Fischer hat auf das Beispiel von Griechenland verwiesen, an dem sich exemplarisch studieren lässt, wie der Absturz einer Gesellschaft erst die kollektive Verarmung und dann auch die Sterblichkeit nach oben treibt. Eine „Lancet“-Studie, die Fischer zitiert, beziffert den

Anstieg der Mortalitätsrate in Griechenland zwischen 2010 und 2016 auf 17,8 Prozent. Das wären, auf Deutschland übertragen, 100 000 Todesfälle mehr – pro Jahr.

Die Ersten tragen an die Kanzlerin die Aufforderung heran, sie müsse über eine „Exit-Strategie“ nachdenken, einen Ausstieg aus dem Ausnahmezustand. Aber das ist leichter gesagt als getan.

Wie findet man den Ausstieg? Die Todeszahlen aus den Intensivstationen sind real, und sie werden weiter steigen. Die Kosten jedes weiteren Tages ohne wirtschaftliche Tätigkeit sind hingegen schwer zu bilanzieren. Wer kann seriös abschätzen, wie viele Menschen sich das Leben genommen haben, weil sie die Einsamkeit nicht länger ertrugen? Wie will man beurteilen, was ein Einbruch des Wohlstands für die Behandlung Krebskranker bedeutet oder für Menschen, die auf teure Medikamente angewiesen sind? Es ist wie mit dem Klimawandel: Je weiter der Tod in der Zukunft liegt, desto schwieriger wird es für die Politik, Entscheidungen zu begründen, die künftiges Leben schützen.

„Whatever it takes“, so lautet die Maximalposition: Niemand solle an Corona sterben, weil es kein Bett für ihn gebe. Das ist ein Anspruch, den wir in Wahrheit schon zu normalen Zeiten nicht erfüllen. Bevorratung gehört zum medizinischen Geschäft. Wir nehmen an anderer Stelle bewusst Engpässe in Kauf, wie jeder weiß, der auf ein lebenswichtiges Organ wartet. Wir haben uns als Gesellschaft gerade gegen ein Organspendegesetz entschieden, dass diesen Mangel gelindert hätte. Haben wir denjenigen, die gegen eine Änderung der geltenden Regeln waren, niedere Motive unterstellt, obwohl die Entscheidung dazu führt, dass Tausende weiterhin früher sterben, als medizinisch notwendig wäre?

Ich möchte jetzt kein Politiker sein. Auch das, was heute moralisch geboten scheint, kann übermorgen unmoralische Folgen haben. Das ist eine Lage, in der es unendlich schwer ist, das Richtige zu tun.

Wissen sie, was sie tun?

Die Regierung macht die Grenze zu Frankreich dicht, aber aus dem Iran konnte man weiter ungehindert einreisen. Lauter hustende Ägypten-Urlauber im Heimatflieger, doch bei der Ankunft verzichtet man auf jede Gesundheitskontrolle

Ich kann genau sagen, wann mein Vertrauen in die Regierung einen schweren Dämpfer erhalten hat. Es war am Montagmorgen, kurz vor zehn Uhr, als Iran Air 721 Kurs auf Frankfurt nahm. Eine Bekannte, die ARD-Journalistin Natalie Amiri, hatte einen Screenshot des Fluges gepostet, man konnte über FlightStats die Route in Echtzeit verfolgen. IR 721 war um 7.40 Uhr auf dem Imam Khomeini Airport in Teheran gestartet. Um 10.06 Uhr landete der Airbus in Deutschland, 14 Minuten früher als vorgesehen.

Iran ist ein Hotspot der Corona-Krise. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort infiziert sind, weil die Regierung den Ausbruch lange heruntergespielt hat. Den offiziellen Zahlen zufolge, die Natalie Amiri am Montag nannte, zeigten von 7,5 Millionen Iranern, die binnen drei Tagen getestet wurden, 175 000 Symptome, 2200 wurden zum Arzt geschickt, 1077 gleich ins Krankenhaus.

Das war also der Stand Anfang der Woche: Die Bundesregierung verfügt Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern. An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, der Schweiz beziehen Bundespolizisten Posten, um jeden Wagen anzuhalten und gegebenenfalls zurückzuweisen. Der europäische Grenzverkehr kommt praktisch zum Erliegen. Aber aus einem der am höchsten durchseuchten Länder der Welt können Menschen ohne jeden Gesundheits-Check einreisen.

Es gab weder eine Temperaturmessung bei der Passvorlage, noch nahm man die Reisenden in Quarantäne, wie es medizinisch geboten gewesen wäre. Erst am Dienstag, nach heftigem Protest, fiel dann die Entscheidung, die EU-Außengrenze zu schließen. Das ist wiederum eine sehr viel drastischere Maßnahme als die Verordnung einer vierzehntägigen Quarantäne für alle, die nach Deutschland einreisen wollen. Niemand kann erklären, warum man binnen 48 Stunden von einem Extrem ins andere fällt. Aber es hat auch niemand gefragt.

Wissen sie in der Regierung, was sie tun? Das wäre meine Frage. Es gehe nicht darum, den Ausbruch zu verhindern, dazu sei es längst zu spät, lautet das Mantra. Es gehe darum, den Infektionsanstieg zu verzögern. Jeder kennt inzwischen das Schaubild, das zwei Kurven zeigt: eine Kurve, die steil nach oben ragt und dann ebenso schnell wieder abfällt – und eine lang gestreckte, die eher einem sanften Hügel als einem Berg gleicht.

Im unteren Drittel des Schaubildes verläuft horizontal ein Strich, der die Zahl der Intensivbetten in Deutschland symbolisiert. Beruhigenderweise bleibt die Kurve der Ansteckungen im Fall des Hügelverlaufs exakt unterhalb dieser Linie. „Flatten the curve“, lautet die Botschaft, die es zu einer Art politischem Heilsversprechen gebracht hat: Wenn es uns gelingt, die Infektionsrate zu verlangsamen, gibt es für jeden, der es braucht, ein Bett.

Ich bin ein skeptischer Mensch. Ich habe angefangen zu rechnen. Wenn es stimmt, was die Bundeskanzlerin sagt, dann werden sich 60 Prozent der Deutschen mit dem Virus anstecken. Das wären 50 Millionen Bundesbürger. Selbst wenn es uns g elänge, die Übertragung auf zwei Jahre zu strecken, würde das immer noch zwei Millionen Infizierte pro Monat bedeuten.

Bei 80 Prozent der Infizierten verläuft die Corona-Grippe harmlos, das ist die gute Nachricht. Aber fünf Prozent benötigen intensivmedizinische Betreuung. Fünf Prozent von zwei Millionen macht 100 000 Intensivpatienten, also das Vierfache dessen, was unser Gesundheitssystem bewältigen kann. Wahrscheinlich habe ich irgendwo einen Rechenfehler gemacht. Trotzdem hat mich das Zahlenexperiment beunruhigt.

Die gute Nachricht ist, man kann das Virus in den Griff bekommen, daran hat auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier gerade erinnert. In Singapur, Hongkong, Taiwan und auch Südkorea sind die Fallzahlen heruntergegangen. Was Altmaier nicht sagt, ist, dass sie in all diesen Ländern sehr viel mehr getan haben, als an die Menschen zu appellieren, sich von anderen fernzuhalten.

Wie sieht eine erfolgreiche Anti- Corona-Strategie aus? Es fängt damit an, dass man seine Bevölkerung wieder und wieder testet, um diejenigen zu identifizieren, die das Virus in sich tragen. Dann muss man sie isolieren, und zwar konsequent. In Südkorea überwachen sie die Bewegungen infizierter Personen per App. Wer sich angesteckt hat, ist über GPS als Corona-Träger sichtbar, damit alle, die gesund sind, Abstand halten können.

Ich höre schon die Datenschützer rufen, das gehe nicht, weil das einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre darstelle. Nun ja, würde ich sagen, das Infektionsschutzgesetz lässt auch ansonsten massive Einschränkungen zu. Wenn ich die Wahl habe zwischen der Isolierung Einzelner und einem dauernden Hausarrest für alle, dann bin ich für die strikte Isolierung.

Ich habe mich oft über die asiatischen Touristen mokiert, die mit einer OP-Maske vor dem Gesicht Münchner Sehenswürdigkeiten in Augenschein nahmen. Das war bis vor vier Wochen bei einem Deutschland-Besuch sicher übertrieben, aber man konnte daran sehen, dass es in asiatischen Ländern aufgrund der Erfahrung mit tödlichen Grippen eine deutlich ausgeprägtere Ansteckungsangst gibt. Deshalb wussten sie dort auch sofort, was auf sie zukommen würde, als die ersten Nachrichten aus der chinesischen Stadt Wuhan eintrafen.

Eine Atemmaske ist ein relativ einfaches Produkt. Ein bisschen Zellstoff, dazu ein Band, mit dem man das Ganze am Kopf befestigen kann – nichts, was eine Industrienation überfordern sollte. Dennoch scheint die Politik auch im dritten Monat seit Ausbruch der Corona-Epidemie nur mit großer Mühe im Stande, die Ausrüstung des medizinischen Personals mit Masken sicherzustellen, von d er Versorgung normaler Bürger gar nicht zu reden.

Auf allen Kanälen ist jetzt zu hören, dass ein Mundschutz nicht vor Ansteckung schütze. Das mag sein, aber er hilft, die Zahl der Neuansteckungen zu reduzieren. Wenn sich das Virus vor allem über Sprechatem und Husten überträgt, wie die Virologen nicht müde werden zu betonen, dann kann schon ein Tuch vor dem Gesicht Leben retten.

Der China-Korrespondent Georg Fahrion beschrieb anlässlich s eines Heimatbesuchs di e Verwunderung üb er die Nachlässigkeit der Deutschen. Natürlich trug er eine Maske, als er das Flughafengebäude verließ und ins Taxi stieg. Niemand würde in Peking auf die Idee kommen, sich mit nacktem Gesicht an einen Ort zu begeben, wo viele Leute aufeinandertreffen. Man würde auch gar nicht weit kommen.

Vielleicht sollten wir anfangen, von den Asiaten zu lernen. Am Dienstag setzte der „Bild“-Redakteur Michael Sauerbier auf Twitter folgenden Eintrag ab: „Aus Ägypten in Berlin-Schönefeld gelandet. 200 Urlauber ohne Mundschutz und Handschuhe, viele huste ten. Sie waren ein bis zwei Wochen mit Italienern, Franzosen, Engländern, Niederländern, Polen, Russen in All-inclusive- Hotels, wo alle am Büfett dieselben Löffel anfassen, 300 zeitgleich im Restaurant. Null Kontrolle bei Abflug und Ankunft, laufen jetzt durch Berlin.“

Man ist in der Politik bereit, den Einzelhandel zu zerstören, indem man Geschäften für Wochen die Existenzgrundlage entzieht. „Fair enough“, wie der Brite sagen würde. Harte Zeiten erfordern manchmal harte Maßnahmen. Aber gleichzeitig sind die Verantwortlichen nicht willens, hustende Urlauber für 14 Tage in Quarantäne zu nehmen, weil das die Laune der Urlauber beeinträchtigen würde? Das verstehe, wer will. Ich verstehe es nicht.

Was uns das Virus über uns selbst sagt

Wir hören gerne, wie aufgeklärt wir sind. Aber können wir uns selbst trauen? Ein Blick auf die leeren Nudelregale im Supermarkt zeigt, dass die Frage in einer Krise nicht so leicht zu beantworten ist

In der Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ habe ich die Meldung gelesen, dass aus mehreren Kliniken der Stadt Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken und Handschuhe entwendet wurden. Zu den Stationen, zu denen sich die Diebe Zugang verschafften, gehört auch eine Intensivstation der Charité, auf der Neugeborene und Kinder mit Leukämie liegen. Krebsstationen verbrauchen große Mengen an sogenanntem Sterilgut. Da bei der Behandlung das Immunsystem heruntergefahren wird, sind Krebspatienten darauf angewiesen, dass sie gut gegen Keime und Viren geschützt sind. Das gilt erst recht für Babys und kleine Kinder.

Zu meinen bevorzugten TV-Serien gehörte eine Zeit lang „The Walking Dead“, in der der Überlebenskampf einer Gruppe von Menschen nach der Zombie-Apokalypse geschildert wird. Der Reiz der Serie liegt nicht in der Wahrscheinlichkeit einer Zombie-Attacke. Wir können uns schnell darauf einigen, dass die Wiederkehr der Toten zu den Ereignissen gehört, vor denen wir ausnahmsweise keine Angst haben müssen. Was einen bei „The Walking Dead“ vor dem Fernseher hält, ist die Plausibilität der Veränderung menschlichen Verhaltens nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Der Zombie ist ja nur das Symbol für eine Katastrophe, die alles auf den Kopf stellt. Es könnte auch ein Meteoriteneinschlag sein. Oder ein Virus.

Wir beschwören gerne, wie aufgeklärt wir sind. Institutionen wie die EU bauen auf der Vorstellung auf, dass wir den Egoismus überwunden und in größeren Zusammenhängen zu denken gelernt haben. In der Krise zeigt sich, dass Blut doch dicker ist als Wasser, wie es so schön heißt. Der Kreis derjenigen, für die man sich verantwortlich fühlt, schrumpft dramatisch. Der Ehemann gehört dazu (in der Regel jedenfalls). Die Eltern, die Kinder. Deren Kinder.

Schon der Nachbar ist im Zweifel außen vor. Mit dem Arbeitskollegen, mit dem man seit Jahren zu Mittag gegessen hat, teilt man nicht einmal das auf der Firmentoilette entwendete Sterilium. „Erst die Hygiene, dann die Moral“, hat ein Kollege die Meldung aus Berlin kommentiert. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn die Krankenhäuser nur noch Menschen einlassen, die aufgrund ihrer Konstitution und ihres Alters eine gute Überlebenschance haben.

Eine der philosophischen Grundfragen ist, wo der Sitz der Moral sei: im Menschen oder, und das wäre die konservative Antwort, in den Institutionen, also den von ihm geschaffenen Ordnungsinstanzen. Die sonnige Antwortet lautet, dass der Mensch von Natur aus gut sei, ein friedliebendes Geschöpf, das im Einklang mit sich und seiner Umwelt lebte, wenn man ihn nicht ständig verbiegen würde. Demgegenüber steht das Konzept vom Menschen als einem selbstsüchtigen Wesen, das jederzeit zu verblüffender Gemeinheit in der Lage ist und sich nur dann zusammenreißt, wenn Strafe droht.

In der Philosophiegeschichte wurden die beiden Sichtweisen exemplarisch durch den französischen Theaterautor Jean-Jacques Rousseau vertreten, auf den die Idee von der Unschuld des Menschen im Naturzustand zurückgeht – und dem englischen Mathematiker Thomas Hobbes, dessen Weltsicht in dem einprägsamen Satz zusammengefasst ist, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei.

Dass Rousseau ein schlechter Vertreter der Auffassung von der prinzipiellen Gutherzigkeit des Menschen war, hat der Anziehungskraft seiner Idee keinen Abbruch getan (um seine intellektuelle Arbeit frei von Störungen zu halten, ließ der Autor seine fünf Kinder allesamt ins Findelhaus bringen, wo sie nacheinander elendig zugrunde gingen). Bis heute ist der Franzose dennoch populärer als sein düsterer Gegenspieler von der Insel.

Wie wir auf den Menschen sehen, hat für die politische Planung erhebliche Auswirkungen. Alle sozialistischen Utopien beruhen auf der Annahme, dass Menschen sich am wohlsten fühlten, wenn alle gleich viel besäßen und es daher keinen Grund für Neid, Gier oder Gewalt mehr gäbe, hätte man endlich diesen Idealzustand wieder hergestellt. Auch der Sozialismus kennt Fehlverhalten, klar, aber das ist ein Übergangsphänomen, das sich leicht durch Umerziehung oder Liquidierung in den Griff bekommen lässt. Wenn erst einmal das eine Prozent der Reichen erschossen ist, fügt sich alles Weitere wie von selbst. Den Rest erledigen Steuern.

Menschen sind durchaus zu kooperativem Verhalten in der Lage. Sie können sogar erstaunlich selbstlos und großherzig sein. Aus Italien wird von Nachbarschaftsinitiativen berichtet, die sich in rührender Weise um die Alten und Kranken kümmern, die nicht mehr das Haus verlassen können. Man sollte sich nur nicht zu sehr auf den Großmut verlassen.

Kann man sich selbst trauen? Ein Gang durch den Supermarkt zeigt, dass die Frage nicht so leicht zu beantworten ist. Obwohl jeder weiß, dass es vernünftiger wäre, wenn alle es beim normalen Wocheneinkauf beließen, denken manche Leute, sie sollten auf Nummer sicher gehen. Die Unvernunft der einen hat die Unvernunft der anderen zur Folge. Es braucht einen starken Charakter (oder viel Gottvertrauen), um dem Impuls zu widerstehen, sich den Wagen mit Nudeln vollzuladen, wenn man sieht, dass die Barilla zur Neige gehen.

Es gibt die Theorie, dass die Religion in dem Moment entstand, als sich der Mensch aus der Kleingruppe emanzipierte und im Zuge der Sesshaftwerdung zu größeren Verbänden zusammenschloss. Mit der Entwicklung komplexer Gesellschaften steigt die Gefahr der Trittbrettfahrerei. Die Erfindung eines Gottes, dem nichts entgeht, wäre so gesehen die Antwort auf die gelockerte Sozialkontrolle. „Beobachtete Leute sind nette Leute“, schreibt der führende Vertreter dieses Ansatzes, der Psychologe Ara Norenzayan.

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat ein Psychotherapeut angeregt, die Angst zu bekämpfen, indem man den Egoismus überwinde. Wer die Atemmasken, die er gehortet habe, in der nächsten Hausarztpraxis oder Klinik abgebe, sollte sozial belohnt werden. Das wäre der Rousseau’sche Weg, wenn man so will.

Erfolg versprechender scheint mir sein Rat, den Humor zu bewahren. Lachen ist nicht nur ansteckend, es ist offenbar auch gesund. Wer viel lacht, sorgt für eine bessere Durchblutung des lymphatischen Rachenringes, also des Immunsystems im Mundraum, wo viele Erkältungserreger ankommen. Außerdem schafft es Abstand zu sich selbst und stärkt so das Gemeinschaftsgefühl, sagt der Therapeut: „Wenn wir aber das Gefühl haben, Teil von etwas Größerem zu sein, dann sind wir viel stärker und mutiger.“ Das wäre dann die Kreuzung von Rousseau und Woody Allen.

Woran erkennt man einen Nazi?

Die Zahl der Nazis wächst mit Abstand zum Dritten Reich. Inzwischen gilt schon als Faschist, wer seiner Tochter Zöpfe flicht und den Sohn zur Leibesertüchtigung anhält. Kein Wunder, dass wir immer neue Programme gegen rechts brauchen

Die Vorsitzende der Linkspartei in Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, hat in der Fernsehsendung „Markus Lanz“ erklärt, woran man Nazis erkennen kann. Eine Methode von Faschisten sei, dass sie im Fahrstuhl dicht mit dem Gesicht an einen heranrückten und dann die ganze Zeit grinsten. Es gebe aber auch das extreme Gegenbeispiel: Nazis würden einen auf ein Getränk einladen oder ihre Hilfe in Alltagssituationen anbieten. „Gehen Sie doch mit uns Kaffee trinken“, würden sie sagen, „sollen wir Sie nicht da- und dorthin mitnehmen“, solche Sachen. Auch das sei eine Methode der Nazis, erklärte Frau Hennig-Wellsow: übertriebene Freundlichkeit.

Vielleicht bin ich zu naiv, aber ich hatte mir Nazis immer anders vorgestellt. Eher so wie den Rapper Fler, der auf Frauen, die seine Texte frauenverachtend finden, ein Kopfgeld aussetzt, damit sie nicht mehr sagen, er sei frauenverachtend. Andererseits soll ja auch Adolf Hitler im persönlichen Kontakt sehr umgänglich gewesen sein. Es gibt Berichte von Zeitzeugen, die sich erstaunt äußerten, wie normal Hitler im Gespräch gewirkt habe, gar nicht wie der Schreihals aus den Parteiveranstaltungen.

Die Frage, woran man einen Nazi erkennt, ist spätestens seit Thüringen wieder aktuell. Manchmal tarnt er sich und bringt die Vertreter der demokratischen Parteien durch seine Hinterlistigkeit in Bedrängnis, wenn man den Berichten glauben darf.

Ich habe vergangene Woche einen Test gemacht. Nachdem ich bei Twitter auf einen Beitrag gestoßen war, in dem ein Journalistenkollege unter der Überschrift „Nazis raus“ eine kurze Filmsequenz von Friedrich Merz beim Biertrinken gepostet hatte, habe ich meine Leser gefragt, was ihnen zu dem Thema Nazi einfällt. Ich bekam folgende Antworten, in ungeordneter Reihenfolge: Zöpfe. Seitenscheitel. Dass man seinen Teller aufisst und beim Essen gerade sitzt. Pünktlichkeit. Doppelhaushälfte. Beim Chinesen Nasigoreng bestellen. Morgens immer Orangensaft trinken. Im Wanderverein sein.

Das mit den Zöpfen ist nicht so weit hergeholt. Die Amadeu Antonio Stiftung in Berlin hat vor Monaten eine Broschüre herausgegeben, in der sie Erziehern und Erzieherinnen Tipps gibt, wie sie sich besser gegen rechte Gesinnung im Kindergarten wehren können. Da nicht immer unmittelbar ersichtlich ist, dass ein Kind aus einem völkischen Elternhaus kommt, braucht es Spürsinn.

Ein rechtes Kind erkenne man zum Beispiel daran, dass es im Morgenkreis schweigsam und passiv sei, da rechte Eltern viel Wert auf Gehorsam legten, heißt es in der Broschüre. Außerdem seien „traditionelle Geschlechterrollen“ im Erziehungsstil erkennbar: Die Mädchen trügen Zöpfe und Kleider, die Jungs hingegen würden „stark körperlich gefordert“. Meine Tochter ist blond und heißt Greta. Sie singt glücklicherweise laut im Morgenkreis und hasst Zöpfe und Kleider.

Der Punkt ist, es gibt nach wie vor echte Nazis, also Leute, die finden, dass der Nationalsozialismus seine guten Seiten hatte und Hitler alles in allem ein famoser Politiker war. Der Verfassungsschutzbericht schätzt die rechtsextreme Anhängerschaft auf 24000 Personen. Selbst wenn man die Leute hinzurechnet, die ihre Hitler-Liebe still ausleben und deshalb nicht im Verfassungsschutzbericht auftauchen, kommen die wirklichen Nazis in Deutschland kaum über den Promillebereich hinaus.

Zu einer respektablen Größe bringen sie es erst, weil ihnen der Einfachheit halber auch alle Menschen zugeschlagen werden, die im Verdacht stehen, etwas gegen Fremde, Schwule oder die Gleichberechtigung von Frauen zu haben. Wenn von Nazis die Rede ist, sind in der Regel Rassisten und Sexisten gemeint beziehungsweise diejenigen, die man dafür hält.

Das Problem, das ich bei dieser Art von Nazi-Hochrechnerei sehe, ist, dass man die Zahl der Nazis damit groß macht, ohne dass die Nazis etwas tun müssen. Wäre ich Nazi, wäre es mir ganz recht, dass man mich überschätzt.

Interessanterweise schwankt man auch bei der versammelten Antifa, was die Gefährlichkeit des Faschismus angeht. Einerseits lebt man in ständiger Furcht, dass die braunen Horden morgen wieder durchs Brandenburger Tor ziehen. Jede Äußerung eines AfD-Politikers gilt als Beleg, dass es demnächst wieder so weit ist. Andererseits möchte man dem Gegner auch nicht zu viel an Bedeutung zugestehen. Als der „Spiegel“ vor vier Wochen den AfD-Führer Björn Höcke als „Dämokrat“ auf den Titel hob, regte sich sofort Protest. Man dürfe Höcke nicht so groß machen, hieß es. In Wirklichkeit sei er doch eine lächerliche Figur, bestenfalls ein Führerlein.

Ich bin ein praktisch veranlagter Mensch. Wenn Leute neben ihren Namen „Nazis raus“ schreiben, frage ich mich, was daraus folgen soll. Ich bin sehr für ein nazifreies Deutschland. Auf Leute, die Andersdenkenden am liebsten den Schädel einschlagen würden, kann ich gerne verzichten. Da in einer Demokratie Zwangsmaßnahmen wie die Verschickung in Strafkolonien ausscheiden, bleibt es allerdings meist beim frommen Wunsch. Wie man sieht, ist es ja noch nicht einmal möglich, Leute wie Björn Höcke daran zu hindern, mit ihrer Stimme die Wahl eines Ministerpräsidenten zum Spektakel zu machen.

Tatsächlich beschränken sich die Vorschläge gegen rechts im Wesentlichen auf die Forderung nach Auftrittsverboten im Fernsehen. Sie werden von mir nur Gutes über die Bedeutung von Talkshows hören, aber dass die AfD nun verschwindet, weil man sie nicht mehr zu „Anne Will“ einlädt, daran mag ich nicht glauben.

Das andere, was helfen soll, sind neue Anti-Extremismus-Programme. Grüne und SPD fordern ein „Demokratiefördergesetz“, das noch einmal knapp 100 Millionen Euro bereitstellen soll, zusätzlich zu den 115 Millionen Euro, die das Familienministerium schon jetzt jedes Jahr für den Kampf gegen rechts ausgibt. Auch da habe ich Zweifel, was die Wirksamkeit angeht.

Ich halte die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unter beschäftigungslosen Politologen für ein gesellschaftlich wichtiges Anliegen. Ich fürchte nur, es wird nicht helfen, Fanatiker vom Fanatismus abzuhalten. Oder meint jemand ernsthaft, dass sich der Attentäter von Halle besonnen hätte, wenn ihm der „Verein Neue deutsche Medienmacher*innen“ beizeiten erklärt hätte, wie man Menschen mit Migrationshintergrund angemessen anredet?

Deutschland hatte schon einmal ein Problem mit Nazis, 70 Jahre zurück. Damals waren die echten Nazis noch so zahlreich vertreten, dass man über eine breit angelegte Entnazifizierung nachdenken musste. Das Programm, das man auflegte, funktionierte im Grunde nach dem Prinzip „Nazis rein“: Statt die Leute an den Rand zu drängen, eröffnete man ihnen die Möglichkeit zur Rückkehr ins normale Leben. Wer bereit war, sich als guter Demokrat zu erweisen, bei dem sah man über sein Vorleben hinweg. An der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik gemessen, war es wahrscheinlich das erfolgreichste Anti-Extremismus-Programm der Welt, und das ganz ohne Geld des Familienministeriums.

Heute gehen wir den anderen Weg. Selbst die FDP gilt nach Thüringen als quasiextremistische Partei. Die FDP sei nicht mehr Teil der politischen Mitte, hat der Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, vergangene Woche bei einer Diskussion auf „Bild TV“ verkündet. Der chinesische Künstler Ai Weiwei, so etwas wie der Lars Klingbeil der Kunstwelt, hat in einem Interview die Deutschen jetzt insgesamt zu Nazis erklärt. Das ist, wenn man so will, die Maximalposition.

Wenn alle Nazis sind, dann ist es irgendwann keiner mehr.