Eben noch galten die Grünen als Partei, die den nächsten Kanzler stellt. Die Weigerung, alles gegen die Energiekrise zu tun, macht zunichte, was sich die Parteispitze an Vertrauen aufgebaut hat
Bis vor einer Woche war die Energiekrise eine Krise der beiden ehemaligen Volksparteien, also von CDU/CSU und SPD. Das war zwar schon da nicht ganz richtig, weil es die grüne Energiewende ist, die wesentlich zu den Kalamitäten beigetragen hat, in denen wir uns befinden. Aber am Ende zählt, wer regiert, und das waren über die vergangenen 16 Jahre nun mal nicht die Grünen.
Seit Anfang vorletzter Woche ist die Krise eine grüne Krise. Alles, was in diesem Winter noch kommen mag, wird nun ihnen zugerechnet werden: das Unternehmensterben, das der Verdoppelung des Strompreises folgen wird; die Blackouts, wenn die Netze kollabieren, weil nicht mehr genug verlässliche Kraftwerke da sind.
Ich hielt die Grünen für smart, jedenfalls strategisch. Ich habe ihnen zugetraut, den nächsten Kanzler zu stellen. Kurze Zeit sah es so aus, als ob das Projekt aufgehen könnte, die gesellschaftliche Mitte zu erobern. Die Weigerung, alles zu tun, was nötig ist, um den Meltdown abzuwenden, ist deshalb ein Fehler, dessen Auswirkung man gar nicht überschätzen kann. Er ist geeignet, alles an Vertrauen zuschanden zu machen, was sich die Partei in den letzten Monaten erarbeitet hat.
Wir stehen am Anfang des Sturms. Man sieht das Wetterleuchten. Kein Tag, an dem man in den Zeitungen nicht von Betrieben lesen kann, die keine Ahnung haben, wie sie die Stromrechnungen schultern sollen. Am schlimmsten sind Unternehmen betroffen, die alles richtig machen wollten und auf eine moderne Gasturbine gesetzt haben. Wer jetzt noch Öl oder Kohle verfeuern kann, hat wenigstens eine Alternative.
Es trifft auch Branchen, auf die man nicht sofort kommt. Ich bin am Samstag bei einer Gartenparty auf einen Arzt gestoßen, der vor drei Jahren in eine radiologische Praxis in München eingetreten ist. Seine Rechnungsstelle hat ihn vergangene Woche angeschrieben, er möge sich auf eine Nachzahlung von 1,2 Millionen Euro bei den Stromkosten einstellen. Radiologische Großgeräte sind Stromfresser, die sich nicht einfach über Nacht abstellen lassen. Das vertragen die Magnete nicht, die es zur Bildgewinnung braucht.
„Mal schauen, wie lange wir durchhalten“, sagte der Radiologe. Ich fand ihn erstaunlich gefasst. Ich könnte nicht mehr schlafen, wenn man mir eine Mehrzahlung von 1,2 Millionen Euro in Aussicht stellen würde. Aber als wir auf die Entscheidung des Wirtschaftsministers zu sprechen kamen, die Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen, war es mit dem Gleichmut vorbei. Man konnte sehen, wie in dem Mann Unverständnis und Wut die Oberhand gewannen.
Nicht nur mein Radiologe fragt sich, warum wir nicht alles tun, um den Schaden für das Land so gering wie möglich zu halten. Zwei Wochen ist es jetzt her, dass Robert Habeck seinen Plan vorstellte, die deutsche Kernkraft in die stille Reserve zu überführen. Bis heute weiß niemand, wie das gehen soll. Mit einem Atomkraftwerk verhält es sich wie mit dem Computertomografen meines radiologischen Bekannten: Manche Anlagen haben keinen Ein- und Ausschalter. Habeck hat seinen Kritikern geantwortet, dass alle, die meinten, sein Plan funktioniere nicht, ihn nicht verstanden hätten. Was genau er sich vorstellt, hat er leider nicht dazugesagt.
Es gibt in der Politik ein paar unumstößliche Gesetze. Ein Skandal, für den man mehr als einen Satz braucht, ist kein Skandal. Deswegen war im Wahlkampf das Schummelbuch von Annalena Baerbock ein großes Thema und nicht die Cum-Ex-Vergangenheit von Olaf Scholz, obwohl Letzteres sehr viel bedeutsamer ist als Ersteres. Genauso gilt: Eine Erklärung, für die ich mehr als eine Minute brauche, ist als Erklärung unbrauchbar.
Niemand wusste das bislang besser als die Grünen. Sie haben die Chlorhühnchen erfunden und den Genmais, um Deutschland vor fremden Gütern zu schützen. Wenn ihre Gegner ansetzten, die Vorteile von Handelsabkommen mit fernen Ländern zu erklären, lachten sie nur.
Und jetzt suchen sie ihr Heil in der Merit-Order, also der Reihenfolge von Kraftwerken bei der Preisgestaltung? Good luck. Ich habe am Wochenende den Versuch gemacht, zu erklären, wie sich der Preis am Strommarkt berechnet. Ich konnte sehen, wie der Blick meines Gesprächspartners ins Leere ging. Bei Greenpeace wusste man schon, warum man immer den Delfin ins Schaufenster stellte und nie die unterseeische Riesenspinne, die es genauso verdient hätte, am Leben zu bleiben.
Ist das AKW ein Symbol? Selbstverständlich ist es das. Bei der Stromerzeugung macht die Kernenergie nur noch sechs Prozent aus. Aber so ist es in Kriegszeiten: Manchmal geht es auch um Symbole. Das gilt erst recht, wenn den Leuten das Wasser bis zum Hals steht.
Wenn man den Brief mit der neuen Abschlagszahlung in Händen hält, ist es gut zu wissen, dass die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Situation in den Griff zu bekommen. Und nicht sagt: „Sorry, ist schlimm, dass du jetzt das Fünffache zahlen sollst. Wir haben da auch 300 Euro für dich. Aber was die Stromgewinnung angeht, müssen wir leider Rücksicht auf die grüne Seele nehmen.“
Mit der Energiewende ist es wie mit dem Sozialismus. Es ist nie die Idee schlecht, immer nur die Ausführung. Selbstverständlich wird am Ziel festgehalten, nach der Atomkraft aus der Kohle auszusteigen. Dummerweise ist es genau diese Fixierung auf die Erneuerbaren, die uns in die Abhängigkeit vom russischen Gas geführt hat. Die Grünen haben immer vor Putin gewarnt, das unterscheidet sie vorteilhaft von anderen Parteien. Allerdings hat dann die grüne Energiewende die Dinge noch viel schlimmer gemacht, weil nach dem Aus für Kohle und Kernkraft nur Gas als verlässlicher Energieträger übrig blieb.
Im Koalitionsvertrag ist der Bau weiterer Gaskraftwerke angekündigt. „Erdgas ist für eine Übergangszeit unverzichtbar“, heißt es dort in einer raren Verbeugung vor der Wirklichkeit. Es wäre interessant zu wissen, ob sich die Koalition daran halten will oder ob sie darauf setzt, dass aus dem Nichts andere Energieträger auftauchen. Vielleicht verzichtet man auch einfach auf die sogenannte Grundlast, also Energielieferanten, die von den Launen des Wetters unabhängig sind. Das würde passen zu einer Welt, in der Wille und Vorstellung zählen und nicht die schnöden Gesetze der Physik.
Sie halten das für einen Witz? Ich erinnere mich an einen Tweet, in dem das Bundesumweltministerium vor der Gaskrise erklärte: „Grundlast wird es im klassischen Sinn nicht mehr geben.“ Statt auf Grundlast setzte man auf ein System von Erneuerbaren, Speichern und intelligenten Netzen. Im Umweltministerium war man immer schon weiter als in der normalen Politik. Jetzt muss nur noch die Wirklichkeit nachfolgen.
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat Anfang der Woche die Meinung der Deutschen zur Laufzeit der Atomkraftwerke erfragt. 67 Prozent sind dafür, dass die drei noch in Betrieb befindlichen Meiler bis 2024 zur Stromerzeugung genutzt werden. Selbst unter Grünen-Wählern gibt es einen Stimmungsumschwung. Der Teil derer, der einen Weiterbetrieb befürwortet, liegt mit 41 Prozent nicht mehr so weit hinter dem Teil, der für Abschaltung beziehungsweise Reserve ist.
Wäre ich ein Grünen-Hasser, würde ich mir wünschen, dass die Parteispitze möglichst lange an ihrem Ausstiegsbeschluss festhält. Spätestens wenn im Januar während der Dunkelflaute die Lichter ausgehen, weil Sonne und Wind mit dem Stromverbrauch nicht mithalten, haben sich die Ambitionen auf Höheres fürs Erste erledigt.
Wenn die Tesla-Besitzerin ihren Wagen nicht mehr von der Stelle bekommt, weil die Ladestation streikt, dann ist die grüne Partei wieder dort, wo sie herkommt: nicht mehr Lifestyle-Entscheidung für die gehobene Mittelschicht, sondern ein Angebot an die wirklich Überzeugten, die sich ihre Überzeugung auch etwas kosten lassen. Das reicht dann immer noch für den Bundestag. Mit dem Einzug ins Kanzleramt wird’s allerdings schwer.
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