Monat: September 2025

Woke, aber rechts

Cancel Culture, Meldestellen gegen Andersdenkende, Hass ist keine Meinung – das Copyright für diese Art des Kulturkampfs liegt bei den Linken. Aber die Politik kennt keinen Patentschutz. Jetzt ist die Gegenseite am Zug

Aus gegebenem Anlass sei an dieser Stelle an das Schicksal des Rechtsanwalts William Prynne erinnert. Der arme Kerl hatte eine Theaterkritik verfasst, in der sich der Satz „Schauspielerinnen sind gewohnheitsmäßige Huren“ fand. Leider verstand Henrietta Maria von Frankreich, Gattin des britischen Königs Karl I., dies als Anspielung auf sich. Die Königin hatte kurz vor Erscheinen des Textes eine Rolle in einer dramatischen Darstellung am Hof übernommen.

Ein dummer Zufall, wie man so schön sagt. Nichts lag dem Autor ferner, als die Hoheiten zu beleidigen. Aber Henrietta Maria hatte es sich nun einmal in ihren nach landläufiger Meinung eher mittelmäßig schönen Kopf gesetzt. Also wurden Prynne beide Ohren vom Kopf gesäbelt, um die vermeintliche Beleidigung zu sühnen.

Niemand verliert in dem Teil, den wir den freien Westen nennen, noch seinen Kopf, weil er sich über den König und seine Gattin lustig gemacht hat, gottlob. Aber seinen Job ist er los, wenn er Pech hat. So weit reicht die Macht des Königs dann doch.

In den USA hat der Spaßmacher Jimmy Kimmel wegen „unsensibler Bemerkungen“ seine Show verloren. Ich dachte, es sei die Aufgabe eines Late-Night-Hosts, unsensible Bemerkungen zu machen, das gehöre zur Jobbeschreibung. Aber möglicherweise habe ich den Anschluss an die aktuelle Humorentwicklung verpasst.

Der Fall hat Wellen geschlagen, auch in Deutschland. Der „Spiegel“ stellte seinen Lesern die Frage, ob in den USA das Ende der Meinungsfreiheit drohe. 96 Prozent antworteten mit „ja“, nur 4 Prozent haben noch Hoffnung.

Mir persönlich kam die Ausladung vertraut vor. Das Copyright auf Cancel Culture liegt bei den Linken. Menschen, die einem nicht passen, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, ist eine Übung, die sie perfektioniert haben. Ich kann es in gewisser Weise verstehen: Warum sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen, wenn man sie einfach mundtot machen kann?

Nach der Entlassung von Kimmel stieß ich per Zufall auf einen älteren Clip, in dem die Vorzeigedemokratin Alexandria Ocasio-Cortez die Entlassung des Fox-News-Moderators Tucker Carlson feierte. Wörtlich sagte sie: „Deplatforming funktioniert, und es ist wichtig. Es passieren auch gute Dinge.“ Wäre man Zyniker, wäre man versucht zu sagen: Jetzt bekommt ihr einen Geschmack der Medizin, die ihr anderen verabreicht habt. Aber so denken wir Liberalen selbstverständlich nicht. Wie heißt es: When they go low, we go high. Oder so ähnlich.

Neben ihrem Hang zur Verbohrtheit hatte die Linke immer schon ein Talent für Naivität. Nicht der marxistisch geschulte Teil, diesen Vorwurf kann man Marxisten nicht machen. Aber die woke Truppe. Staatliche Meldestellen, Hass ist keine Meinung, der Kampf gegen Hate Speech – dieser Quark geht auf ihre Rechnung. Was haben sie gedacht, was passieren würde, wenn die andere Seite die Macht erobert? Dass die Rechten sich das anschauen und sagen: „Ne, also das ist unter unserer Würde, da machen wir nicht mit“?

Natürlich haben sie rechts der Mitte die Exmatrikulationsmethoden genau studiert, um sie in dem Moment, in dem sie das Sagen haben, selbst anzuwenden. „Provokation“ heißt nicht von ungefähr ein Buch aus der Denkschmiede des rechten Verlegers Götz Kubitschek, in dem beschrieben wird, was man von den Linken lernen kann.

Der Unterschied ist: Die Linke bindet bunte Girlanden um ihre Absichten, damit sie gefälliger aussehen. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich auf Podien saß, wo darüber diskutiert wurde, ob es Cancel Culture überhaupt gebe. Die Rechte hingegen macht aus ihren Absichten kein Hehl. Es scheint fast so, als ob sie einen besonderen Kick daraus zieht, der Gegenseite zu drohen.

Vor wenigen Tagen hatte der stellvertretende Stabschef des Weißen Hauses, Stephen Miller, einen Auftritt bei Fox News. „Wir werden euch finden“, sagte er an die Gegner gerichtet in die Kamera. „Wir nehmen euch euer Geld weg, eure Macht und, wenn ihr das Gesetz gebrochen
habt, eure Freiheit.“ Am Ende sah man ein Lächeln über sein Gesicht huschen.

Ich weiß, es klingt unangenehm, aber Cancel Culture erfüllt einen kommunikativen Zweck. Sie ist eine brutale und sehr effektive Art, eigene Normen und Werte durchzusetzen. Jetzt werden die Regeln neu austariert, könnte man sagen.

„Der Vorschlag der Rechten, Cancel Culture zu canceln, eignet sich gut als Slogan“, schrieb der MAGA-Vordenker Christopher Rufo nach der Amtseinführung von Donald Trump im Februar. „Wir sollten anerkennen, dass Kultur ein Mittel der Gesellschaft ist, um eine bestimmte Wertehierarchie zu etablieren und dann auch die Grenzen zu kontrollieren.“ Bis vor Kurzem waren es unbedachte Kommentare über die Biologie der Geschlechter, die zum Ausschluss führten. Jetzt sind es unsensible Bemerkungen über Themen und Helden der rechten Bewegung.

Ich wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich der Fall Kimmel nicht als Beispiel für rechte Cancel Culture eigne, weil der Disney-Konzern, der Kimmel beschäftigt, selbst zum linken Imperium gehöre. Mit Fakten stünde ich erkennbar auf Kriegsfuß, schrieb mir der AfD-Abgeordnete Jürgen Braun: Die Sache habe mit Trump rein gar nichts zu tun.

Ich fürchte, der Mann versteht vom Kapitalismus so viel wie Heidi Reichinnek. Disney war in den vergangenen Jahren immer auf der Seite der Demokraten, das stimmt. Aber jetzt sitzt im Weißen Haus eben nicht mehr Joe Biden, sondern der Sonnenkönig aus Florida. Und wenn man die Zustimmung der Regierung bei seinen Geschäften braucht, ist man auch bei Disney sofort bereit, einen Comedian unter den Bus zu schubsen. Wer glaubt, Unternehmen hätten so etwas wie eine politische Überzeugung, für die sie im Zweifel dann einstehen, der glaubt auch, dass der Weihnachtsmann am Nordpol wohnt und die Rentiere in Norwegen überwintern.

Wer waren die Ersten, die bei Trump zu Kreuze krochen? Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und der Apple-Chef Tim Cook. Bei der Amtseinführung saßen sie in der ersten Reihe, um dem neuen Herrscher zu huldigen. Da ist mir einer wie Elon Musk tausendmal lieber. Der hakte sich immerhin bei Trump ein, als noch nicht klar war, wer das Rennen machen würde. Wäre es schiefgegangen, hätten die Demokraten ihn bei lebendigem Leibe gehäutet und seine diversen Unternehmungen gleich mit.

Am Montagabend erreichte uns die Nachricht, dass Jimmy Kimmel wieder auf Sendung geht. „Go woke, go broke“, lautet ein Satz, der zusammen mit der Cancel Culture Karriere machte. Die Zahl von Unternehmen, die ihre Kunden verprellten, indem sie dem Zeitgeist huldigten, ist Legion. Wenn die Biermarke Bud Light plötzlich eine Transaktivistin zum Maskottchen erhebt, ist das so, als würde Ben & Jerry’s plötzlich seine Liebe zu Israel erklären.

„Go woke, go broke“ gilt in gleichem Maße für die neue Wokeness von rechts. Auf jeden Neukunden, den man gewinnt, wenn man plötzlich auf die Gegenseite schwenkt, kommt ein Schwung Fans, die sauer sind. Für alle, die Disney-Aktien besitzen, waren die vergangenen Tage nicht schön. Merke: Noch wichtiger als ein offenes Ohr in der Politik ist den Leuten in der Vorstandsetage der Börsenkurs, an dem ihre Boni hängen.

© Michael Szyszka

Im Feindesland

Jetzt zeigt sich, was für eine verheerende Idee es war, die Bildungseinrichtungen zum Safe Space umzubauen. Wenn der Safe Space auf Debattenprofis wie den Influencer Charlie Kirk trifft, gewinnt nicht der Safe Space. Auch daher war er so verhasst

Ich habe mir stundenlang Charlie-Kirk-Videos angesehen. Sie wissen schon, das ist dieser amerikanische Influencer, der vor einer Woche auf dem Campus der Universität Utah von einem 22-Jährigen erschossen wurde. Ich konnte nicht mehr aufhören, es war wie ein Sog.

Das Setting ist in den Videos immer das gleiche. Kirk sitzt in einer Art Zelt, das ihn vor der Sonne schützt, neben sich ein Glas Yogitee, an dem er hin und wieder nippt. Gegenüber steht ein sogenanntes Open Mic, an das jeder treten kann, der es mit ihm aufnehmen will. „Prove me wrong“, lautete der Titel der Veranstaltungen, die Tausende anlockten: Zeig mir, dass ich falschliege.

Es gibt einen jungen Mann, der sagt, dass er schwul sei und wissen wolle, was Kirk davon hält. Man sieht eine Feministin, die mit ihm über Abtreibung sprechen will, einen älteren, schwarzen Herren, der ihn zu Rassismus befragt, eine Frau im Regenbogen-Shirt, die für Transrechte streitet.

Vor den ohnehin Überzeugten auftreten, das kann jeder. Da reichen ein paar Klopfer, wie man bei uns in Bayern sagt, und die Leute sind glücklich. Aber sich in Feindesland begeben, mit nichts anderem ausgestattet als einem Mikrofon, das erfordert mehr Fähigkeiten.

Und die Universitäten, an denen Kirk auftrat, waren Feindesland. Wenn es einen Ort gibt, der noch fest in der Hand der Linken ist, dann ist es die akademische Welt. Halten Sie mich meinetwegen für einen Extremisten der Meinungsfreiheit: Aber so ein Kampfgeist beeindruckt mich.

Viele Linke fragen sich, wie es passieren konnte, dass der Zeitgeist nach rechts kippt. Ich glaube, der Grund liegt genau hier. Links der Mitte ist man schlicht nicht mehr in der Lage, der anderen Seite etwas entgegenzusetzen. Nicht weil es keine Argumente gäbe. Argumente lassen sich für nahezu jeden Standpunkt finden. Die Linke verliert, weil sie sich zu sehr daran gewöhnt hat, nur noch auf Leute zu treffen, die zustimmen.

Jetzt zeigt sich, was für eine verheerende Idee es war, die Bildungseinrichtungen zum Safe Space umzubauen. Wer eine ganze Generation darauf trainiert, schon die Verwendung eines falschen Pronomens als Gewaltakt zu betrachten, muss sich nicht wundern, dass sie zu keiner Gegenwehr in der Lage ist, wenn plötzlich der Leibhaftige in der Tür steht.

Man kann auch sagen: Wenn der Safe Space gegen Charlie Kirk antritt, gewinnt nicht der Safe Space. Diese Jugend ist nur lebensfähig, wenn man sie in Watte packt. Ein zu lautes Wort, ein unkorrekter Gag, und sie erleidet einen Schwächeanfall.

Kirk war auch die Antwort auf das Bedürfnis nach Coolness. Er war der Beweis, dass die Rechten nicht alle so dumm und einfältig sind, wie immer behauptet wird. Ein Hillbilly, der ein
Collegekid nach dem anderen vermöbelt: Kann man sich eine grausamere Demütigung vorstellen? Auch deshalb hassen sie ihn über den Tod hinaus.

Als ich die Videos sah, habe ich mich unwillkürlich gefragt: Wer wäre bei uns heute links der Mitte in der Lage, in den politischen Nahkampf zu gehen? Die Helden der Bewegung sind Leute wie die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke, hochdekoriert und bewundert, die zuletzt inständig darum bat, sich jedem Diskurs zu entziehen. Das war ihr Petitum: Geht nicht in die Talkshows, meidet Podien, auf denen die bösen Leute sitzen, bleibt unter euch.

Oder man hält sich an Komikern wie Jan Böhmermann fest, der seinen Letztkontakt mit der anderen Seite als Praktikant bei Harald Schmidt hatte. Als der Moderator vor vier Jahren im Gespräch mit dem „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo auf offener Bühne über sein Verständnis als Satiriker Auskunft geben sollte, galt das als Sensation. Wahnsinn, Böhmermann stellt sich kritischen Fragen!

Es sollte auch das vorerst letzte Mal bleiben. Seitdem hat er das Studio, wo er nur von Leuten umgeben ist, die garantiert auf seiner Seite stehen, nicht mehr verlassen. So sind ja auch die Sendungen: ein braves Abarbeiten der Stichworte, die ihm die Redaktion liefert. In diesem Setting gewinnt man immer. Notfalls wird so lange geprobt und geschnitten, bis man als Held vom Platz geht.

Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, aber die Linke hat sich nicht durchgesetzt, indem sie sich der Auseinandersetzung verweigerte. Im Gegenteil: Ihren Siegeszug verdankt sie dem Talent zur Aufmüpfigkeit. All das, worüber man heute die Nase rümpft, die Provokation, die Zuspitzung, die Übertreibung, waren einmal die Stilmittel, derer man sich selbst befleißigte.

Die Verführungskraft der Achtundsechziger bestand nicht in Rücksichtnahme und Leisetreterei, sondern in der Krawalllust. Die Helden waren Berufsprovokateure wie Fritz Teufel oder Rainer Langhans. Ich weiß noch, wie ich als 16-Jähriger ein zerlesenes Exemplar von Fritz Teufels „Klau mich“ wie einen Schatz hütete. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ war für mich keine wegen ihrer offensichtlichen Gewaltverherrlichung fragwürdige Äußerung, sondern ein Versprechen.

Heute ist es genau umgekehrt. Die wahren Rebellen sind bei der Jungen Union zu finden. Der brave Teil sammelt sich bei den Jusos und der Grünen Jugend. Die linken Jugendorganisationen sind das, was früher die Pfadfinder oder die katholische Dorfjugend waren: Orte, an denen man lernt, wie man garantiert nicht aus der Reihe tanzt.

Damit nicht so auffällt, wie brav und angepasst man in Wahrheit ist, reißt man hin und wieder einen kessen Spruch. Dann beschimpft man Polizisten als Bastarde und die Reichen als Aasgeier. Aber in Wahrheit gibt es keine folgsamere Truppe als die Grüne Jugend. Das war schon bei den Klimaprotesten zu beobachten: Während Annika und Finn gegen den Klimatod protestierten, standen die stolzen Eltern am Rand und klatschten Beifall.

Mag sein, dass Kirk wirklich ein schlimmer Finger war. Gut möglich, dass es eine andere Seite gibt, die man auf den Videos nicht sieht. Dass sich irgendwo das frauenverachtende, rassistische Arschloch versteckt, von dem seine Verächter sprechen. Aber die meisten Zitate, die ich gesehen habe, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als deutlich nuancierter und vielschichtiger, als es zunächst den Anschein hat.

Auch Fritz Teufel hat übrigens Sachen gesagt, bei denen einem heute die Haare zu Berge stehen. Man konnte in Deutschland zwischenzeitlich sogar in den Planungsstab des Auswärtigen Amts gelangen, nachdem man als Student ein paar der schlimmsten Massenmörder der Geschichte bejubelt hatte. Die Begeisterung für Pol Pot oder Mao zeigt jedenfalls einen größeren Mangel an Urteilskraft als ein fragwürdiger Satz zum Geschlechterverhältnis.

Wir können Kirk nicht mehr fragen, was er davon halten würde, dass nun auch die US-Regierung allen den Krieg erklärt, die angeblich Hassreden verbreiten. Oder dass dem Washington-Korrespondenten des ZDF mit Visa-Entzug gedroht wird, weil der in einem Beitrag etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Der Kirk, den ich gesehen habe, würde davon nicht viel halten. Wer andere ausschließt, hat schon verloren, das ist die Botschaft, die er für Freund und Feind bereithielt.

Aber so ist das im politischen Geschäft: Wer an der Macht ist, wird faul und bequem. Insofern muss man nur darauf warten, bis das Pendel wieder in die andere Richtung schwingt. Bis es so weit ist, wird nach dem Zustand der Linken zu urteilen, allerdings noch einige Zeit vergehen.

@ Michael Szyszka

Was von den Grünen bleibt

Robert Habeck geht ins Offene, Annalena Baerbock hält in New York die Haare in den Wind. Die große Stärke der Grünen war es immer, noch dem selbstsüchtigsten Anliegen den Anschein des Erhabenen zu verpassen

„Und wo bleibe ich?“, lautete die Frage, mit der sich die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis nach ihrer Wahlniederlage ins Stammbuch unvergänglicher Politikersätze einschrieb. Der Satz hat ihr viel Spott eingetragen, dabei war er so offen wie ehrlich.

Wo Annalena Baerbock geblieben ist, wissen wir seit ein paar Tagen. Sie lebt jetzt das Leben der Kosmopolitin, von dem sie stets geträumt hat. Eine Frau, frisch getrennt, aber voller Pläne, erobert New York. Die Haare im Wind, das Moleskine-Tagebuch in der Hand, bereit für einen Neuanfang, auch im Privaten: So präsentiert sie sich auf ihrem Instagram-Account in einem Kurzvideo.

Auch für Baerbock ging es immer vor allem um sie selbst. Im Gegensatz zu Heide Simonis verfügte sie allerdings über das Netzwerk und die politische Unterstützung, ihre Karriere auch über den erzwungenen Abschied zu retten. Statt abgehalftert in der deutschen Provinz, neu durchstarten im Big Apple: Wer wünschte sich das nicht?

Die große Stärke der Grünen ist es bis heute, noch dem selbstsüchtigsten Anliegen den Anschein des Erhabenen zu verleihen. Unter der Rettung des Weltklimas oder des Weltfriedens machen sie es nicht, deshalb wirkt auch jede Kritik schnell kleinlich. Andere mögen als Ego-Shooter und Ichlinge gelten, grüne Politiker schützt der Verdacht, neben Eigeninteressen gäbe es Größeres.

Auch Robert Habeck war am Ende nur ein Artist in der Ich-Kuppel. Allen Einlassungen zum Abschied war anzumerken, wie sehr es ihn schmerzt, dass Deutschland das großherzige Angebot einer grünen Kanzlerschaft abgelehnt hat. Aus jedem zweiten Satz sprach die Enttäuschung eines Mannes, der die Zurückweisung nur schwer verwinden kann.

Viele haben sich insbesondere über sein Interview in der „taz“ mokiert, indem er noch einmal den Gegnern einen mitgeben musste. Ich fand eher bemerkenswert, wie es den Interviewern gelang, ernst zu bleiben, während Habeck über die Aussicht dozierte, „ins Offene“ zu treten, auch wenn er nicht wisse, wohin ihn „der Weg durchs Offene“ führen werde: „Ich gehe jetzt komplett ins Offene und lasse die Leinen los.“ Ich fürchte, ich hätte bei dieser Mischung aus Poesiealbum, Dorothee Sölle und Waldorfschule aus dem Lachen nicht mehr herausgefunden.

Man kann auch sagen, mit Baerbock und Habeck hat sich der Kreis geschlossen. In ihnen kommt das Grüne ganz zu sich selbst. Ich weiß, wovon ich rede. Ich stamme aus dem Bewegungsjahrzehnt, in dem die Partei ihren Siegeszug antrat.

Die Entdeckung des Ichs als politisches Subjekt darf als die eigentliche Innovation der neuen Linken gelten. Die zählebigste Hinterlassenschaft der Achtzigerjahre ist folgerichtig neben Fortschrittsfeindlichkeit, Birkenstock, BAP und Yoga-Zentrum die Innerlichkeit, die den Bewegungsteilnehmern die ungenierte Beschäftigung mit dem erlaubte, was sie schon immer am meisten interessierte: sich selbst.

Mit der radikalen Subjektivität ging auch eine bemerkenswerte Rücksichtslosigkeit einher. Jede Beziehung war mit dem Satz „Du, das tut mir gerade nicht gut“ beendet, da konnte der andere noch so am Boden liegen. So gesehen ist auch die Härte, mit der Annalena Baerbock die Diplomatin erledigte, die eigentlich für den Posten bei der UN vorgesehen war, von urgrüner Konsequenz.

Die Gründergeneration hatte bei aller Selbstbefassung allerdings noch so etwas wie ein politisches Projekt, das muss man fairerweise hinzufügen. Deutschland irgendwie friedlicher, bunter und ökologischer zu manchen, das war der Auftrag, mit dem sie antrat. Bei der Generation Baerbock ist all das nur noch als Zitat vorhanden. Die Kamera streift einmal kurz über den Satz „Better together“, danach sieht man schon wieder das Haar im Wind flattern.

Mal schauen, wohin es die Grünen trägt. Für zwölf oder 13 Prozent ist ihr Programm noch immer gut. Aber darüber hinaus? Auf viele wirkt die Verabschiedung in eine Welt, in der man aller materiellen Sorgen enthoben scheint, eher befremdlich. Baerbock mag entfallen sein, dass ihre Selbstermächtigung nicht auf Privatkosten stattfindet, sondern mit 13.000 Euro im Monat vom Steuerzahler alimentiert wird – die Wähler sind da nicht ganz so nachsichtig.

Dazu kommt, dass die Zeiten ernster geworden sind. Der Charme der Energiewende entfaltet sich sehr viel leichter in einer Welt, in der alles im Überfluss vorhanden zu sein scheint, auch der Strom aus der Steckdose. Es gab im grünen Kosmos immer die Frugalitätsapostel, die den Anhängern die Freuden des Verzichts predigten. Aber deren Macht ist doch eher begrenzt. Die meisten finden die Rückkehr in eine Welt, in der es Extravaganzen wie Urlaubsflüge nur noch auf Bezugsschein gibt, nicht so wahnsinnig attraktiv.

Mit jedem Monat, der vergeht, wird die wirtschaftliche Bilanz noch etwas düsterer ausfallen. Wie man voll funktionsfähige und zudem klimaneutrale Kraftwerke sprengen kann, um dann händeringend nach einer Alternative zu suchen, wird mit etwas Abstand als Narretei allererster Güte in die Wirtschaftsgeschichte eingehen.

Auch auf den Traum vom Ende des deutschen Automobilbaus wird man noch einmal ganz anders schauen, wenn er sich erfüllt hat. Vermutlich werden künftige Grüne erklären, dass die autofreie Zukunft eine tolle Idee war, die eben nur falsch umgesetzt wurde, so wie Heidi Reichinnek jetzt bei jeder Gelegenheit betont, die DDR habe mit dem Sozialismus nichts zu tun. Aber ich habe Zweifel, ob die Grünen damit wirklich durchkommen werden.

Eine Tür schließt sich, eine andere geht auf. Man darf gespannt sein, wie es mit der Insta-Karriere der ehemaligen Parteivorsitzenden weitergeht. Am Montag folgte ein Besuch in diesem total süßen Bagel-Shop, um sich mit einem Frühstück to go zu versorgen. Nächste Woche steht vermutlich die Kurzführung durch die neue Wohnung an und eine Stippvisite am Arbeitsplatz. Der Blick über Manhattan soll von dort oben echt toll sein. Und wer weiß, in Folge 12 biegt dann Mr. Big um die Ecke und lässt die Herzen noch einmal höherschlagen.

Die Selbstinszenierung im Stil eines Backfisches ist in seiner ganzen klischeebeladenen Spießigkeit auch wieder rührend. Man darf vermuten, dass Annalena Baerbock als Präsidentin der UN-Generalversammlung über Fahrer und Sicherheit verfügt. Aber das hätte das Bild der lebensbejahenden Frau zerstört, die für sich die große Stadt entdeckt. Der „If you can make it here, you can make it anywhere“-Vibe funktioniert halt besser vom Rücksitz eines Yellow Cab als aus dem abgetönten Rückabteil einer UN-Limousine.

Der Gesellschaftsreporter Frédéric Schwilden hat an das Schicksal der unterbezahlten Social-Media-Praktikanten erinnert, die mit dem Handy die Oberfläche einfangen und dann zu einem Video zusammenschnipseln müssen. Auch darin waren die Grünen immer groß: in der Ausbeutung der Hoffnung junger, begeisterungsfähiger Menschen, die noch daran glauben, sie würden die Welt verbessern, wenn sie sich der grünen Sache verschreiben.

Für so etwas haben die alten Hasen nur ein müdes Lächeln übrig. Aber das behalten sie lieber für sich. Nicht dass es ihnen noch wie Heide Simonis ergeht, die in einem unbedachten Moment die Wahrheit sagte.

© Silke Werzinger