Monat: August 2025

»Du kannst dich online bewerben«

Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass. Das ist eine schöne Geste des Sozialstaats. Aber es ist nicht das, was man den Leuten versprochen hat, als man sie über die Vorzüge der Einwanderung belehrte

Deutschland ist ein großzügiges Land. Es ist so großzügig, dass es Zuwanderern aus dem Ausland nicht nur erklärt, wie man einen Job ergattert, sondern auch gleich, wie man ohne Arbeit in Deutschland über die Runden kommt. „Citizen’s benefit (Bürgergeld) for People from Abroad“ heißt eine Seite der Bundesagentur für Arbeit, auf der Interessenten über die Möglichkeit des staatlich finanzierten Lebens aufgeklärt werden.

Damit niemand auf die irrige Idee kommt, Bürgergeld sei nur etwas für Menschen, die zu alt oder zu krank zum Arbeiten sind, strahlt einen von der Seite ein junges Pärchen an, das so aussieht, als ob es mühelos eine Beschäftigung fände. Links ein junger Mann Anfang dreißig mit einem grün eingebundenen Buch in der Hand; neben ihm eine junge Frau mit Hijab, die ebenfalls nicht so wirkt, als ob sie auf den Kopf gefallen wäre.

Besucher der Webseite erfahren nicht nur alles über die Bedingungen für ein Leben auf Stütze („Du bist arbeitsfähig“, „Du bist mindestens 15 Jahre“, „Du hast deinen Lebensmittelpunkt in Deutschland“). Die Agentur gibt auch hilfreiche Tipps, die sie mit einer kleinen Glühbirne versehen hat, damit der Leser sie nicht übersieht: „Gut zu wissen: Wenn du Bürgergeld erhältst, bist du automatisch im System der gesetzlichen Gesundheits- und Pflegeversicherung eingeschrieben.“ Hand aufs Herz, wer könnte da Nein sagen?

Bürgernähe wird bei der Agentur für Arbeit überhaupt großgeschrieben. Deshalb findet sich am Ende der Seite ein rot markiertes Feld, das man nur anklicken muss, um sich unbürokratisch für die Transferleistung registrieren zu lassen. „Du kannst dich online bewerben“, heißt es dort, so als handele es sich beim Bürgergeld um einen Sprachkurs oder ein Fortbildungsprogramm für Hochbegabte. „Wenn du bereits einen Account besitzt, logge dich bitte mit deinem Accountnamen ein. Du kannst dann augenblicklich mit der Bewerbung beginnen.“

Ich weiß nicht, ob es viele Länder gibt, die so stolz ihr Sozialsystem bewerben. Ich habe nicht die Probe aufs Exempel gemacht. Aber ich bezweifle, dass man in den Vereinigten Staaten oder in Kanada Einwanderern in den leuchtendsten Farben die Vorzüge des Wohlfahrtsstaats ausmalt.

Gemessen an den Zugangszahlen ist die Werbekampagne der Agentur für Arbeit ein voller Erfolg. Gut die Hälfte der Bürgergeldbezieher hat inzwischen einen ausländischen Pass. Das steht zwar in krassem Widerspruch zum Talkshow-Mantra, wonach wir Einwanderung bräuchten, um unsere Sozialsysteme am Laufen zu halten. Aber kaum jemand in der Politik scheint sich daran zu stören. Beziehungsweise: Das Sozialsystem wird am Laufen gehalten, nur ganz anders, als es von seinen Architekten in Aussicht gestellt wurde.

Man sieht den Erfolg auch bei den Kosten. Allen Ankündigungen zum Trotz sind die Ausgaben in den vergangenen Jahren laufend gestiegen, von 39 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 43 Milliarden in 2023 und dann 47 Milliarden in 2024. Der Bundeskanzler hat angekündigt, die Bürgergeldkosten zu senken. Aber ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass daraus nichts folgen wird.

Und das sind nur die offiziell ausgewiesenen Zahlen. Daneben gibt es ja noch die Kosten für Unterbringung und medizinische Versorgung, die nirgendwo so richtig auftauchen. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken hat neulich einen Vorstoß gemacht, die Leistungen für Bürgergeldempfänger aus dem Etat der Krankenkassen herauszunehmen. Dass die Krankenkassenbeiträge ebenfalls dramatisch steigen, liegt auch daran, dass immer mehr Leute beim Arzt vorsprechen, die selbst keine Beiträge zahlen.

Warken hat vorgeschlagen, die Behandlungskosten künftig aus Steuereinnahmen zu decken. Aber nichts fürchten die Bürgergeld-Advokaten so sehr wie Transparenz. Solange die Kosten im allgemeinen Gesundheitsbudget untergehen, gibt’s auch keine politische Diskussion. Nicht auszudenken, wenn zutage träte, wie viele Milliarden allein die Zahnbehandlung kostet. Das möchte man dann doch lieber vermeiden.

Hin und wieder kommen die Probleme an die Oberfläche, so wie Blasen in einem großen Teich. Vor ein paar Tagen trat der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit einem Notruf auf. Die Kommunen befänden sich im freien Fall. Auf die Frage, weshalb die Lage so desolat sei, nannte er zwei Gründe: steigende Personalkosten (plus acht Milliarden) und wachsende Sozialausgaben (plus neun Milliarden).

Frage der „FAZ“: „Gibt es einzelne Posten, die besonders auffällig sind?“ Antwort: „Wir hatten die Anpassung der Regelsätze in der Sozialhilfe und im Bürgergeld, außerdem sind mehr Menschen in den Leistungsbezug gekommen.“

Jeder Stadtkämmerer kann einem vorrechnen, was das bedeutet. Weil die Kommunen immer mehr für Personal und Sozialleistungen ausgeben, muss an anderer Stelle gespart werden – beim Bus, beim Freibad, beim Sport, beim Theater. Das bekommen auch die Bürger mit, die nicht von Sozialtransfers leben, sondern die Chose über ihre Steuern am Laufen halten. Entsprechend ist die Stimmung. Und im Augenblick ist die Wirtschaftslage noch so, dass überall händeringend Leute gesucht werden, die mit anpacken. Man mag sich nicht ausmalen, wie die Lage erst aussieht, wenn die Zahl der Arbeitslosen mal wieder bei fünf Millionen steht.

Der Ort, der am weitesten von der Realität entfernt liegt, ist das Willy-Brandt-Haus. Dort hat man sich entschieden, die Wirklichkeit für etwas zu halten, dem man am besten mit Verdrängung und Beschwörung beikommt. Ich würde sagen, das ist schon bei der Ampel gründlich schiefgegangen. Aber das sieht man in der SPD-Zentrale anders.

Dort hat man den Eindruck, wenn man dabei geblieben wäre, die Probleme zu leugnen, wäre man noch immer im Amt. Deshalb hat Lars Klingbeil die Parole ausgegeben, dass beim Bürgergeld alles beim Alten bleiben soll. Man dürfe nicht auf dem Rücken von Menschen sparen, die gerade hier angekommen seien, wie er sich ausdrückte.

Auch so untergräbt man das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Man verspricht den Menschen, dass sie von Einwanderung profitieren werden, und dann präsentiert man ihnen eine Rechnung, die allen Ankündigungen Hohn spricht.

Die neue Regierung hat das größte Schuldenprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht. Trotzdem fehlt überall das Geld, weil die Ausgaben noch schneller steigen als die Schulden. Ich will nicht unken. Aber der Weg in den Untergang begann schon einmal mit der Zerrüttung der Staatsfinanzen. Wenn der Bürger den Eindruck hat, dass Solidität nichts mehr zählt, dann wählt er irgendwann auch unsolide. Das gilt zumal, wenn an der Spitze Leute stehen, die eben noch für sich in Anspruch nahmen, der Garant für Seriosität und Verlässlichkeit zu sein.

Dass Sozialdemokraten nicht mit dem Geld auskommen, das sie anderen abnehmen: geschenkt. Das ist bekannt. Aber dass auch auf Konservative kein Verlass mehr ist, das könnte der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

© Silke Werzinger

»Seht euch vor!«

In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffengewalt außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen. Das ist das Ziel der Leute, die jede Woche Hassgesänge anstimmen

Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule in München besucht. Wenn Sie sich fragen, weshalb der Bub auf einer jüdischen Schule gelandet ist: Wir brauchten eine Ganztagsschule, und von denen gibt es im Umland von München nicht so viele. Dann fragte mich eine Freundin, ob ich schon mal über die Sinai-Grundschule nachgedacht hätte, die könne sie sehr empfehlen.

Wir haben die Entscheidung nie bereut. Es gibt durch die Bank großartige, den Kindern zugewandte Lehrer. Keine Klasse hat mehr als 20 Schüler. Und die Klassengemeinschaft ist so, wie man sich eine Klassengemeinschaft wünscht. Ich habe nicht nachgefragt, wie viele der Mitschüler nicht jüdischen Glaubens sind, aber es hat auch nie eine Rolle gespielt.

Es gibt ein paar Besonderheiten, das muss man wissen. Die Kinder lernen von der ersten Klasse an außer Deutsch und Englisch Hebräisch. Zweimal am Tag wird gebetet, die Jungs mit Kippa, und das Essen ist selbstverständlich koscher.

Ach so, noch eine Sache unterscheidet sich von jeder anderen Schule in Deutschland: Der Schulbesuch ist nur unter Polizeischutz möglich.

Schon vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Hamas Israel den Krieg erklärte, stand immer ein Polizeiwagen in Sichtweite. Seitdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal deutlich erhöht. Wenn die Kinder einen Ausflug machen, und sei es nur zu einem Museumsbesuch oder einem Sportfest, sind bewaffnete Sicherheitsleute dabei. Als es im Herbst auf das Oktoberfest gehen sollte, wurde der Klassenausflug kurzfristig abgesagt: Zu gefährlich, hieß es. Zweimal im Jahr wird der Ernstfall geprobt. Dann lernen die Kinder, sich zu verstecken.

Es ist viel über die schwierige Lage der Muslime die Rede. Aber ich glaube, es gibt kein einziges muslimisches Kind in Deutschland, das die Schule nur unter Aufsicht von Polizisten mit Maschinenpistole im Arm betreten kann – und das aus einem einzigen Grund: weil es muslimisch ist.

Es sind übrigens auch nicht irgendwelche Glatzen, vor denen man sich vorsieht, oder die AfD. Es sind die Leute, die auf deutschen Straßen ungehindert ihren Hass auf Israel und die Juden herausplärren dürfen und von denen man nicht weiß, ob nicht der eine oder andere auf die Idee kommt, den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Ich schildere das so genau, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass vielen nicht klar ist, welche Folgen es hat, wenn man alles an Israelhass zulässt. Ich bin normalerweise vorsichtig, von Worten auf Taten zu schließen. Aber es wäre weltfremd anzunehmen, dass es keinen Einfluss hat, wenn der Vorsitzende der Linkspartei die Israelis als „Hungermörder“ bezeichnet und dem Land die Durchführung eines „Genozids“ unterstellt wird.

Manche mögen einwenden, dass sich die Kritik ja gegen Israel richte und nicht gegen die hier lebenden Juden. Dummerweise wird der Unterschied im Alltag oft nicht näher beachtet.

Deshalb sind die antisemitischen Straftaten auf einem Rekordhoch. Und deshalb findet die Besatzung eines spanischen Ferienfliegers auch nichts dabei, die Teilnehmer eines jüdischen Ferienlagers als Repräsentanten eines Terrorstaates zu identifizieren und aus dem Flugzeug zu werfen. Wo wir schon dabei sind: Begeht Israel einen Völkermord in Gaza? Der amerikanische Journalist Bret Stephens hat dazu in einem sehr lesenswerten Kommentar in der „New York Times“ das Nötige gesagt.

Gesetzt den Fall, Israel wollte das palästinensische Volk vernichten – und das ist die UN-Definition eines Genozids: die Auslöschung einer Volksgruppe aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zusammensetzung –, warum ist die Zahl der Toten nicht höher, fragt Stephens. Die Möglichkeit, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, hätten die Israelis. Wer wollte sie hindern? Aber statt alles Leben zu beseitigen, halten sie sich mit Verhandlungen über Hilfslieferungen auf.

Dass man links der Mitte so versessen darauf ist, das Wort Genozid zu benutzen, hat einen einfachen Grund. Man will endlich gleichziehen. Es ist eine irre Pointe, dass die linken Enkel vollenden, wovon ihr Wehrmachtsopa immer geträumt hat, die Befreiung Deutschlands vom „Schuldkult“. Darum geht es ja in Wahrheit: Israel und Nazideutschland auf eine Stufe stellen, um endlich wieder fröhlich heraus sagen zu können, was man von den Juden hält.

Im Augenblick wird darüber gestritten, ob die Bundesregierung eine Erklärung unterschreiben soll, in der Israel als Aggressor markiert wird. Im Prinzip kann uns das egal sein. Wenn der Kanzler seine Ohnmacht demonstrieren will, indem er seinen Namen unter einen Appell setzt, der völlig folgenlos bleiben wird – soll er es tun. Ich bin dennoch dagegen, weil die Unterschrift eine Auswirkung hätte: Sie würde das Leben der hier lebenden Juden weiter verschlechtern.

Die Unterschrift ist eine Trophäe. Sie wird von den Leuten als Bestätigung gesehen werden, die Israel als Terrorstaat bezeichnen. Deshalb sind sie so dahinter her, dass auch der Name von Friedrich Merz unter der Erklärung steht.

Ich glaube, den meisten Bundesbürgern ist nicht bewusst, dass sich nach wie vor sechs deutsche Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Wer wollte es ihnen verdenken? Es ist ja auch so gut wie nie von den Geiseln die Rede. Sie kommen weder in den Ansprachen des Bundeskanzlers vor noch in Berichten aus dem Kriegsgebiet.

Sie heißen Alon Ohel, Itay Chen, Gali und Ziv Berman, Rom Braslavski, Tamir Nimrodi. Kennt Herr Wadephul ihre Nahmen? Sind sie den Diplomaten im Auswärtigen Amt bekannt, von denen es heißt, sie wollten eine entschiedenere Verurteilung Israels?

Vor zwei Wochen haben sie vor der Schule meines Sohnes demonstriert. Weil die Stadt nicht aufgepasst hatte, führte der Weg des Bündnisses „Palästina Spricht“ an der Synagoge vorbei, die neben der Schule liegt. Auf der Demo trat ein Genosse Aboud auf, der erst alle Synagogenbesucher als „Faschistenfreunde“ bezeichnete und dann die Berichte über das Leid der Geiseln als „Lüge“. Selbstverständlich war die Route von den Demonstranten nicht zufällig gewählt, so wie es auch kein Zufall war, dass die Demo pünktlich zum Freitagsgebet stattfand.

Weil wir in München sind und nicht in Berlin, fanden sich sofort Münchner Bürger ein, um sich schützend vor das Gebetshaus zu stellen. Aber die Botschaft der Demonstranten war klar. Seht euch vor! Niemand ist sicher, nicht mal am Münchner Sankt-Jakobs-Platz.

Es geht um Einschüchterung, das ist das Ziel. In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffen außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen.

Manche Menschen werfen mir vor, nicht unbefangen zu sein. Das stimmt. Was das Existenzrecht der Juden in Deutschland angeht, bin ich nicht unbefangen. Ich glaube allerdings, das hat weniger mit der Tatsache zu tun, dass mein Sohn eine jüdische Schule besucht, sondern eher mit meiner sozialdemokratischen Erziehung.

Wenn es etwas gab, was mir von klein auf beigebracht wurde, dann, dass Deutschland dafür Sorge zu tragen hat, dass jüdische Menschen bei uns nie wieder Angst um ihr Leben haben müssen. Nennen Sie mich einen unverbesserlichen Linken, aber das gilt für mich bis heute.

© Sören Kunz