Alle hoffen auf den Impfstoff, doch die Mehrheit der Deutschen wird bis Dezember 2021 mit der Impfung warten müssen. Warum so lange? Die Kanzlerin hat der EU-Kommission die Verhandlungen überlassen, und die hat sich verkauft
In Berlin machen sie sich Sorgen wegen der Impfgegner. Angeblich fragen sich 30 Prozent der Deutschen, ob sie sich gegen Corona impfen lassen sollen. In der „Frankfurter Allgemeinen“ haben sie einen Verhaltensökonomen interviewt, der die Zahl der Unentschiedenen sogar auf 70 Prozent schätzt.
Aus meiner Sicht kann es gar nicht genug Impfskeptiker geben. Je mehr Leute eine Spritze ablehnen, desto früher bin ich an der Reihe, da denke ich ganz egoistisch. Wenn ich könnte, würde ich jeden, der Zweifel hat, in seinen Ängsten bestätigen. Wer weiß, was man sich da einhandelt, würde ich den Schwankenden gerne zurufen. Bei der Schweinegrippe-Impfung gab es anschließend Fälle von Narkolepsie! Besser doch erst mal abwarten und schauen, wie andere die Impfung vertragen!
Ich habe vor ein paar Tagen nachgesehen, wann ich dran bin. Der Deutsche Städte- und Gemeindetag hat ein Schaubild veröffentlicht, in dem die Impfgruppen nach Dringlichkeit aufgelistet sind. Erst kommen die Alten, klar. Dann das Klinikpersonal, auch klar. Dann Asylbewerber und Obdachlose, na gut. Dann Feuerwehrleute, Polizisten, Lehrer, also alle, die den Laden zusammenhalten. Dann wichtige Politiker. Dann das Gros der Bürger, also Leute wie Sie und ich.
Inzwischen wurden die Gruppen, die bevorzugt geimpft werden, auf drei geschrumpft. Aber Menschen ohne ernste Erkrankungen oder gesellschaftlich nützliche Berufe stehen noch immer ganz weit hinten. Voraussichtlicher Impftermin: Dezember 2021. Ich dachte im ersten Moment, ich hätte mich verlesen, als ich das sah. Aber so steht es da: „Risiko niedrig. 45 Millionen Menschen. Ab Dezember 2021“.
Ich glaube, vielen Deutschen ist nicht klar, wie lange es noch dauern wird, bis sie wieder einigermaßen sorglos leben können. Die meisten denken, bis März müssen sie noch durchhalten – dann kommt endlich das Frühjahr, und das Wundermittel von Biontech ist da. Sie hören von insgesamt 1,3 Milliarden Impfdosen, die sich die EU gesichert habe. Vor ein paar Tagen hat Angela Merkel mit den Gründern von Biontech gesprochen und gesagt, wie mächtig stolz sie auf die Forscher aus Mainz sei.
Aber so wird es nicht kommen. Die Impfzentren sind einsatzfähig. Es gibt Personal, das sofort loslegen könnte, so weit reicht das deutsche Organisationstalent noch. Es fehlt allerdings an etwas sehr Grundsätzlichem, nämlich dem Impfstoff.
Die Lage ist wie folgt: Um das Virus auszubremsen, müssen 60 bis 70 Prozent der Deutschen geimpft sein. Dazu werden 100 bis 120 Millionen Impfdosen benötigt, da es zwei Impfungen pro Patient braucht. Bis März stehen aber nur rund 12 Millionen Dosen zur Verfügung, ein Bruchteil von dem, was in der Zeit die Amerikaner bekommen. Bis August folgen weitere 50 Millionen, immer noch viel zu wenig.
Ich referiere hier Zahlen aus dem „Spiegel“, der das Impfstoffdrama im Detail nachgezeichnet hat. Sollte sich die Geschichte bewahrheiten, heißt das: Wir brauchen noch drei weitere Lockdowns, um die Lage unter Kontrolle zu behalten, während wir mit Neid nach Amerika oder Kanada sehen, wo die Bevölkerung dann längst durchgeimpft ist.
Was ist schiefgelaufen? Die Bundesregierung hat den Einkauf der überlebenswichtigen Impfstoffe der EU überlassen, das ist schiefgelaufen. Man will ja keine nationalen Alleingänge. Der nationale Alleingang gilt hierzulande als große Sünde, wie wir wissen.
Leider hat man in Brüssel auf das falsche Pferd gesetzt. Man hat sich dort bis über die Halskrause bei Sanofi und AstraZeneca eingedeckt. Die versprochenen Lieferungen bestehen bislang allerdings nur auf dem Papier, beide Unternehmen stecken da noch in der Entwicklung. Moderna und Biontech hingegen, die über einen funktionierenden Impfstoff verfügen, hat man auf Distanz gehalten.
Man hätte genug Impfstoff haben können. Der „Spiegel“ zitiert Insider, die berichten, dass Biontech bis zu 500 Millionen Impfdosen angeboten hat. Bei Moderna wären es 300 Millionen gewesen, wenn man gewollt hätte. Das hätte fürs Erste gereicht. Aber das Angebot hat man ausgeschlagen.
Warum sich die EU-Kommission nicht ausreichend bei Biontech versorgt hat, immerhin ein deutsches Unternehmen, gefördert mit deutschem Steuergeld? Kein Mensch weiß es. Beziehungsweise vielleicht genau deshalb: weil es ein deutsches Unternehmen ist. Jemand, der sich auf den Korridoren der europäischen Diplomatie auskennt, sagte mir, die Franzosen hätten darauf gedrängt, dass Sanofi das Rennen macht. Den Triumph, dass die Deutschen jetzt Europa retten, wollte man den Nachbarn nicht auch noch gönnen.
Welche Wendungen die Politik doch manchmal bereithält. Eben waren wir noch wahnsinnig stolz, dass uns die umsichtige Angela Merkel regiert und nicht dieser orange angepinselte Immobilienjongleur aus New York. Nun stellt sich heraus, dass der für sein Krisenmanagement viel geschmähte US-Präsident genug Impfstoff an Land gezogen hat, während ausgerechnet die allseits gelobte Bundeskanzlerin untätig blieb. Ich glaube, das nennt man Ironie des Schicksals.
In Brüssel sind sie wie immer der Meinung, die Sache super gedeichselt zu haben. Wie schrieb die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, vor Weihnachten: „It’s Europe’s Moment. We protect our citizens together. We are stronger together.“ Stronger together? Eher wird es demnächst heißen: Dying together, Brüssel tötet. Glück im Unglück: Mitglieder der Kommission fallen unter kritisches Schlüsselpersonal, die müssen nicht bis Dezember 2021 warten. Das ist die gute Nachricht.
Es gibt in Brüssel auch niemanden, den man fragen könnte, wie man sich so verkaufen konnte. Das ist ja das Besondere an der EU: Verantwortung verläuft sich auf wundersame Weise auf den endlosen Fluren der Europa-Bürokratie. Wenn man trotzdem nachfragt, wie jetzt die Kollegen vom „Spiegel“, heißt es, dass man sich nicht zum Verlauf von Verhandlungen äußere.
In Berlin sind sie inzwischen aufgewacht. Anfang letzter Woche machte die Nachricht die Runde, das Gesundheitsministerium habe 30 Millionen Impfdosen nachgeordert, damit sei genug Corona-Vakzin für alle da. Ich bin ein misstrauischer Mensch, ich habe ins Kleingedruckte geguckt. Dort fehlte leider die entscheidende Information: wann der Impfstoff kommen soll. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob er in der ersten oder in der zweiten Jahreshälfte Deutschland erreicht. Es ist der Unterschied zwischen einem weiteren Lockdown und keinem.
Ich muss hier eine Einschränkung einschieben. Ich schreibe diese Kolumne am Dienstag, also wegen der Weihnachtsfeiertage sechs Tage vor Erscheinen. Ich will nicht ausschließen, dass über die Feiertage noch ein Wunder geschieht. Weihnachten ist ja die Zeit der Wunder, auch wenn sie dieses Jahr Corona-bedingt ebenfalls kleiner ausfallen. Ich bin allerdings skeptisch, dass sich die Dinge zum Guten wenden, wenn ich mir die Bemühungen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Masken oder Schnelltests ansehe.
Manchmal frage ich mich, was Angela Merkel in den vergangenen Monaten getan hat, außer sich steigende Zahlen anzusehen. Wie kann eine so kluge Frau wie die Kanzlerin in einer für die Nation so wichtigen Frage so neben sich stehen? Aber wer weiß, vielleicht kommt das zwangsläufig dabei heraus, wenn man über die Jahre verinnerlicht hat, dass man sich als Deutscher vor allem dann als guter Europäer erweist, wenn man eigene Interessen hintanstellt. Rudolf Augstein hat über Helmut Kohl einmal geschrieben, er sei ein Mann, der sich dreimal vor der Trikolore verbeuge. Augstein meinte das als Kritik, heute gilt das als Ausdruck besonderer Staatskunst.
Der UN-Generalsekretär António Guterres hat den Deutschen jetzt zu ihrer Selbstlosigkeit gratuliert, immerhin. Die Impfstoffpolitik der EU zeige die Bereitschaft, mit den Kleinen und Schwächeren zu teilen, sagte er bei einer Feierstunde im Bundestag. Wir werden sehen, ob die Deutschen auch finden, dass die Auszeichnung als Moralweltmeister den Nachteil bei der Impfstoffversorgung aufwiegt. Wenn es ans Sterben geht, können die Leute manchmal furchtbar selbstsüchtig sein.