Ihr Erkennungszeichen ist eine mit den Fingern geformte Raute, ihre Anführerin eine Frau, die sagt, dass sie alles immer schon vorausgesehen habe. Sie dachten, Scientology sei verrückt? Sie kennen die Anhänger des Merkel-Kults nicht
Es ist von einem neuen Kult zu berichten. Die Anführerin ist eine 71 Jahre alte Frau mit einem Faible für bonbonfarbene Jacken und einer Frisur, die so aussieht, als ob jemand die Haare mit Beton in Fassung gebracht hätte.
Wer nicht weiß, wen er vor sich hat, könnte sie für die Leiterin eines Pflegeheims oder die Vorsitzende des örtlichen Kirchenvorstands halten. Aber das hieße, ihre Bedeutung sträflich zu verkennen. Wenn die Frau mit ruhiger Stimme davon spricht, wie sie alles schon immer vorhergesehen habe, das Schicksal Deutschlands und den Lauf der Welt, entzündet sie in den Augen ihrer Zuhörer ein Leuchten.
Noch ist die Zahl der Anhänger überschaubar. Aber sie sind einflussreich, einige verfügen über beträchtliches Vermögen, und nichts kann ihren Glauben erschüttern. Ihr Erkennungszeichen ist eine mit den Daumen und den Zeigefingern geformte Raute. Die Zentrale des neuen Kults befindet sich an der Hamburger Ericusspitze, einem modernen Glasbau nahe der Speicherstadt, wo die „Spiegel“-Redaktion ihren Sitz hat. „Der Merkel-Kult – warum die Altkanzlerin auf einmal gefeiert wird“, lautet die in rotem Rahmen erschienene Bekenntnisschrift, die dieser Tage in einer Auflage von 650.000 Exemplaren unters Volk gebracht wurde.
Man sieht die Anführerin selten in der Öffentlichkeit. Meist lebt sie zurückgezogen in Berlin hinter dicken Mauern und Scheiben aus Panzerglas, rund um die Uhr bewacht von Sicherheitskräften. Aber hin und wieder zeigt sie sich ihren Anhängern. Dann sitzt sie in einem Sessel auf einer abgedunkelten Bühne und liest aus ihren Schriften, die wie alle heiligen Bücher für Außenstehende von bestürzender Langeweile sind, für die nach Erleuchtung Strebenden aber ein Quell der Offenbarung. Manchmal beantwortet sie auch Fragen. Dann lösen selbst Sätze, die scheinbar banal sind, im Publikum spontan Juchzer und begeistertes Klatschen aus.
Ich habe in meiner journalistischen Karriere über viele Kulte berichtet. Ich habe über die Zeugen Jehovas geschrieben und über die Mun-Sekte. Ich habe Sexsüchtige in Hannover und Autonome in Berlin interviewt. Eine meiner aufwendigsten Recherchen führte mich in die bizarre Welt von Scientology. Der Merkel-Kult ist mit Abstand das Abgefahrenste, was mir begegnet ist. Menschen, die Erlösung von einer Frau erwarten, die ihrem Land nachweislich so geschadet hat wie keiner ihrer Vorgänger? Dagegen ist selbst Scientology grundvernünftig.
Die meisten in Deutschland sehen klar, wohin uns Angela Merkel geführt hat. Aber mit Gegenargumenten sind die Menschen, die sie verehren, nicht zu erreichen. Jede Kritik an ihrer spirituellen Führerin nehmen sie als Beleg, dass sie etwas wissen, was die anderen nur noch nicht erkannt haben.
Als Kanzlerin ist Angela Merkel 16 Jahre lang auf Verschleiß gefahren. Wenn sich ein Problem auftat, nahm sie einfach die große Subventionskanne in die Hand und schüttete das Problem mit Steuergeld zu. Oder sie tat so, als ob das Problem nicht existiere.
Deutschland ist ein reiches Land. Der Wohlstand ist so groß, dass man auch 16 Jahre von der Substanz leben kann. Aber irgendwann ist selbst in einem so reichen Land wie Deutschland die Substanz aufgezehrt. Dann zeigen sich die Folgen.
Nicht einmal auf die Post ist mehr Verlass. Ich spreche aus Erfahrung als Postkunde. Irgendwann im Sommer kamen bei uns in der Straße keine Briefe mehr an. Ich lebe nicht auf einer Insel im Wald, sondern in einem Vorort von München, also einer Gegend, die gemeinhin noch nicht dem globalen Süden zugeschlagen wird.
Ich rief die Servicenummer an, die ich im Netz fand. Zwei Wochen später lag plötzlich ein großer Schwung Post im Briefkasten. Manches fehlte, aber immerhin. Dann versiegte der Briefstrom wieder. Wer braucht noch Briefe, wenn man alles per Mail erledigen kann, lässt sich einwenden, klar. Dummerweise vertrauen nach wie vor eine Reihe von Behörden auf die Post, vom Finanzamt angefangen. Auch das Rezept für das Kind oder die Rechnung der Wasserwerke kommt immer noch per Brief.
Sogar Italien hat uns abgehängt. Mit leichtem Schaudern blicken die Nachbarn auf der anderen Seite der Alpen auf uns. „Das ist also aus den Deutschen geworden“, sagen sie.
Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als es andersherum war. Eine meiner erfolgreichsten Kolumnen hatte den Kapitän der „Costa Concordia“ zum Helden. Das war der Unglücksvogel, der sein Schiff auf Grund setzte, weil er seine Passagiere mit einem schneidigen Wendemanöver beeindrucken wollte. Ich nahm das Unglück zum Anlass, mich über den Italiener als „Bella Figura“-Mann der großen Gesten und sprechenden Finger lustig zu machen, was mir erst einen bösen Brief des italienischen Botschafters und dann die Verwünschungen der gesamten Berlusconi-Presse eintrug.
Heute würde mir das nicht mehr einfallen. Nicht weil ich geläutert wäre. Sondern weil jeder Gag eine Verankerung in der Realität braucht. Worüber sollte ich mich jetzt lustig machen? Dass die Italiener mit Giorgia Meloni eine Regierungschefin haben, gegen die Friedrich Merz wie ein bemitleidenswerter Amateur wirkt? Dass die Züge in Italien pünktlich verkehren und man an sieben Tagen der Woche bedient wird? Selbst auf die italienische Post ist inzwischen mehr Verlass als auf die deutsche. Die Postkarte, die wir in Sizilien einwarfen, war nach vier Tagen in Deutschland. Danach ging es dann leider nicht mehr weiter.
Die „Welt“ hat neulich einen Astrophysiker porträtiert, der vor neun Jahren aus Indien nach Deutschland kam, um hier zu promovieren. Damals erschien ihm Deutschland als ein Land der unendlichen Möglichkeiten. Mittlerweile lebt Mayukh Panja, wie der Wissenschaftler heißt, in Berlin und kann kaum fassen, wie man in so kurzer Zeit so auf den Hund kommen kann.
Ende Oktober setzte er auf X einen Tweet ab, der seine Beobachtung zusammenfasste. Der Tweet wurde 3,6 Millionen angezeigt und 45.000 Mal gelikt. „Ich hatte innerhalb von neun Jahren die unglaubliche Gelegenheit, mitzuerleben, wie ein Land der Ersten Welt, das kurz davor stand, eine Supermacht zu werden, sich durch eine Reihe politischer Entscheidungen systematisch selbst zerstörte“, schrieb er. „Es ist verrückt, wie der Narzissmus einiger weniger ein ganzes Land herunterwirtschaften kann. In gewisser Weise tun mir die fleißigen, ehrgeizigen Deutschen leid, die hart daran gearbeitet haben, das Land aufzubauen, und nun mit ansehen müssen, wie es von einer Bande selbstgerechter Idioten ruiniert wird.“
Ich bin immer wieder erstaunt, mit welcher Engelsgeduld die Deutschen den Niedergang ertragen. Es ist ja nicht so, dass sie einen Steuererlass bekämen. Rückerstattung wegen erwiesenermaßen schlechter Leistung – dann könnte man über das eine oder andere hinwegsehen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Je weniger funktioniert, desto höher fallen die Abgaben aus.
Vielleicht muss man den Merkel-Kult als Menetekel sehen. In Zeiten der Düsternis gedeihen Kulte am besten. Krisenzeiten sind Sektenzeiten. Wer weiß, möglicherweise ziehen schon morgen wieder die ersten Flagellanten übers Land. Dann kommen die Kinderkreuzzüge. Wenn sich die Himmel verdunkeln und die Wasser steigen, ist der Tag der Herrin nicht mehr fern, zu richten die Lebenden und die Klimatoten. So steht es geschrieben.

© Sören Kunz
