Früher wollten die Konservativen immer alles Mögliche weghaben: Schriftsteller, die zu frech waren, Künstler, die missfielen. Heute sind es die Linken, die Publikationsverbote verlangen. Aber psst, ja nicht ansprechen, sonst gibt’s Ärger!
Mit dem „Zeit“-Kolumnisten Harald Martenstein sprach ich vor einiger Zeit über die Veränderung des Meinungsklimas. Martenstein war mal ganz links, in seiner Studentenzeit gehörte er der DKP an. Die DKP war die einzige Partei in Deutschland, die von der Überlegenheit der DDR überzeugt war – das glaubten sie nicht mal in der SED. Dann ereignete sich bei ihm das, was der große amerikanische Konservative Irving Kristol den „Überfall durch die Realität“ genannt hat. Heute steht Martenstein irgendwo in der Mitte, so wie die meisten Deutschen.
Meist schreibt er über seinen Hund oder sein Kind oder über Alltagsphänomene wie den Pilz, der in seinem Landhaus wächst. Hin und wieder wendet er sich politischen Dingen zu. Ein wiederkehrendes Thema ist bei ihm die Gendersprache. Wie alle Menschen, die Literatur und Sprache lieben, leidet Martenstein, wenn die Schönheit der Ideologie weichen muss. Auch die Gleichberechtigung und der Kampf gegen Diskriminierung kommen bei ihm öfter vor. Martenstein neigt hier einem unsentimentalen Standpunkt zu, was möglicherweise mit seiner Vergangenheit zusammenhängt. Wer bei der DKP war, weiß, was es bedeutet, einer radikalen Minderheit anzugehören. Das erhöht die Mitleidsschwelle.
Wenn man sich politisch äußert, bleibt es nicht aus, dass sich Leser beschweren. Martenstein hat dabei eine interessante Beobachtung gemacht, wie er mir berichtete. Rechte Leser drohen ihm Prügel an, wenn sie sich sehr geärgert haben. Linke Leser wenden sich an die Chefredaktion und verlangen seine Absetzung. „Jeder droht im Rahmen seiner Möglichkeiten“, lautet seine Schlussfolgerung „Ein Rechter käme nie auf die Idee, dass seine Eingabe an die Chefredaktion Erfolg haben könnte, deshalb setzt er aufs Faustrecht.“
In den Feuilletons tobt gerade eine leidenschaftlich geführte Debatte über die sogenannte Cancel Culture, also den Versuch, die Meinungsräume von missliebigen Personen frei zu halten. Muss man sich um die Meinungsfreiheit Sorgen machen, wie 153 berühmte Intellektuelle in einem Aufruf behaupten, der Anfang Juli in einer Reihe großer Zeitungen abgedruckt wurde? Oder ist Cancel Culture in Wahrheit nur eine Erfindung rechter Kreise, um die Kritik an rassistischen, sexistischen und anderen fragwürdigen Positionen in ein schiefes Licht zu rücken, wie die Gegenseite vorträgt?
Ausgelöst wurde die aktuelle Diskussion durch die Entscheidung des Nochtspeichers, eines Veranstaltungsortes in Hamburg, die Kabarettistin Lisa Eckhart von einer Lesung auszuladen, weil man Störungen durch die linke Szene fürchtete. Wenn Sie noch nicht von Frau Eckhart gehört haben, grämen Sie sich nicht: Sie ist eine erschreckend dünne, oft furchtbar angestrengt wirkende junge Frau, die in sehr gewählten Worten möglichst schockierende Dinge sagt. Wie sich herausstellte, hatte es keine Drohungen gegeben, wie von den Veranstaltern behauptet, sondern irgendjemand im Nochtspeicher meinte aufgeschnappt zu haben, dass es Ärger geben könnte, wenn man Frau Eckhart auftreten lasse. Ein klassischer Fall von vorauseilendem Gehorsam.
Für alle, die sich immer schon darüber geärgert haben, dass ihnen der Ruf der Zensur-Ursel anhaftet, war das die Gelegenheit, Entwarnung zu geben. Seht her, hieß es, so sieht also eure Cancel Culture aus: Nichts damit linkem Gesinnungsterror, alles in Wirklichkeit übertrieben! Ich glaube, man nennt das ein Strohmann-Argument. Man bläst eine Lächerlichkeit so groß auf, dass man dann alles mit wegwischen kann, was nicht ganz so lächerlich ist.
Einige Namen der Cancel-Culture- Leugner kamen mir vertraut vor. Habe ich nicht zum Beispiel den Namen Margarete Stokowski unter einem Aufruf gelesen, in dem der Rowohlt-Verlag aufgefordert wurde, auf keinen Fall die Autobiografie von Woody Allen zu veröffentlichen? Wie kurz doch manchmal das Gedächtnis von Menschen ist.
Falls Sie sich auch nicht mehr daran erinnern: Im März warfen 15 Rowohlt-Autoren ihrem Verlag vor, mit der geplanten Publikation „unethisch“ zu handeln. Woody Allen habe sich nie „überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt“, sie als Kind missbraucht zu haben, deshalb sollte das Buch „keinen Platz in einem Verlag haben, für den wir gerne und mit großem Engagement schreiben“. Sich „überzeugend“ mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen, hieß in dem Fall vermutlich, dass der Regisseur hätte zugeben sollen, sich an seiner Tochter vergangen zu haben – trotz mehrerer entlastender Gutachten.
Seit 1945 ist es im deutschen Verlagswesen unüblich geworden, auf politischen Druck hin sein Programm anzupassen. Der Vorgang besaß also Novitätscharakter, worauf der Rowohlt-Verleger Florian Illies den 15 Autoren in seiner freundlichen Art klarmachte, dass Rowohlt kein House of Cancel Culture sei und auch nicht werden wolle. Der Hachette-Verlag in New York hingegen, bei dem die Originalausgabe der Autobiografie erscheinen sollte, hielt dem Druck aus den eigenen Reihen nicht stand und kündigte den Vertrag mit Allen.
Cancel Culture ist eine Machtdemonstration. Wenn man andere am Auftreten oder Veröffentlichen hindern kann, nutzt man das aus. Stößt man auf jemanden wie Illies, der sich widersetzt, wartet man die nächste Gelegenheit ab. Gleichzeitig will selbstverständlich niemand als Befürworter von Zensurmaßnahmen gelten. Ich kann das verstehen. Nazis wollen auch nicht Nazis genannt werden und Rassisten nicht Rassisten. Deshalb versuchen sich die Beteiligten bei Kritik, mit Witzchen aus der Affäre zu ziehen, indem sie Boykottaufrufe als „Storno“ bezeichnen oder mit dem Verzicht auf Roggenbrot beim Bäcker vergleichen.
Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat vor ein paar Monaten die Deutschen befragt, wie sie glauben, dass es um die Meinungsfreiheit bestellt sei. 78 Prozent der Befragten antworteten, dass man bei bestimmten Dingen vorsichtig sein müsse, was man in der Öffentlichkeit sage. Über die Umfrage wurde breit berichtet – in der Regel, um sie infrage zu stellen. Die Ergebnisse wurden entweder als unsinnig bezeichnet oder als gefährlich, weil sie rechte Ressentiments bedienten.
Ich glaube auch nicht, dass alle in Deutschland nur noch hinter vorgehaltener Hand offen sprechen. Tatsächlich scheint die Demokratie sogar gerade ziemlich lebendig. Meiner Meinung nach wurde die Umfrage falsch interpretiert: Sie zeigt nicht, was die Deutschen für sich selbst fürchten, sondern wie sich aus ihrer Sicht das allgemeine Meinungsklima entwickelt hat. Diesen Unterschied findet man auch in Umfragen zu den ökonomischen Aussichten: Menschen, die pessimistisch in die Zukunft schauen, schätzen ihre eigene finanzielle Situation oft überraschend gut ein. Wenn Leute lesen, dass man heute in der Kulturbranche seinen Job verlieren kann, wenn man sich mit einem AfD-Funktionär zum Mittagessen trifft, werden sie nachdenklich.
Wer will es ihnen verdenken? Aber vielleicht geht es ja genau darum: um den Erziehungseffekt. Hans Joachim Mendig hieß der Mann, der nach einem Essen mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen seinen Posten als Chef der hessischen Filmförderung verlor, weil 600 Kulturschaffende fanden, man dürfe sich mit jemand wie Herrn Meuthen nicht mal beim Italiener treffen. Unter den 600 waren mit Sicherheit auch viele Menschen, die Cancel Culture für eine Erfindung der Rechten halten.
Er könne sich nicht erinnern, sagt Martenstein, dass man in den 80er Jahren versucht hätte, Bücher oder Lesungen zu verhindern. Vielleicht war die damalige Generation von Linken toleranter. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass die andere Seite das Sagen hatte. Damals wollten die Konservativen immer alles Mögliche weghaben: die Jelinek, weil sie ihnen zu männerhassend war, den Schlingensief, weil er ihnen zu aufmüpfig erschien, den Achternbusch, weil er ihnen als Nestbeschmutzer galt. Was für eine Pointe, dass viele Linke sich heute so verhalten wie die Leute, die sie immer bekämpft haben.