Edel sei der Journalist, betroffen und gut

Was wird im Journalismus prämiert? Gefühlvolle Texte mit tadelloser Gesinnung. Schade nur, dass sich dieses Berufsbild so negativ auf die Fähigkeit zur Wirklichkeitserfassung auswirkt

Einmal im Jahr wird der Deutsche Reporterpreis vergeben. Mit der Jury verhält es sich ein wenig so wie mit der Hollywood Foreign Press Association, die über die Golden Globes wacht und bei der auch nicht bei jedem Mitglied auf Anhieb ersichtlich ist, warum es dabei ist.

Bei manchen Juroren beschränkt sich die auffälligste Tätigkeit darauf, darüber nachzusinnen, warum der „Spiegel“ in letzter Zeit so viele „düstere, männliche“ Titelthemen hatte (Corona, US-Wahl) und so wenige weibliche (Klimawandel). Was dem Ansehen der betreffenden Person selbstredend keinen Abbruch tut. Wer sich nicht durch sein Schreiben den Platz in der Jury gesichert hat, der verdankt ihn der vorbildlichen Gesinnung.

Der meistdekorierte Journalist beim Reporterpreis ist der ehemalige „Spiegel“-Redakteur Claas Relotius, der gleich viermal die begehrte Trophäe gewann. Dummerweise stellte sich anschließend heraus, dass seine großen Reportagen reine Kopfgeburten waren, also freie Erfindung.

Dass der Jury beim Lesen der eingereichten Texte keine Fragen kamen, lag auch daran, dass die von Relotius gelieferte Mischung aus Märchen und Politkitsch ungemein betörend wirkte. Seine Texte lasen sich halt so schön, seufzte eine Jurorin, nachdem der Schwindel aufgeflogen war, womit sie vermutlich meinte, dass der Autor genau so über das Trump-Amerika oder den Bürgerkrieg in Syrien schrieb, wie sie sich vorgestellt hatte, dass es dort zugehen müsste.

Reportage als Bestätigung der Vorurteilsstruktur: Das ist noch immer der sicherste Weg ins Herz einer Journalisten-Jury. Selbstverständlich gelobte man für die Zukunft Besserung.

Dieses Jahr sind in der Kategorie Essay nominiert: eine Geschichte über die Spätfolgen von Atomwaffentests; eine Geschichte über den alltäglichen Rassismus und den Rassisten in uns; ein Artikel, wie Joachim Gauck als Bundespräsident rechtes Denken hoffähig machte; ein Text über die Verschwörungswelt von Corona-Leugnern; eine Geschichte über die Benachteiligung alleinerziehender Mütter. Natürlich darf auch der Klimawandel nicht fehlen und warum die Angst vor einer Ökodiktatur gefährlicher Unsinn ist.

Wenn man eine Karikatur über preisverdächtige Texte anfertigten sollte, besser bekäme man es nicht hin. Es gibt zwei Artikel, die querliegen, einer über die CSU und Söder und einer über die Macht des Schicksals, aber das sind Ausreißer, die das Bild nur geringfügig aufhellen.

Das Lob der Gesinnungsprosa ist zurück, so, als habe es den Fall Relotius nie gegeben. Warum auch nicht, könnte man sagen? Soll sich die Branche doch selbst feiern. Das ist zwar eine bittere Nachricht für Leute, die niemals in die Nähe eines Reporterpreises gelangen werden, weil sie aus der Beobachtung der Wirklichkeit die falschen Schlüsse ziehen. Die spöttische Zeitdiagnostik geht verlässlich am Geschmack von Preisrichtern vorbei. Aber mei, so ist es halt, wie man in Bayern sagt.

Ich glaube allerdings, dass hier ein tiefer reichendes Problem liegt. Der Mangel an Perspektiven schlägt auf die Wirklichkeitserfassung durch. Wer nur Leute kennt und trifft, die so denken, wie man selbst, hat Mühe, sich vorzustellen, dass man auch ganz anders auf die Welt sehen könnte.

Wie sehr das Übermaß an guten Absichten den Blick trübt, hat die Wahl in Amerika gezeigt. Gottlob hatte Joe Biden am Ende die Nase vorne, das erspart eine peinliche Selbstbefragung. Ich finde es grundsätzlich befremdlich, wenn Journalisten mit Herzchen und Freudenschreien eine Wahl kommentieren. In dem Fall fiel der Jubel über den Sieg der Demokraten auch deshalb so ekstatisch aus, weil man damit die Frage umging, wie es Trump trotz lausiger Corona-Bilanz fast gelungen wäre, sich eine zweite Amtszeit zu sichern.

Klar, jeder Journalist weiß, dass es Trump-Fans gibt, irgendjemand muss das orange Monster ja wählen. Aber Abstecher in das Habitat des Trump-Wählers sind wie Safaris zu einer seltenen Spezies. Man besucht sie so, wie man Urwaldbewohner besucht. Nur mit weniger Neugier. Jeder Kopfjäger in Borneo kann mit mehr Sympathie rechnen als der wilde Mann im Weißen Haus.

Die politische Selbstabschließung des journalistischen Milieus schreitet unaufhaltsam voran. Vor ein paar Tagen sorgte eine Umfrage für Aufsehen, wonach 90 Prozent der Volontäre der ARD grün-rot wählen. Rot meinte dabei übrigens nicht die SPD, sondern vor allem die Linkspartei. In einigen kritischen Kommentaren wurde daraufhin so getan, als suche die ARD gezielt linke Volontäre aus. Ein Missverständnis. Die ARD rekrutiert nicht zu 90 Prozent Nachwuchs, der links-grün wählt. 90 Prozent des journalistischen Nachwuchses sind heute links-grün.

Ich war im März an meiner alten Ausbildungsstätte, der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Sagen wir es so: Wir hatten eine lebendige Diskussion. Als ich mich nach zwei Stunden verabschiedete, sagte die Sekretärin, sie habe noch nie erlebt, dass dem Referenten entgegengehalten wurde, er würde Unsinn verbreiten. Besonderen Widerspruch rief meine Einschätzung hervor, dass sich die meisten Journalisten auf seltsame Weise einig seien. Das wiederum fand ich ganz komisch, da die Empörung meinen Punkt eindrucksvoll zu bestätigen schien, wie ich meinte.

Es wird sich nicht viel ändern. Alle zwei Jahre sucht das Verlagshaus Gruner + Jahr einen neuen Lehrgang aus. Einer, der in der Auswahlkommission dabei ist, erzählte mir, dass sie neulich einen Bewerber hatten, der unvorsichtigerweise angab, im Studium durch die Hanns-Seidel-Stiftung gefördert worden zu sein. Allgemeines Stirnrunzeln. In der nächsten Runde war der arme Kerl auch nicht mehr dabei.

Irgendwie hat sich die Vorstellung festgesetzt, Redaktionen müssten die Gesellschaft abbilden, so als seien Medien betriebe eine Art multikulturelle Idealgesellschaft. Diverse Lobbyorganisationen arbeiten daran, den Anteil von Migranten zu heben. Dabei wird übersehen, dass Verlagshäuser keine gemeinnützigen Vereine, sondern Wirtschaftsunternehmungen sind, die auch keinen Demokratiepreis gewinnen wollen, sondern Leser und Käufer.

Ja, heißt es gerne, wenn sich die Verlage mehr für andere Stimmen öffnen würden, dann könnten sie sich ganz neue Leserschichten erschließen. Ich glaube nicht dran. Und selbst wenn dem so wäre: Die Zahl der Leser, die man mit lauter wichtigen Geschichten aus dem Randgruppen-Alltag gewinnt, steht in keinem Verhältnis zur Zahl derjenigen, die man einbüßt, weil sie an ihrer Zeitung oder Zeitschrift das Interesse verlieren.

Hinzu kommt, dass das Konzept, das hinter den Bemühungen steht, eine sehr oberflächliche Vorstellung von Vielfalt transportiert. Diese Vielfalt macht sich an ausländisch klingenden Namen oder am Hautton fest. Schaut man genauer hin, wird schnell klar, dass diejenigen, die als Stimmen der Vielfalt gelten, erstaunlich homogen denken und fühlen.

Kein Wunder, würde ich sagen: Sie teilen miteinander dieselben Bildungsabschlüsse, dieselben Stadtviertel, dieselbe kosmopolitische Lebensart. Würde man es mit der Vielfalt in Redaktionen wirklich ernst meinen, müsste zum Beispiel mal jemand vertreten sein, der mit der AfD sympathisiert. Oder ein Muslim, der davon überzeugt ist, dass Religion eine Sache ist, bei der der Spaß aufhört. Das ist mit Vielfalt selbstverständlich nicht gemeint.

Der Moderator Jörg Thadeusz, der in seinem Leben viele Preisverleihungen moderiert hat, zog nach dem Relotius-Debakel in einem kurzen Text für die „Welt“ ein vernichtendes Fazit. Es sei ihm bei den Jurysitzungen oft so vorgekommen, als stünde ein gewisses Weltbild fest, schrieb er. Wer das mit einer süffigen Geschichte möglichst prachtvoll bestätige, erhöhe seine Chance, nominiert zu werden. Journalistenpreise sind ein guter Gradmesser, was erwünscht ist und was nicht. Das prägt den Nachwuchs wie jedes Belohnungssystem.

Es lohnt sich, den Text von Thadeusz noch einmal zu lesen, man findet ihn leicht im Netz. Er ist, wie man sieht, bis heute gültig.

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