Monat: August 2025

Der verlogenste Politiker Deutschlands

SPD-Chef Lars Klingbeil sagt, dass sich Menschen mit hohen Einkommen fragen lassen müssen, was sie tun, um das Land gerechter zu machen. Gut, aber warum fängt er nicht selbst an und trägt zum Wohlstand bei, statt ihn zu mindern?

Ich habe ein TV-Interview mit dem Sprecher der Gewerkschaft der Polizei in Berlin, Benjamin Jendro, gesehen. Es ging um den Spontanbesuch des ukrainischen Präsidenten in der Hauptstadt und welchen Aufwand so eine Visite für die Beamten bedeutet.

Am Rande kam Jendro auch auf die Zustände in den Polizeirevieren zu sprechen. Der Gewerkschaftsmann berichtete von tropischem Ungeziefer, das sich in den Dienststellen eingenistet habe. Man sah notdürftig zusammengeflickte Wasserleitungen, Schreibtische, die noch aus der Kaiserzeit zu stammen schienen, und Polizeiwagen, in denen die Sitze mit Leukoplast zusammengeklebt waren.

Tropisches Ungeziefer? Ich dachte, so etwas gäbe es nur in Kolumbien. Aber es scheint zu stimmen. Schimmel im Keller, nasse Wände, bröckelnder Putz: Damit halten sich Polizisten in der Hauptstadt gar nicht mehr auf. Das gilt bei ihnen als normal. Auch dass sie Teile ihrer Ausrüstung inzwischen selbst kaufen müssen, um unbeschadet durch den Polizeialltag zu kommen. Nur beim Ungeziefer, da hört der Langmut auf.

Das ist also die Lage: Der deutsche Staat steuert auf eine neue Rekordeinnahme zu. Eine Billion Euro wird er dieses Jahr den Bürgern abgenommen haben, um das Land gerechter und sozialer zu machen. Aber nicht einmal die Menschen, die seine innere Sicherheit garantieren sollen, können sich auf ihn verlassen.

Wären wir in der regulären Welt, müsste der Insolvenzverwalter anrücken. Ein Unternehmen, das den Leuten munter das Geld aus der Tasche zieht, obwohl es nicht einmal die grundlegendsten Versprechen einzuhalten in der Lage ist, wird normalerweise aus dem Verkehr gezogen. Aber wir leben ja im fortschrittlichsten Deutschland aller Zeiten, und deshalb wird die Zahl der ungedeckten Wechsel einfach erhöht.

Appetit kommt beim Essen, heißt es. So ist es auch mit dem Geld. Die Regierung hat das größte Schuldenpaket der Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht. Es gibt inzwischen so viele Schattenhaushalte, dass in der Berichterstattung zwischen Neben- und Kernhaushalt unterschieden wird, weil man ansonsten den Überblick verliert. Aber die wundersame Geldvermehrung reicht immer noch nicht, alle Ausgabenwünsche zu erfüllen. Deshalb wird darüber nachgesonnen, die Steuern zu erhöhen.

Helmut Kohl wird der Satz zugeschrieben, bei 50 Prozent Staatsquote beginne der Sozialismus. Daran gemessen, haben wir im privaten Bereich DDR-Verhältnisse. Allein die Sozialabgaben liegen inzwischen bei 20 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens. Und der Tag ist nicht mehr fern, an dem sie auf 30 Prozent steigen werden.

Dazu kommt die Einkommenssteuer, die so gestaffelt ist, dass man bereits mit 68 000 Euro Jahreseinkommen zu den Spitzenverdienern gehört. Und weil der Steuerstaat sich nicht zu schade ist, bei jeder Bewegung, die der Bürger macht, die Hand aufzuhalten, und sei sie noch so unscheinbar, gibt es außerdem noch die Kfz-Steuer, die Tabaksteuer, die Benzinsteuer, die Stromsteuer, die Versicherungssteuer, die Quellensteuer, die Grundsteuer, die Grunderwerbssteuer, die Hundesteuer, die Kaffeesteuer, die Alkoholsteuer. Diesen Staat muss man sich wirklich leisten können.

Man könnte es zur Abwechslung einmal damit versuchen, Einnahmen und Ausgaben in Balance zu bringen. Aber jeder Versuch, zu einer soliden Haushaltsführung zurückzukehren, wird als unsozial gegeißelt. Das würde ja bedeuten, dass man nicht nur ständig neue Gruppen findet, denen man noch mehr Gutes tun
kann, sondern zur Abwechslung auch mal sagt, wo man sparen will. Genau das fürchten Sozialpolitiker wie das Weihwasser.

Ich habe etwas gegen Politikerbeschimpfung. Die meisten machen sich nicht klar, wie anstrengend der Abgeordnetenberuf ist. Mit dem Blick auf die Work-Life-Balance kommt man da nicht weit. Ich neige auch nicht zu Wutausbrüchen. Aber wenn ich das Pausbackengesicht unseres Bundesfinanzministers sehe, während er über Gerechtigkeit doziert, bin ich schwer wutgefährdet. Dann stehe ich kurz davor, den Fernseher anzuschreien.

„Ich finde, es ist etwas, wo sich gerade Menschen mit hohen Einkommen, hohen Vermögen auch fragen müssen, welchen Teil tragen wir dazu bei, dass dieses Land gerechter wird“, hat Lars Klingbeil im ZDF-Sommerinterview mit Blick auf die von ihm favorisierten Steuererhöhungen erklärt. Nun ja, würde ich sagen: Dieses Land wäre schon mal deutlich gerechter, wenn Menschen wie Klingbeil persönlich das Steueraufkommen mehren würden, statt es zu mindern.

Man kann keinem Politiker vorwerfen, dass er vom Geld anderer Leute lebt. Ich bin überhaupt dagegen, Leuten ihren Lebenswandel vorzuwerfen. Aber ich finde, man kann erwarten, dass sie nicht die Backen aufblasen und ausgerechnet diejenigen als unsozial beschimpfen, von deren Fleiß sie profitieren.

Die Menschen, von denen unser Finanzminister meint, dass sie sich fragen sollten, was sie tun, um das Land gerechter zu machen, haben in jedem Fall tausendmal mehr für dieses Gemeinwesen geleistet als er. Sie halten Firmen zusammen und sichern Arbeitsplätze. Es ist ihrer Ausdauer, ihrer Risikofreude und ihrem Erfindungsgeist zu verdanken, dass Deutschland noch immer zu den reichsten Ländern der Welt zählt.

Aber alles, was sie im Gegenzug zu erwarten haben, ist die Verachtung einer Politikerklasse, die sich so daran gewöhnt hat, auf anderer Leute Kosten den Samariter zu spielen, dass sie wirklich meint, umso tugendhafter zu sein, desto mehr Geld sie unters Volk bringt.

Was hat Klingbeil zum Wohlstand dieses Landes beigetragen? Was berechtigt ihn, über Gerechtigkeit zu sprechen? Ich habe mir seinen Lebenslauf angesehen. Soweit ich das sehen konnte, hat er noch nie einen Fuß außerhalb der Parteienwelt gesetzt. Es waren die deutschen Steuerzahler, die ihm sein Studium finanziert haben, und es waren auch die Steuerzahler, die ihm erst sein Leben im SPD-Apparat und dann als Bundestagsabgeordneter ermöglicht haben. Würde Klingbeil genauer hinsehen, müsste er feststellen, dass es insbesondere die zehn Prozent Spitzenverdiener sind, denen er besonderen Dank schuldet. Aber mit Dankbarkeit hat man es bei der SPD nicht so – und in der Parteispitze schon gar nicht.

Der einzige Trost, den ich habe: Das ganze Zeigefinger-Gewackel nützt der SPD nichts. Stand heute ist Lars Klingbeil Anführer einer 13-Prozent-Partei – und mit jedem Tag, der vergeht, rücken die Sozialdemokraten der Einstelligkeit näher. Die Wähler sind nicht blöd. Sie sehen ja, dass der Finanzminister das Geld, das er verspricht, nicht aus der Parteikasse nimmt.

Es läuft in Wahrheit genau umgekehrt. Auch die Parteikasse wird fast ausschließlich aus Steuergeldern gefüllt. Aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Parteien bei der Willensbildung mitwirken, haben diese den Schluss abgleitet, dass ohne sie gar nichts geht. Entsprechend großzügig lassen sie sich jede Stimme vergolden, einmal am Wahltag und dann noch einmal über die millionenschweren Stiftungen, die sie zur Versorgung verdienter Mitglieder ins Leben gerufen haben.

Deshalb ist es auch eine Riesennachricht, wenn es die eigenen
Leute trifft. 10 000 weniger Jobs bei Thyssenkrupp? 3000 weniger bei Continental? Randnotizen. Aber wenn 30 befristete Stellen entfallen wie jetzt in der grünen Parteizentrale, hält das politische Berlin den Atem an.

© Michael Szyszka

Das wird kein gutes Ende nehmen

Friedrich Merz gilt als Macher und harter Knochen. In Wahrheit war er die größte Zeit seines Berufslebens damit beschäftigt, anderen gefällig zu sein. Das hat abgefärbt

Am Ende bleibt das Genderverbot. Das hat die CDU auf den Weg gebracht, um zu zeigen, dass sie nun im Kanzleramt sitzt. Dafür hat die Kraft gereicht.

Künftig sind alle Angestellten von Kulturinstitutionen angehalten, im offiziellen Schriftverkehr zur zweigeschlechtlichen Anrede zurückzukehren. So hat es Kulturstaatsminister Wolfram Weimer verfügt. Wobei, so ein richtiges Genderverbot ist es nicht, eher ein Appell. Wenn die Museumsdirektorin in Wuppertal weiterhin den Genderstern benutzt, was will der Kulturstaatsminister unternehmen? Ihr den Stern persönlich aus allen Schreiben herausstreichen?

Ah ja, und die Flagge der LGBT-Bewegung kommt nur noch einmal im Jahr auf das Dach des Reichstags. Das hat die tapfere Julia Klöckner so angeordnet, gegen den erbitterten Widerstand von „Süddeutsche“ und „Zeit“. Aber ansonsten?

„Links ist vorbei“ – das war die Ankündigung von Friedrich Merz zum Wahlsonntag. Deswegen wurde er mit großem Abstand vor seinem Konkurrenten von der SPD gewählt. In Wahrheit läuft alles weiter wie gehabt, nur die Geschwindigkeit hat sich geändert. Das Geld für den deutschen Sozialstaat fließt jetzt einfach doppelt so schnell.

Der „Spiegel“-Kollege René Pfister hat kürzlich an den berühmten Ausspruch von Barack Obama erinnert, mit dem dieser auf die Empörung gegen seine Gesundheitsreform reagierte: „Elections have consequences“ – Wahlen haben Folgen. Wer die Mehrheit einbüßt, muss damit leben, dass er nicht mehr das Sagen hat. Aber genau das Prinzip ist in Deutschland auf den Kopf gestellt.

Das Unglück der Union ist, dass sie an einen Partner gekettet ist, der die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen will. Nominell ist das linke Lager stark zusammengeschnurrt. Legt man aktuelle Umfragen zugrunde, kommen SPD, Grüne und Linkspartei gerade mal auf 37 Prozent der Wählerstimmen. Aber die Sozialdemokraten tun einfach so, als säßen sie noch immer im Kanzleramt.

Das Symbol für diese Wirklichkeitsverweigerung ist der Heckmeck um den Fraktionssaal. Bis heute weigert sich die SPD, ihren Sitzungssaal im Bundestag zu räumen. Der Saal sei schließlich nach dem Antifaschisten Otto Wels benannt, heißt es zur Begründung. Niemand könne der SPD zumuten, ihn ausgerechnet für die AfD zu räumen.

Alles daran ist illusionär. Der Saal heißt nur in der Einbildung der Sozialdemokraten Otto-Wels-Saal. Als die Linkspartei dort saß, war er nach der linken Säulenheiligen Clara Zetkin benannt. Wenn man in den Raumplan des Bundestags schaut, steht da die schnöde Bezeichnung S 001.

Die Reihen der SPD-Fraktion sind so stark gelichtet, dass jeder Abgeordnete sein ganzes Büro samt Haustieren mitbringen kann. Dafür platzt jetzt der Sitzungssaal der AfD-Fraktion aus allen Nähten, weil sie um das Doppelte gewachsen ist. Mich wundert, dass die Feuerwehr nicht einschreitet. Eigentlich müssten Zusammenkünfte der AfD schon aus feuerpolizeilichen Gründen untersagt werden.

Normalerweise würde man den Genossen sagen: Holt euch Hilfe. Macht ’ne Therapie oder nehmt etwas, was euch runterholt. Aber um Gottes willen, haltet euch von Posten fern, auf denen ihr über die Geschicke des Landes bestimmt. Wer im Traumreich lebt, darf in Deutschland nicht mal ein Auto besteigen, ohne dass ihn die Packungsbeilage verwarnt. Doch nach Lage der Dinge ist Therapie keine Option. Wenn die SPD ausfällt, bleibt zum Regieren nur die AfD. Und das will keiner.

Dummerweise werden die Sozialdemokraten in ihrer Realitätsflucht von vielen Presseorganen bestärkt, die ebenfalls so tun, als habe es den Wahltag nie gegeben. Was die SPD vorschlägt, gilt als grundvernünftig. Was die CDU anregt, ist Ausdruck eines Kulturkampfes. Der Kollege Pfister hat das sehr schön auf den Punkt gebracht, als er schrieb, dass sich die Linke angewöhnt habe, die eigenen Anliegen für alternativlos zu halten. Kulturkämpfer sind immer die andern.

Wenn wenigstens auf den Kanzler Verlass wäre. Dann könnte man sagen: Sei’s drum. Merz umgibt der Nimbus des Machers und harten Knochens, aber nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. In Wirklichkeit hat er die letzten 15 Jahre seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen damit verdient, anderen die Tür aufzuhalten.

Wikipedia führt ihn etwas hochtrabend als Wirtschaftsanwalt. Nach allem, was man weiß, war Merz ein mittelmäßig erfolgreicher Lobbyist, der den Ruf zu versilbern wusste, in Berlin die richtigen Leute zu kennen. Unternehmensführer sind erstaunlich naiv, was das politische Geschäft angeht. Politik ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb kommt man als Berater schon mit relativ wenig Erfahrung durch.

Merz stammt aus einer Welt, in der grundsätzlich der Recht hat, der die Rechnung bezahlt. In den vergangenen Jahren war das Larry Fink, der Chef von Blackrock. Unverrückbare Grundsätze? Werte, die den Tag überdauern? In Firmenbroschüren stellt man das gerne aus, aber im Tagesgeschäft zählt das nicht die Bohne. Wenn 70 Prozent der Deutschen ein Ende von Waffenlieferungen wünschen, die ohnehin nur auf dem Papier existieren, wäre man doch verrückt, ihnen diesen Wunsch abzuschlagen, nicht wahr?

Dass Merz als konservativ gilt, verdankt er den Auftritten, in denen er sich schnell in Rage redete, und dem Urteil seiner Gegner. Verheiratet, drei Kinder, nicht geschieden und dann noch aus der Provinz: Das reicht heute schon, um als rechter Hardliner durchzugehen.

Eine überraschende Volte ist, dass der Politiker Merz jedes Gespür für die Stimmung im eigenen Laden vermissen lässt. Das ist die eigentliche Pointe: Ausgerechnet der Mann, der seine politische Spätkarriere darauf begründete, den Ausverkauf der Werte und Prinzipien zu stoppen, räumt beim ersten Gegenwind alles ab, was von der CDU noch übrig ist. Finanzielle Solidität? Mehr Eigenverantwortung statt Bevormundung? Solidarität mit Israel? Wenn man Pech hat, ist schon eine Nachtsitzung später davon nichts mehr übrig.

Das ist die Kehrseite des Opportunismus der Wirtschaftswelt: Wer ganz oben ist, bestimmt, wo es langgeht. Da reicht ein Stirnrunzeln, damit alle springen. Jetzt ist Merz ganz oben. Also macht er den Larry Fink. So hat er es gelernt.

Dummerweise funktioniert eine Fraktion nicht wie ein Unternehmen und ein Parteivorstand nicht wie ein Aufsichtsrat. Im Zweifel trifft man hier auf sehr eigenwillige Charaktere, die nicht einsehen, weshalb sie spuren sollen, nur weil Chefe es so will. Einem kleinen Staatssekretär kann man einen gewaltigen Schreck einjagen, indem man ihn böse anguckt, das ist wie bei Blackrock. Aber ein direkt gewählter Abgeordneter oder Ministerpräsident winkt müde ab, wenn man ihm drohen will.

Wohin das führt? Bislang hält die Angst vor dem Scheitern die Leute in der Union zusammen. Man sollte die Angst allerdings nicht überschätzen. Menschen agieren weniger strategisch, als man meinen sollte. Schlimmer geht immer, wäre meine Lehre aus 35 Jahren Politikbeobachtung. Wenn der Frust überhandnimmt, rückt alles in den Hintergrund, auch der Blick auf den Tag danach.

 

© Silke Werzinger

»Du kannst dich online bewerben«

Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass. Das ist eine schöne Geste des Sozialstaats. Aber es ist nicht das, was man den Leuten versprochen hat, als man sie über die Vorzüge der Einwanderung belehrte

Deutschland ist ein großzügiges Land. Es ist so großzügig, dass es Zuwanderern aus dem Ausland nicht nur erklärt, wie man einen Job ergattert, sondern auch gleich, wie man ohne Arbeit in Deutschland über die Runden kommt. „Citizen’s benefit (Bürgergeld) for People from Abroad“ heißt eine Seite der Bundesagentur für Arbeit, auf der Interessenten über die Möglichkeit des staatlich finanzierten Lebens aufgeklärt werden.

Damit niemand auf die irrige Idee kommt, Bürgergeld sei nur etwas für Menschen, die zu alt oder zu krank zum Arbeiten sind, strahlt einen von der Seite ein junges Pärchen an, das so aussieht, als ob es mühelos eine Beschäftigung fände. Links ein junger Mann Anfang dreißig mit einem grün eingebundenen Buch in der Hand; neben ihm eine junge Frau mit Hijab, die ebenfalls nicht so wirkt, als ob sie auf den Kopf gefallen wäre.

Besucher der Webseite erfahren nicht nur alles über die Bedingungen für ein Leben auf Stütze („Du bist arbeitsfähig“, „Du bist mindestens 15 Jahre“, „Du hast deinen Lebensmittelpunkt in Deutschland“). Die Agentur gibt auch hilfreiche Tipps, die sie mit einer kleinen Glühbirne versehen hat, damit der Leser sie nicht übersieht: „Gut zu wissen: Wenn du Bürgergeld erhältst, bist du automatisch im System der gesetzlichen Gesundheits- und Pflegeversicherung eingeschrieben.“ Hand aufs Herz, wer könnte da Nein sagen?

Bürgernähe wird bei der Agentur für Arbeit überhaupt großgeschrieben. Deshalb findet sich am Ende der Seite ein rot markiertes Feld, das man nur anklicken muss, um sich unbürokratisch für die Transferleistung registrieren zu lassen. „Du kannst dich online bewerben“, heißt es dort, so als handele es sich beim Bürgergeld um einen Sprachkurs oder ein Fortbildungsprogramm für Hochbegabte. „Wenn du bereits einen Account besitzt, logge dich bitte mit deinem Accountnamen ein. Du kannst dann augenblicklich mit der Bewerbung beginnen.“

Ich weiß nicht, ob es viele Länder gibt, die so stolz ihr Sozialsystem bewerben. Ich habe nicht die Probe aufs Exempel gemacht. Aber ich bezweifle, dass man in den Vereinigten Staaten oder in Kanada Einwanderern in den leuchtendsten Farben die Vorzüge des Wohlfahrtsstaats ausmalt.

Gemessen an den Zugangszahlen ist die Werbekampagne der Agentur für Arbeit ein voller Erfolg. Gut die Hälfte der Bürgergeldbezieher hat inzwischen einen ausländischen Pass. Das steht zwar in krassem Widerspruch zum Talkshow-Mantra, wonach wir Einwanderung bräuchten, um unsere Sozialsysteme am Laufen zu halten. Aber kaum jemand in der Politik scheint sich daran zu stören. Beziehungsweise: Das Sozialsystem wird am Laufen gehalten, nur ganz anders, als es von seinen Architekten in Aussicht gestellt wurde.

Man sieht den Erfolg auch bei den Kosten. Allen Ankündigungen zum Trotz sind die Ausgaben in den vergangenen Jahren laufend gestiegen, von 39 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 43 Milliarden in 2023 und dann 47 Milliarden in 2024. Der Bundeskanzler hat angekündigt, die Bürgergeldkosten zu senken. Aber ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass daraus nichts folgen wird.

Und das sind nur die offiziell ausgewiesenen Zahlen. Daneben gibt es ja noch die Kosten für Unterbringung und medizinische Versorgung, die nirgendwo so richtig auftauchen. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken hat neulich einen Vorstoß gemacht, die Leistungen für Bürgergeldempfänger aus dem Etat der Krankenkassen herauszunehmen. Dass die Krankenkassenbeiträge ebenfalls dramatisch steigen, liegt auch daran, dass immer mehr Leute beim Arzt vorsprechen, die selbst keine Beiträge zahlen.

Warken hat vorgeschlagen, die Behandlungskosten künftig aus Steuereinnahmen zu decken. Aber nichts fürchten die Bürgergeld-Advokaten so sehr wie Transparenz. Solange die Kosten im allgemeinen Gesundheitsbudget untergehen, gibt’s auch keine politische Diskussion. Nicht auszudenken, wenn zutage träte, wie viele Milliarden allein die Zahnbehandlung kostet. Das möchte man dann doch lieber vermeiden.

Hin und wieder kommen die Probleme an die Oberfläche, so wie Blasen in einem großen Teich. Vor ein paar Tagen trat der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit einem Notruf auf. Die Kommunen befänden sich im freien Fall. Auf die Frage, weshalb die Lage so desolat sei, nannte er zwei Gründe: steigende Personalkosten (plus acht Milliarden) und wachsende Sozialausgaben (plus neun Milliarden).

Frage der „FAZ“: „Gibt es einzelne Posten, die besonders auffällig sind?“ Antwort: „Wir hatten die Anpassung der Regelsätze in der Sozialhilfe und im Bürgergeld, außerdem sind mehr Menschen in den Leistungsbezug gekommen.“

Jeder Stadtkämmerer kann einem vorrechnen, was das bedeutet. Weil die Kommunen immer mehr für Personal und Sozialleistungen ausgeben, muss an anderer Stelle gespart werden – beim Bus, beim Freibad, beim Sport, beim Theater. Das bekommen auch die Bürger mit, die nicht von Sozialtransfers leben, sondern die Chose über ihre Steuern am Laufen halten. Entsprechend ist die Stimmung. Und im Augenblick ist die Wirtschaftslage noch so, dass überall händeringend Leute gesucht werden, die mit anpacken. Man mag sich nicht ausmalen, wie die Lage erst aussieht, wenn die Zahl der Arbeitslosen mal wieder bei fünf Millionen steht.

Der Ort, der am weitesten von der Realität entfernt liegt, ist das Willy-Brandt-Haus. Dort hat man sich entschieden, die Wirklichkeit für etwas zu halten, dem man am besten mit Verdrängung und Beschwörung beikommt. Ich würde sagen, das ist schon bei der Ampel gründlich schiefgegangen. Aber das sieht man in der SPD-Zentrale anders.

Dort hat man den Eindruck, wenn man dabei geblieben wäre, die Probleme zu leugnen, wäre man noch immer im Amt. Deshalb hat Lars Klingbeil die Parole ausgegeben, dass beim Bürgergeld alles beim Alten bleiben soll. Man dürfe nicht auf dem Rücken von Menschen sparen, die gerade hier angekommen seien, wie er sich ausdrückte.

Auch so untergräbt man das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Man verspricht den Menschen, dass sie von Einwanderung profitieren werden, und dann präsentiert man ihnen eine Rechnung, die allen Ankündigungen Hohn spricht.

Die neue Regierung hat das größte Schuldenprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht. Trotzdem fehlt überall das Geld, weil die Ausgaben noch schneller steigen als die Schulden. Ich will nicht unken. Aber der Weg in den Untergang begann schon einmal mit der Zerrüttung der Staatsfinanzen. Wenn der Bürger den Eindruck hat, dass Solidität nichts mehr zählt, dann wählt er irgendwann auch unsolide. Das gilt zumal, wenn an der Spitze Leute stehen, die eben noch für sich in Anspruch nahmen, der Garant für Seriosität und Verlässlichkeit zu sein.

Dass Sozialdemokraten nicht mit dem Geld auskommen, das sie anderen abnehmen: geschenkt. Das ist bekannt. Aber dass auch auf Konservative kein Verlass mehr ist, das könnte der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

© Silke Werzinger

»Seht euch vor!«

In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffengewalt außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen. Das ist das Ziel der Leute, die jede Woche Hassgesänge anstimmen

Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule in München besucht. Wenn Sie sich fragen, weshalb der Bub auf einer jüdischen Schule gelandet ist: Wir brauchten eine Ganztagsschule, und von denen gibt es im Umland von München nicht so viele. Dann fragte mich eine Freundin, ob ich schon mal über die Sinai-Grundschule nachgedacht hätte, die könne sie sehr empfehlen.

Wir haben die Entscheidung nie bereut. Es gibt durch die Bank großartige, den Kindern zugewandte Lehrer. Keine Klasse hat mehr als 20 Schüler. Und die Klassengemeinschaft ist so, wie man sich eine Klassengemeinschaft wünscht. Ich habe nicht nachgefragt, wie viele der Mitschüler nicht jüdischen Glaubens sind, aber es hat auch nie eine Rolle gespielt.

Es gibt ein paar Besonderheiten, das muss man wissen. Die Kinder lernen von der ersten Klasse an außer Deutsch und Englisch Hebräisch. Zweimal am Tag wird gebetet, die Jungs mit Kippa, und das Essen ist selbstverständlich koscher.

Ach so, noch eine Sache unterscheidet sich von jeder anderen Schule in Deutschland: Der Schulbesuch ist nur unter Polizeischutz möglich.

Schon vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Hamas Israel den Krieg erklärte, stand immer ein Polizeiwagen in Sichtweite. Seitdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal deutlich erhöht. Wenn die Kinder einen Ausflug machen, und sei es nur zu einem Museumsbesuch oder einem Sportfest, sind bewaffnete Sicherheitsleute dabei. Als es im Herbst auf das Oktoberfest gehen sollte, wurde der Klassenausflug kurzfristig abgesagt: Zu gefährlich, hieß es. Zweimal im Jahr wird der Ernstfall geprobt. Dann lernen die Kinder, sich zu verstecken.

Es ist viel über die schwierige Lage der Muslime die Rede. Aber ich glaube, es gibt kein einziges muslimisches Kind in Deutschland, das die Schule nur unter Aufsicht von Polizisten mit Maschinenpistole im Arm betreten kann – und das aus einem einzigen Grund: weil es muslimisch ist.

Es sind übrigens auch nicht irgendwelche Glatzen, vor denen man sich vorsieht, oder die AfD. Es sind die Leute, die auf deutschen Straßen ungehindert ihren Hass auf Israel und die Juden herausplärren dürfen und von denen man nicht weiß, ob nicht der eine oder andere auf die Idee kommt, den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Ich schildere das so genau, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass vielen nicht klar ist, welche Folgen es hat, wenn man alles an Israelhass zulässt. Ich bin normalerweise vorsichtig, von Worten auf Taten zu schließen. Aber es wäre weltfremd anzunehmen, dass es keinen Einfluss hat, wenn der Vorsitzende der Linkspartei die Israelis als „Hungermörder“ bezeichnet und dem Land die Durchführung eines „Genozids“ unterstellt wird.

Manche mögen einwenden, dass sich die Kritik ja gegen Israel richte und nicht gegen die hier lebenden Juden. Dummerweise wird der Unterschied im Alltag oft nicht näher beachtet.

Deshalb sind die antisemitischen Straftaten auf einem Rekordhoch. Und deshalb findet die Besatzung eines spanischen Ferienfliegers auch nichts dabei, die Teilnehmer eines jüdischen Ferienlagers als Repräsentanten eines Terrorstaates zu identifizieren und aus dem Flugzeug zu werfen. Wo wir schon dabei sind: Begeht Israel einen Völkermord in Gaza? Der amerikanische Journalist Bret Stephens hat dazu in einem sehr lesenswerten Kommentar in der „New York Times“ das Nötige gesagt.

Gesetzt den Fall, Israel wollte das palästinensische Volk vernichten – und das ist die UN-Definition eines Genozids: die Auslöschung einer Volksgruppe aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zusammensetzung –, warum ist die Zahl der Toten nicht höher, fragt Stephens. Die Möglichkeit, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, hätten die Israelis. Wer wollte sie hindern? Aber statt alles Leben zu beseitigen, halten sie sich mit Verhandlungen über Hilfslieferungen auf.

Dass man links der Mitte so versessen darauf ist, das Wort Genozid zu benutzen, hat einen einfachen Grund. Man will endlich gleichziehen. Es ist eine irre Pointe, dass die linken Enkel vollenden, wovon ihr Wehrmachtsopa immer geträumt hat, die Befreiung Deutschlands vom „Schuldkult“. Darum geht es ja in Wahrheit: Israel und Nazideutschland auf eine Stufe stellen, um endlich wieder fröhlich heraus sagen zu können, was man von den Juden hält.

Im Augenblick wird darüber gestritten, ob die Bundesregierung eine Erklärung unterschreiben soll, in der Israel als Aggressor markiert wird. Im Prinzip kann uns das egal sein. Wenn der Kanzler seine Ohnmacht demonstrieren will, indem er seinen Namen unter einen Appell setzt, der völlig folgenlos bleiben wird – soll er es tun. Ich bin dennoch dagegen, weil die Unterschrift eine Auswirkung hätte: Sie würde das Leben der hier lebenden Juden weiter verschlechtern.

Die Unterschrift ist eine Trophäe. Sie wird von den Leuten als Bestätigung gesehen werden, die Israel als Terrorstaat bezeichnen. Deshalb sind sie so dahinter her, dass auch der Name von Friedrich Merz unter der Erklärung steht.

Ich glaube, den meisten Bundesbürgern ist nicht bewusst, dass sich nach wie vor sechs deutsche Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Wer wollte es ihnen verdenken? Es ist ja auch so gut wie nie von den Geiseln die Rede. Sie kommen weder in den Ansprachen des Bundeskanzlers vor noch in Berichten aus dem Kriegsgebiet.

Sie heißen Alon Ohel, Itay Chen, Gali und Ziv Berman, Rom Braslavski, Tamir Nimrodi. Kennt Herr Wadephul ihre Nahmen? Sind sie den Diplomaten im Auswärtigen Amt bekannt, von denen es heißt, sie wollten eine entschiedenere Verurteilung Israels?

Vor zwei Wochen haben sie vor der Schule meines Sohnes demonstriert. Weil die Stadt nicht aufgepasst hatte, führte der Weg des Bündnisses „Palästina Spricht“ an der Synagoge vorbei, die neben der Schule liegt. Auf der Demo trat ein Genosse Aboud auf, der erst alle Synagogenbesucher als „Faschistenfreunde“ bezeichnete und dann die Berichte über das Leid der Geiseln als „Lüge“. Selbstverständlich war die Route von den Demonstranten nicht zufällig gewählt, so wie es auch kein Zufall war, dass die Demo pünktlich zum Freitagsgebet stattfand.

Weil wir in München sind und nicht in Berlin, fanden sich sofort Münchner Bürger ein, um sich schützend vor das Gebetshaus zu stellen. Aber die Botschaft der Demonstranten war klar. Seht euch vor! Niemand ist sicher, nicht mal am Münchner Sankt-Jakobs-Platz.

Es geht um Einschüchterung, das ist das Ziel. In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffen außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen.

Manche Menschen werfen mir vor, nicht unbefangen zu sein. Das stimmt. Was das Existenzrecht der Juden in Deutschland angeht, bin ich nicht unbefangen. Ich glaube allerdings, das hat weniger mit der Tatsache zu tun, dass mein Sohn eine jüdische Schule besucht, sondern eher mit meiner sozialdemokratischen Erziehung.

Wenn es etwas gab, was mir von klein auf beigebracht wurde, dann, dass Deutschland dafür Sorge zu tragen hat, dass jüdische Menschen bei uns nie wieder Angst um ihr Leben haben müssen. Nennen Sie mich einen unverbesserlichen Linken, aber das gilt für mich bis heute.

© Sören Kunz