Nichts geht voran, alles misslingt: Mittlerweile nimmt die Untätigkeit der Regierung Merkel groteske Züge an. Aber statt den Kurs zu ändern, schottet sich die Kanzlerin einfach gegen die Wirklichkeit ab
In den letzten Monaten seiner Kanzlerschaft war Helmut Kohl vor allem mit sich selbst beschäftigt. Gegen die Welt außer halb des Kanzleramts richtete sich der Kanzler der Einheit in einer heimeligen Gegenwirklichkeit ein, in der alle Störungen auf ein Minimum reduziert waren.
Besucher bekamen den guten Rat, ihr Anliegen in wenigen knappen Sätzen vorzutragen, weil sie danach nicht mehr zu Wort kämen. Am Abend versammelten sich die Getreuen im Kanzlerbungalow, wo sie dann den immer gleichen Geschichten und Anekdoten lauschten, bis der Chef endlich die Runde aufhob.
Es soll vorgekommen sein, dass sich der pflichtergebene Kanzleramtschef Friedrich Bohl unter dem Tisch eine Nadel in den Schenkel rammte, um sich vor dem Einschlafen zu bewahren. Vorzeitige Absentierungen waren möglich, wurden aber als Unartigkeit beziehungsweise charakterliche Unzuverlässigkeit vermerkt.
Je länger ich Angela Merkel beobachte, desto mehr fühle ich mich an die Endphase der Amtszeit Kohl erinnert. Größere Zusammenkünfte in trauter Runde müssen Coronabedingt unterbleiben. Merkel neigt auch nicht zum ausufernden Vortrag, in der Hinsicht ist sie bis heute diszipliniert. Aber was den Blick auf sich selbst angeht, hat sie die gleiche Rührung erfasst, die Kohl heimsuchte. Man muss nur eines der Interviews lesen, die sie in den letzten Wochen gegeben hat, um eine Ahnung zu bekommen, wie dankbar sie sich ist.
Leider verbindet Kohl und Merkel auch der Attentismus der Spätphase. Nichts geht voran, alles misslingt. Aber irgendwie ist das auch egal. Gerade wurde die Ausgabe von Selbsttests ein weiteres Mal verschoben. Der brave Jens Spahn hatte den Start für den 1. März verkündet. Endlich mal ein Erfolg, dachte er. Dann pfiff ihn die Kanzlerin zurück. Jetzt soll es nächste Woche losgehen. Oder Ende März. Das dafür aber ganz sicher. Also vielleicht.
Ich habe Angela Merkel immer gegen die Kritiker verteidigt, die glauben, dass die CDU zur alten Größe zurückfände, wenn sie nur endlich die Veränderungen rückgängig machen würde, die Merkel der Partei zugemutet hat. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es besser wäre, die Bundeskanzlerin würde möglichst bald ihren verdienten Ruhestand antreten. Jeder Tag mit ihr an der Spitze ist für das Land ein verlorener Tag.
Auch bei Kohl zählten die Beobachter am Ende die Tage bis zum Schluss. Der Unterschied ist allerdings: Bei Kohl steckte das Land nicht in seiner schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Reformstau, der ihm zur Last gelegt wurde, war eine verschleppte Steuerreform. Was wären wir froh, wir hätten es nur mit einer Flaute im Steuerrecht zu tun. Der Merkel Stillstand kostet Menschen buchstäblich die Existenzgrundlage.
Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht in Rage schreibe. Zu viel Emotion ist als Kolumnist nicht bekömmlich. Ich schalte den Fernseher aus, wenn Angela Merkel auftaucht. Ich ertrage es einfach nicht mehr: die tantenhafte Selbstzufriedenheit, mit der jede Nachfrage weggebügelt wird, die Nachlässigkeit in der Wortwahl, die ein fundamentales Desinteresse an den Folgen der eigenen Politik verrät.
Wenn Angela Merkel in einem Nebensatz fallen lässt, dass man Schulen, Theater und Sportvereine öffnen werde „und eines Tages die Hotels“, ist das für Menschen, deren Existenz an so einem Hotel hängt, ein Satz, der sie um den Schlaf bringt. Eines Tages? Auf FOCUS Online kam eine Hotelbesitzerin zu Wort, die berichtete, dass sie von diesem Satz jetzt nachts träume.
Vielleicht gibt es eine Altersgrenze, die man als Regierungschef nicht überschreiten sollte. Möglicherweise stumpft einen der Job auch einfach ab. Kanzler können nicht jeden Tag in Tränen zerfließen. Wer Entscheidungen treffen muss, die tief in das Leben anderer Leute eingreifen, braucht eine gewisse Härte und auch innere Kälte. Aber man sollte als Kanzler zumindest zu erkennen geben können, dass man weiß, was man den Bürgern zumutet.
Mittlerweile nimmt die Untätigkeit groteske Züge an. Seit Wochen heißt es, der Inzidenzwert müsse stabil bei 35 liegen, weil alles an der Funktionstüchtigkeit der Gesundheitsämter hänge. Aber wenn es darum geht, die Gesundheitsämter in die Lage zu versetzen, ihrer Arbeit nachzugehen, fühlt sich niemand in der Regierung zuständig.
Die „Welt am Sonntag“ hat vorletzte Woche bei den Ämtern nachgefragt, wie viele die neue Software benutzen, damit es endlich bei der Kontaktverfolgung vorangeht. Antwort: 84 der insgesamt 375 Gesundheitsämter in Deutschland haben das Programm in Betrieb. Ein Drittel hat noch nicht einmal die notwendigen Verträge unterzeichnet.
Viele Behörden vertrauen lieber weiter auf das Papierverfahren, bei dem der Namen der Infizierten und ihrer Angehörigen auf 16 verschiedenen Formularen eingetragen werden muss. Ein Gesetz würde reichen, um diesen Irrsinn abzustellen. Aber niemand in Berlin kann sich dazu aufraffen, es auf den Weg zu bringen. Lieber wird der Stillstand verlängert.
Es gibt keine Idee, keinen Plan, wie es weitergehen soll. Um Fragen zu entgehen, schottet man sich ab. Mitte Februar waren die Vertreter von 40 Wirtschaftsverbänden in Berlin. Gerne hätten die Unternehmer ihre Kanzlerin gesprochen, um ihr zur schildern, wie die Welt außerhalb des Kanzleramts aussieht. Merkel fand leider keine Zeit für ein Treffen.
Statt ihrer musste der arme Peter Altmaier ran, von dem jeder weiß, dass er schon mit der Auszahlung der versprochenen Nothilfen überfordert ist. Der Mann gibt eine so traurige Figur ab, dass die nach Berlin gereisten Wirtschaftsvertreter jeden Rabbatz unterließen, aus Angst, der Minister würde unter dem Druck zusammenbrechen.
Es gibt auch eine bemerkenswerte Regression ins Nationale. Andere Länder sind entweder zu klein oder zu groß oder zu asiatisch, um sie mit Deutschland zu vergleichen. So sitzt die Kanzlerin in kleiner Runde und diskutiert statt Impfstrategien lieber hingebungsvoll Lockdown Szenarien. Soll man den Bürgern den Zugang zu Klobrillen und Kabelschneidern ermöglichen oder auch zu Büchern? Und was ist wichtiger für die Volkshygiene: Friseure oder Fußpfleger? Wenn es nicht so schrecklich wäre, man fände aus dem Lachen kaum heraus.
Mir ist unbegreiflich, dass über 60 Prozent der Deutschen in Umfragen immer noch Vertrauen in die Führungskraft der Regierung bekunden. Was ist mit den Menschen los? Muss man ihnen erst eine Fliegerbombe aufs Haus werfen, dass sie die viel gelobte Umsicht der Regierungschefin in Zweifel ziehen?
Andererseits: Einem Gutteil der Wähler geht es wie der Kanzlerin. Sie spüren von den verhängten Maßnahmen nicht viel. Wer älter als 60 Jahre ist, braucht keine Bars und Clubs. Er findet es im Gegenteil ganz angenehm, wenn das Leben ein wenig runtergedimmt ist. Das nimmt einem das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
Mit der Stilllegung der Innenstädte geht auch eine spürbare Reduktion des Geräuschpegels einher. Wer eine Vorstellung davon bekommen will, wie die grüne Idealstadt aussieht, der muss sich nur Berlin unter Corona Bedingungen ansehen. Mein Traum von Großstadt ist das nicht, aber ich komme ja auch nicht aus Baden-Württemberg oder der ostdeutschen Provinz.
Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen Helmut Kohl und Angela Merkel, das sollte nicht unerwähnt bleiben. Hinter Kohl waren in den Medien am Ende alle her. „Kohls Macht zerfällt“, „Wie lange noch?“, „Kohl kaputt“, lauteten typische „Spiegel“ Zeilen in den neunziger Jahren. An Angela Merkel traut sich kaum einer heran, auch der „Spiegel“ nicht.
Angeblich ist die Kanzlerin neulich einmal emotional geworden. Als ihr Manuela Schwesig vorhielt, sie würde nicht an die Kinder denken, soll sie geantwortet haben, sie lasse sich nicht anhängen, dass sie Kinder quäle. So rapportierten es jedenfalls die Zeitungen. Endlich einmal Merkel mit Herz! Man konnte förmlich den Seufzer der Erleichterung hören, der durch die Redaktionsstuben ging.