Wie uns die Regierung im Stich lässt

Die Politik hat jetzt die Gastronomie, die Konzertsäle und die Museen zugesperrt. Ob sich Menschen dort anstecken, weiß niemand. Das ist schon ziemlich verrückt. Noch verrückter ist: Man könnte es wissen, wenn man wollte

Die Kanzlerin wird viel wegen ihrer überragenden Intelligenz gelobt. Man kann lesen, dass sie ihren Gesprächspartnern an Auffassungsgabe und Weitsicht oft überlegen sei. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob das mit der Weitsicht wirklich zutrifft. Vielleicht ist es das Alter, vielleicht die Zahl der Amtsjahre – aber Angela Merkel scheint mir nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit zu sein.

Die Kanzlerin kann unbestritten toll mit Zahlen umgehen, in Mathematik ist sie ein Ass. Was exponentielles Wachstum bedeutet, versteht sie besser als die meisten Menschen. Ihre Hochrechnung der Infektionszahlen hat sich auf gespenstische Weise bewahrheitet. Sie hat sich nur im Monat geirrt. Wir haben die 19 200 Corona-Fälle am Tag, von denen sie sprach, schon Ende Oktober erreicht, nicht erst im Dezember.

Aber was folgt daraus? Ich dachte, Politik hieße, nicht nur Modellrechnungen anzustellen, sondern auch darüber nachzudenken, wie man sich auf das, was man erwartet, vorbereitet. Siebeneinhalb Monate sind seit dem ersten Lockdown vergangen, aber in Berlin agieren sie wieder so, als stünden wir am Anfang der Pandemie.

Wir haben keine Verfahren entwickelt, die es erlauben würden, dass man nicht jedes Mal an den Parlamenten vorbei das öffentliche Leben lahmlegen muss. In Schulen und Altenheimen warten sie nach wie vor auf die versprochenen Schnelltests. Ich frage mich ernsthaft, was sie in der Regierung all die Monate getrieben haben. Von der Kanzlerin hätte ich jedenfalls mehr erwartet, als dass sie die Bürger zur inneren Einkehr mahnt.

Wir haben jetzt die Gastronomie, die Konzertsäle und die Museen zugesperrt, aber ob sich Menschen dort überhaupt in nennenswerter Zahl anstecken, kann niemand sagen. Das Robert Koch-Institut hat vergangene Woche ein Schaubild zu den wichtigsten Infektionsquellen veröffentlicht.

Speisestätten machen danach nur einen Bruchteil der Ansteckungsorte aus, auch Kultureinrichtungen spielen bei der Verbreitung des Virus keine Rolle. Jetzt heißt es, das Bild sei unvollständig. Bei 75 Prozent der Infizierten sei unklar, wo sie sich mit dem Virus angesteckt hätten. Deswegen müsse man alles schließen, was entbehrlich sei.

Wir könnten es sehr viel genauer wissen, das ist das Verrückte dabei. Es wäre sogar relativ einfach, man müsste sich nur der Möglichkeiten der digitalen Welt bedienen. Stattdessen vertraut die Politik lieber dem Faxgerät und dem Telefon. Ich empöre mich selten, wie regelmäßige Leser meiner Kolumne wissen, aber hier ist es so weit.

68 Millionen Euro hat die sogenannte Corona-Warn-App gekostet. 20 Millionen Deutsche haben sie brav aufs Handy geladen. Nur wozu? Das letzte Mal, als ich die Warn-App öffnete, sagte sie mir: „Niedriges Risiko.“ Fand ich beruhigend. „Bisher keine Risikobegegnung.“ Noch beruhigender. Andererseits bin ich in den vergangenen zwei Wochen aus meiner Doppelhaushälfte auch kaum hinausgekommen, alles andere wäre also erstaunlich gewesen.

Neulich hatte ich mal zwei Risikobegegnungen. Leider konnte mir die App weder sagen, wann diese stattfanden, noch wo. Es hätte mich sehr interessiert zu wissen, wo ich Menschen zu nahe gekommen bin, die mit dem Virus infiziert waren. War es in der S-Bahn oder im Restaurant? Ich dachte, darum geht’s. Wenn ich wüsste, der Italiener ist das Problem, dann würde ich das „Cafe Dolce“ künftig meiden.

Dummerweise ist die App so konstruiert, dass alles anonym bleibt, auch der Ort, der einem gefährlich werden könnte. Wir haben wahrscheinlich die einzige Warn-App der Welt, die sagt: „Vorsichtig, du könntest dich anstecken, aber wir sagen dir nicht, wo.“ Im Grunde funktioniert das Ganze wie in der Geisterbahn, bei der der Nervenkitzel ja auch darin besteht, dass einem nicht gesagt wird, wo das Monster lauert. Irgendwann macht es: Huh!

Wenn Sie jetzt denken, das sei Polemik, dann habe ich einen Zeugen an meiner Seite, der über jeden Zweifel erhaben ist. Der bekannte Tech-Blogger Michael Seemann hat bereits im Juni ausführlich begründet, warum das dezentrale Design die Corona-Warn-App im Kampf gegen das Virus praktisch wertlos macht.

Im Prinzip könnte die App genau das leisten, was die Gesundheitsämter nicht mehr zu leisten in der Lage sind (und weshalb nun neue Einschränkungen des öffentlichen Lebens verfügt wurden): eine Unterbrechung der Infektionsketten. Wir wissen, dass nicht alle Menschen gleichermaßen infektiös sind, sondern die eigentliche Gefahr von sogenannten Superspreadern ausgeht, also Leuten, die in kurzer Zeit sehr viele Menschen in ihrer Umgebung anstecken. Die Virologen sprechen in so einem Fall von einem Cluster.

Mit der App wäre es ein Leichtes, diese Cluster zu erkennen. Das setzt allerdings voraus, dass die Daten zentral gespeichert würden, genau das hat man mit Rücksicht auf die Bedenken von Datenschützern verhindert. „Das frühe Festlegen auf die Dezentralität war ein Fehler“, schreibt Seemann. Er tröstete sich im Juni mit der Aussicht, „dass wir Covid-19 wahrscheinlich ganz prima ohne App in den Griff bekommen“. In dem Punkt hat er sich leider getäuscht.

Auch in der Politik ist inzwischen angekommen, dass man viel Geld für ein Programm ausgegeben hat, das im Alltag versagt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat die Corona-App vor zwei Wochen als völlig nutzlos bezeichnet. Da kann man ihm nur zustimmen. Ist etwas darauf gefolgt? Nein. Gibt es eine bayerische Initiative, endlich zu einer Variante zu kommen, die uns hilft, das Virusgeschehen besser zu verstehen? Auch das nicht.

Stattdessen zwingt man jetzt überall Wirte und Künstler in den Lockdown, ohne sagen zu können, ob das etwas bringt. Die selbst gewählte Ahnungslosigkeit liefert dabei absurderweise die Begründung: Da wir nicht wissen, wo man sich ansteckt, können wir nicht ausschließen, dass es Kinos, Theater und Restaurants sind. Aus dieser Logik gibt es kein Entrinnen.

Es wird jetzt behauptet, wenn nicht alles total anonym wäre, würden die Leute der App nicht vertrauen. Ich halte das für vorgeschoben. Google speichert jede Suche, jede Pornoseite, die einer anklickt, jede verbotene Zeile. Auch Amazon hält alles fest, sogar das, was Alexa bei einem zu Hause aufschnappt. Und die Deutschen? Haben überhaupt kein Problem damit, wie wild zu googeln und bei Amazon einzukaufen.

Ich glaube, die Angst vorm staatlichen Datenmissbrauch ist der Popanz von Leuten, die vom Datenschutz leben. Wäre ich Innenminister, würde ich den Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber als Gefährder einstufen. Es ist ja auch nicht so, dass wir in der Krise keine Freiheitsrechte antasten würden. Welche Grundrechte eingeschränkt wurden oder werden, um Infektionen zu vermeiden: Berufsfreiheit, Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Bildungsfreiheit. Was nicht eingeschränkt wird und wurde: Datenschutz.

Immerhin wissen wir jetzt, wo die Kultur rangiert, mit der sich Politiker so gerne schmücken: Irgendwo auf der Ebene von Bordellen, Saunabetrieben und Fitnessstudios. Man habe den Freizeitbereich schließen müssen, hat Kanzleramtschef Helge Braun am Sonntag bei „Anne Will“ wiederholt, so als sei ein Klavier- oder ein Kabarettabend eine nette, aber letztlich unnötige Freizeitbeschäftigung.

Vielleicht sieht die Kanzlerin das wirklich so. Je länger sie regiert, desto mehr kommt die Pfarrerstochter in ihr durch. Der Rat von Angela Merkel in der Krise: einfach nach der Arbeit mal zu Hause bleiben und sich auf die Dinge im Leben besinnen, die wirklich zählen. Also Infektionsschutz durch Entsagung.

Dazu passt, dass wir angeblich alles tun, um das Weihnachtsfest zu retten. Auch das kann ich nicht nachvollziehen. Wenn es ein Datum gibt, das Unfrieden bringt, dann Weihnachten. Wann im Jahr lassen sich mehr Leute scheiden als zu Weihnachten? Auch die Suizidgefahr ist besonders hoch. Wenn es der Regierung wirklich ernst damit ist, Deutschland sicherer zu machen, wie sie sagt, dann wäre ein Verzicht aufs Weihnachtsfest dringend geboten. Das stände bei mir auf der Liste ganz oben.

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