Scientologen nehmen Blechdosen in die Hand, um zur Erlösung zu finden. Andere schreiben sich beim Opus Dei ein. Der moderne Heilssucher entdeckt den Rassisten in sich
Der Schriftsteller Friedemann Karig berichtet in der „Süddeutschen Zeitung“, wie er entdeckte, dass er ein Rassist ist. Er habe sich eigentlich nie viel Gedanken über Hautfarbe gemacht, schreibt er. Er hat sich in seinem Leben auch nie rassistisch geäußert. Der Bericht in der „SZ“ beginnt damit, wie er als 13-Jähriger dazwischengeht, als ein kurdischer Freund auf dem Fußballplatz von anderen Jugendlichen beleidigt wird.
Trotzdem entscheidet Karig, sich einem rassismuskritischen Training zu unterziehen. So wie man sich bei übertriebener Schüchternheit oder Konfliktscheuheit professionelle Hilfe holen kann, so kann man sich inzwischen auch gegen Rassismus coachen lassen. Es wird nie ganz klar, warum Karig so ein Training für nötig hält. Vielleicht spürte er, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Vielleicht wollte er es auch einfach genau wissen, um anschließend sagen zu können, dass bei ihm alles okay sei. Jeder Coachingkurs endet in der Regel damit, dass man eine Bescheinigung über den erfolgreichen Abschluss erhält. Eine Art Anti-Rassismus-Bescheinigung, das ist natürlich sehr praktisch angesichts der aktuellen Diskussion.
Karig verbringt Stunden in Videotelefonaten, in denen er lernt, „den Blick auf sich selbst zu richten“, wie die Anti-Rassismus-Beraterin das nennt. Die Trainerin fragt ihn, wann ihm sein Weißsein zum ersten Mal bewusst geworden sei. Ob er schon einmal gespürt habe, dass er als Weißer Privilegien genieße. Hat er die Privilegien vielleicht sogar ausgenutzt? Seinen Durchbruch erzielt Karig, als er der Trainerin erzählt, wie er bei der Suche nach einem Nachmieter für eine Wohnung einmal jemanden auswählte, der so aussah wie er selbst. „In mir bäumt sich etwas auf. Ich will mich wehren. Ich bin kein Rassist“, schreibt er. „Dann merke ich: Sie hat recht.“ Psychologen wird diese Szene bekannt vorkommen.
Der Therapeut spricht in so einem Fall von Blockade: Je größer der Widerstand gegen einen unangenehmen Gedanken, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man sich wehrt, weil man die Wahrheit nicht sehen will. Die Abwehr ist der Beweis, dass der Therapeut mit seiner Vermutung recht hat – eine Logik, aus der es kein Entrinnen gibt. Sagt man Ja, stimmt man ihm zu; sagt man Nein, ebenfalls.
Die Technik ist nicht ganz neu. Im Prinzip funktionieren alle religiösen Verbindungen so. „Die sogenannte Sekte oder Psychogruppe verspricht, die Welt beziehungsweise den Einzelnen erlösen zu können“, heißt es in einem Leitfaden des Bayerischen Familienministeriums zur Frage, woran man Sekten erkennt. „Um den entscheidenden ‚Durchbruch‘ zur ‚eigentlichen‘ Persönlichkeit zu erreichen, müssen durch wesentliche Verhaltens- und Einstellungsänderungen angebliche Blockaden im Gehirn beseitigt werden.“ Gäbe es noch die berühmte Sektenbeauftragte Ursula Caberta, dann wäre das Anti-Rassismus-Training eindeutig ein Fall für sie. Scientologen nehmen Blechdosen in die Hand, um ihre inneren Widerstände zu überwinden. Manche schreiben sich beim Opus Dei ein, wo eine Welt der freudvollen Leiden auf sie wartet. Der moderne Heilssucher entdeckt den Rassisten in sich.
Die Anti-Rassismus-Diskussion ist auf der Ebene der Teufelsaustreibung angekommen. Darauf zielte sie im Grunde schon immer. Der zentrale Begriff ist Schuld, darum dreht sich all es. Wer weiß ist, muss sich schuldig fühlen, weil am Weißsein Privilegien und Macht hängen. Und Privilegien, das weiß jeder gute Linke, muss man bekämpfen, weil sie uns von Menschen trennen, die schwächer sind. „Check your Privilege“, lautet der Satz, mit dem man zur Einkehr gemahnt wird. „Bereue!“, hieß das früher, „beichte deine Sünden!“ Gemeint ist das Gleiche.
Wo der Ernst der Religion beginnt, da wächst das Komische auch, das ist hier nicht anders. Die Komik liegt in diesem Fall darin, dass akademisch geprägte Menschen, die man umstandslos zur kulturellen Elite zählen kann, anderen Menschen, die zu den eher prekär Beschäftigten gehören, erklären, warum sie in Wahrheit die Privilegierten im Land seien. Ich weiß nicht, wie viele Gabelstaplerfahrer oder Lidl-Verkäuferinnen sich privilegiert fühlen. Nicht so wahnsinnig viele, denke ich. Ich würde allen, die das anders sehen, empfehlen, einen Test zu machen. „Hey, du hinter der Ladenkasse: Check your Privilege!“ Im besten Fall erntet man mit so einem Satz Unverständnis, im wahrscheinlichsten wird einem der Vogel gezeigt, wäre meine Vermutung.
Ich habe dafür keine Erklärung, aber es gibt bei manchen Menschen ganz offensichtlich ein tiefes Bedürfnis, sich schuldig zu fühlen. Während die meisten froh sind, wenn sie einigermaßen unbelastet von Selbstvorwürfen durch den Alltag kommen, üben Schuldgefühle auf einige eine geradezu magische Wirkung aus. Entweder leben sie falsch, oder sie essen falsch, oder sie haben die falschen Freunde oder überhaupt die falsche Einstellung. Die Erlösungshoffnung richtet sich entsprechend der jeweiligen Mode an einen spirituellen Führer, der Rettung verspricht – den Priester, den Yogi, den vegan Er leuchteten, jetzt eben an die Anti-Rassismus-Beraterin.
Unnötig zu sagen, dass diese Form der Selbsterforschung oft mit einem gewissen sozialen Status einhergeht. Wer den ganzen Tag im kapitalistischen Hamsterrad sitzt, dem fehlt schlicht eine entscheidende Ressource für die Seelenprüfung, und das ist Zeit. Deshalb gedeiht das Bußritual auch besonders gut im Kloster oder artverwandten Einrichtungen wie Schule und Universität, wo Zeit im Überfluss vorhanden ist.
Es gibt historische Vorbilder. Im 13. Jahrhundert verbreitete sich von Perugia ausgehend die Geißlerbewegung in Europa. Die Flagellanten zogen in Prozessionen von Ort zu Ort, sangen Hymnen und peitschten sich selbst, um sich ihrer Sünden zu entledigen. Bevorzugtes Instrument der Selbstbestrafung war eine Geißel, deren Riemen mit Knoten oder eisernen Spitzen versehen waren. Papst Clemens VI. ließ die Umzüge Mitte des 14. Jahrhunderts verbieten, womit die Bewegung allerdings nicht erlosch, sondern sich ins Private verlagerte. Jetzt traf man sich mit Gleichgesinnten eben zu Hause, um der gerechten Welt näher zu rücken. Die Anstrengungen reichen nie aus, das ist die Tragik des Glaubenssuchers. Mit allem kann man es übertreiben, nur mit der Bußfertigkeit nicht. Immer gibt es jemanden, der noch häufiger in die Kirche geht und noch gewissenhafter seine Seele nach dunklen Flecken erforscht.
Einmal im Jahr vergibt die feministische Plattform „Edition F“ zusammen mit dem „Handelsblatt“ und „Zeit Online“ den „25 Frauen Award“ an 25 weibliche Vorbilder. Dieses Jahr hatten die Veranstalter großen Wert auf eine möglichst breit gefächerte Auswahl gelegt, die allen Anforderungen an Vielfalt und Inklusion Rechnung tragen sollte.
Wenige Wochen vor Vergabe des Preises erklärten sieben der Nominierten, ihren Namen zurückzuziehen. Ihnen sei aufgefallen, wie wenig divers die Auswahl der schwarzen Frauen sei, schrieben sie. Alle schwarzen Frauen, die nominiert worden seien, hätten eine vergleichsweise hellere Haut, das befördere den strukturellen Rassismus. Deshalb hätten sie sich entschieden, Platz zu machen für Frauen mit einem dunkleren Hautton, erklärten die sieben, allesamt selbst People of Color. Unnötig zu sagen, dass die Veranstalter die Preisvergabe darauf für alle Nominierten absagten und gelobten, beim nächsten Mal noch inklusiver zu denken.
So ist das mit Sekten. Wer sich auf ihre Gedankenwelt einlässt, ist auch mit dabei, wenn die Abzweigung ins Fundamentalistische genommen wird. Mit einem Appell an die Vernunft oder gutem Zureden ist hier nichts mehr auszurichten. Dass sich darauf kein politisches Programm begründen lässt, versteht sich von selbst. Es ist das Wesen der Sekte, dass sie ein Verband von Auserwählten ist und damit exklusiv. Das kann man bei der Anti-Rassismus-Bewegung für ein Glück oder für eine Tragödie halten. Über ihre Sympathisanten in den Medien wird sie so in jedem Fall nicht hinauskommen.