40 Beauftragte sind inzwischen auf Geheiß der Bundesregierung damit beschäftigt, Deutschland zu einem inklusiveren und besseren Land zu machen. Kein Wunder, dass immer neue Formen der Benachteiligung entdeckt werden
Helmut Thoma, das Trivialgenie des deutschen Fernsehens, der Mann, der den Deutschen „Tutti Frutti“ und „Der heiße Stuhl“ brachte, war bei ServusTV. Die Sendung, in der er auftrat, heißt „Links. Rechts. Mitte“, eine Talkshow, in der auch Gäste eingeladen sind, die bei „Anne Will“ nicht mal in den Zuschauerraum kämen.
Ich war Anfang des Jahres da. Damals ging es um Corona. Jetzt war das Thema der Vormarsch der Ukraine.
Wie es lief? Sagen wir so: Gegen Thoma ist Gerhard Schröder ein schüchterner Chorknabe.
Dialog, Minute 39 und folgende:
Thoma: „Was hat denn Putin bitte getan? Können’s das bitte sagen?“
Moderatorin, leicht konsterniert: „Er ist einmarschiert am 24. Februar. Er hat ein Land überfallen.“
Thoma: „Ja und? Die Amerikaner hätten einen Atomkrieg in Kuba begonnen, die saßen schon mit der Hand am Knopf da.“
Ich dachte, Johannes Varwick sei verrückt, der Politikprofessor, der vom Bundeskanzler fordert, er müsse die Ukraine zum Aufgeben zwingen. Dass der nächste Angriffskrieg von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ausgeht, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Aber es gibt stets noch höhere Grade der Verrücktheit.
Ich habe Thoma einmal getroffen, da war er der Zirkusdirektor bei RTL. Die Mischung aus heiterer Gerissenheit, Wiener Schmäh und erwartungsfroher Provokationslust hat mich sofort begeistert. Von Thoma stammen unsterbliche Weisheiten wie der Satz, dass, wer Bratwürste anbiete oder genehmige, dass Bratwürste angeboten werden dürfen, sich nicht beklagen könne, dass sie Fett enthalten.
Damit ist er zum erfolgreichsten Medienmenschen geworden, den Österreich jemals hervorgebracht hat. Sozusagen der Mozart des Privatfernsehens. Oder soll man sagen: der Dr. Mabuse? Wie auch immer, irgendetwas Schreckliches muss mit ihm passiert sein, seit er sich vor Jahren auf das Sammeln von Aufsichtsratsmandaten verlegte. Manche Menschen entdecken mit fortschreitendem Alter ihre Liebe zur Entomologie, andere finden zur Diktatoren-Verehrung.
Anderseits: Auch die Verrückten und Marginalisierten brauchen eine Stimme. Wo kämen wir hin, wenn nur grundvernünftige Leute im Fernsehen säßen? Todlangweilig wär’s. Und unfair obendrein. Ich ertrage aus diesem Grund sogar Sascha Lobo mit seinem Irokesen, der inzwischen so aussieht, als ob ein Marder mit ins Bett eingezogen ist.
Wenn Lobo die tote Queen herabwürdigt, weil sie ihm nicht feministisch genug war und zu wenig antirassistisch obendrein, denke ich: Sei’s drum, auch diese Position musste vertreten werden. Solange die Kombattanten in Talkshows nicht mit Marschflugkörpern aufeinander zielen, ist das Schlimmste, was passieren kann, eine Kritik aus der Feder einer Einfaltsmeise auf „Zeit Online“ oder bei der „FR“.
Wer weiß, vielleicht gibt es bald sogar eine Quote für Leute wie Thoma und Lobo. Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, hat laut darüber nachgedacht, das Antidiskriminierungsgesetz um neue Tatbestände zu ergänzen. Warum bei Geschlecht, sexueller Präferenz oder Religionszugehörigkeit stehen bleiben? Weshalb nicht auch regionale Herkunft oder Familienstand zu den Kriterien zählen, bei denen die Beauftragte tätig werden muss?
Das Gesetz habe große Lücken, sagte Ataman in einem Interview. Ostdeutsche zum Beispiel kämen seltener in Führungspositionen und seien einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Auch viele Eltern erführen in Deutschland Diskriminierung. „Wir haben eine Studie dazu gemacht. Darin gaben 40 Prozent der Eltern an, dass sie am Arbeitsplatz diskriminiert werden, zum Beispiel, weil sie früher nach Hause müssen, um ihr Kind zu betreuen. Solche Schutzlücken möchten wir schließen.“
Das ist ein löblicher Ansatz. Auf die eine oder andere Weise sind wir doch alle diskriminiert. Wer nicht zu schwarz oder zu migrantisch oder zu kinderreich ist, der ist eben zu weiß oder zu männlich oder ganz grundsätzlich zu privilegiert. Abwertung ist nicht auf Minderheiten beschränkt. Auch als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft kann man Beleidigung und Stigmatisierung erfahren.
Ich gehöre der Altersgruppe der sogenannten Boomer an. Glauben Sie nicht, dass dies nur einfach wäre. Im „Spiegel“ musste sich meine Generation von einer Autorin aus der Schweiz (ausgerechnet!) vorhalten lassen, wir hätten die falsche Musik, die falsche Kleidung und die falsche Einstellung sowieso. Der Text war mit einem Foto von Kai Pflaume in Hoodie und Sneakern bebildert.
Zum Glück bin ich ein Mann. Schlimmer noch als Abwertung ist die totale Nichtbeachtung. Die Boomer-Frau ist nicht mal wert, dass man sich über sie lustig macht. Sie kommt einfach nicht vor, nicht einmal als Feindbild.
Auch in Texten fortschrittlicher Autor:innen gleitet der Blick über Frauen ab 50 achtlos hinweg. Ich weiß nicht mehr, welche Kollegin es war, die in der MeToo-Debatte einwarf, die jungen Anklägerinnen, die hinter jedem Kommentar eine Beleidigung witterten, sollten einmal in das Alter kommen, wo man sich danach sehne, dass einem jemand auf der Straße hinterherpfeife.
Die Sache mit der gesetzlichen Anerkennung ist natürlich nicht ganz billig. Von selbst passiert da nichts, deshalb braucht es Leute wie Ataman. Oder den Beauftragten für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Oder die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus. Oder den Beauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland.
40 Beauftragte sind inzwischen auf Geheiß der Bundesregierung damit beschäftigt, Deutschland zu einem inklusiveren und besseren Land zu machen. Ich bin sicher, wenn man die Zahl zur 500000-Euro-Frage bei „Wer wird Millionär?“ machen würde, die Kandidaten wären heillos aufgeschmissen. Darauf kommt auf Anhieb kein Mensch.
Alles hat allerdings seinen Preis, auch die Opferinflation. Wenn jeder ein Opfer der Verhältnisse ist, sinkt der Wert der einzelnen Leidensgeschichte. Es entsteht auch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit.
Der „Spiegel“-Redakteur René Pfister hat über eine Studie berichtet, die der Bundestag in Auftrag gegeben hatte, um herauszufinden, wie rassistisch die Deutschen sind. Das Ergebnis war ermutigend. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, in den vergangenen fünf Jahren einer rassistischen Aussage widersprochen zu haben. Jeder dritte sagte, er würde an einer Demonstration gegen Rassismus teilnehmen, fast jeder zehnte hatte es bereits getan.
Ein weltoffenes und tolerantes Land, in dem die überwältigende Mehrheit der Bürger (90 Prozent) der Meinung ist, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe: So stellt sich die Bundesrepublik im Lichte der Rassismusforschung dar.
Aber so konnte es das Institut, das die Studie durchgeführt hatte, das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, nicht stehen lassen. Die Autoren beklagten stattdessen, dass bei der Hälfte der Bevölkerung „Reflexe der Abwehr und eine damit einhergehende Bagatellisierung von Rassismus“ zu beobachten seien.
Wie sie zu diesem Befund kamen? Sie hatten den Befragten unter anderem folgende Aussage vorgelegt: „Es ist absurd, dass einem Rassismus unterstellt wird, wenn man lediglich fragt, wo jemand herkommt.“ 63,4 Prozent stimmten dem zu, darunter auch viele derjenigen, die jederzeit gegen Unrecht auf die Straße gehen würden.
So ist das, wenn man überall Diskriminierung wittert: Dann ist es bereits Rassismus, wenn sich jemand für die Lebensgeschichte seiner Mitmenschen interessiert. Sie sehen, es bleibt noch viel zu tun.