Schlagwort: Deutschland

Mit dem Dealer auf Du und Du

Wäre Deutschland wie Kreuzberg, wären wir verloren. Warum, um Gottes Willen, hat man sich sogar nach Meinung der „FAZ“ als Politiker unmöglich gemacht, wenn man das laut sagt?

 Friedrich Merz hat gesagt, Kreuzberg sei nicht Deutschland. Riesenaufregung im besorgten Teil der Republik. Mein langjähriger Ressortleiter beim „Spiegel“ Stefan Kuzmany hat eine Philippika verfasst, warum sich Merz damit endgültig unmöglich gemacht habe.

Merz betreibe das Geschäft der Ausgrenzung, so ein Mann dürfe nie Kanzler werden! Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal über einen Politiker empört habe. Aber sicher nicht, weil er sich im Bierzelt wohler fühlt als in der „Spiegel“-Redaktion. Das war ja der Nachsatz bei Merz: „Gillamoos ist Deutschland“. Die Rede fand in Bayern statt.

Selbst die „Frankfurter Allgemeine“ schäumte. Merz fantasiere sich ein Deutschland herbei, das es so gar nicht gebe. Ein Deutschland ohne Kriminalität, kleine Paschas, Graffiti an den Fassaden, Shisha-Bars, dafür mit Fachwerkatmosphäre und ausschließlichem Verzehr von einheimischen Gerichten.

Merz hatte zwar kein Wort über Paschas, Graffiti und Shisha-Bars verloren. Wenn ich mir seinen Lebenszuschnitt anschaue, bezweifle ich auch, dass er ein Fan des Fachwerkhauses ist. Das alles fand ausschließlich im Kopf des „FAZ“-Autors statt. Der Text war auch nicht von einem der jungen Rücksichtsvollen verfasst, die inzwischen sogar die „Frankfurter Allgemeine“ bevölkern, sondern einem der Herausgeber, dem Feuilletonchef Jürgen Kaube.

Wenn Männer in gesetztem Alter nach links steuern, gibt es nach meiner Erfahrung zwei Erklärungen: Sie wollen sich qua journalistischem Draufgängertum ihrer Jugendlichkeit versichern. Oder sie haben eine deutlich jüngere Frau kennengelernt, der sie imponieren müssen.

Keine Ahnung, was bei Kaube zutrifft. Ich will ihm um Gottes willen nicht zu nahe treten. Vermutlich ist er seit Langem in erster Ehe glücklich verheiratet und hat noch nie einen Gedanken aufs Alter verschwendet. Ich habe nur beim Blick auf Wikipedia gesehen, dass er mein Jahrgang ist, was mir zu oben stehender Spekulation Anlass gab.

Treue Leser meiner Kolumne wissen, dass mich Zweifel plagen, was den Parteichef der CDU angeht. Das beginnt schon damit, dass ich sofort wegschalten muss, wenn ich ihn im Fernsehen reden höre. Bei meiner Frau stellen sich die Nackenhaare auf, wenn jemand mit dem Messer über den Teller kratzt. Bei mir haben Merz-Interviews diesen Effekt. Ich kann die Mischung aus Besserwisserei und unterdrücktem Beleidigtsein, die jeden seiner Auftritte durchzieht, nur schwer ertragen.

Dennoch halte ich die Aufregung für gaga. Kreuzberg ist nicht Deutschland? Na gottlob nicht, würde ich sagen. Die Aussichten sind ohnehin düster. Die EU-Kommission hat gerade festgestellt, dass Deutschland beim Wachstum das Schlusslicht in Europa ist. Alle legen zu, nur wir werden ärmer. Wenn Deutschland wie Kreuzberg wäre, könnten wir komplett einpacken.

Ich habe mal eine Kolumne geschrieben, die hieß: „Berlin, das Venezuela Deutschlands“. Das war als Gag gemeint. Dann musste ich feststellen, wie seherisch die Überschrift war. Sie müssen in Berlin keinen Hunger leiden. Aber sobald man auf den Staat angewiesen ist, und sei es nur, um ein Auto oder eine Wohnung anzumelden, ist es vorbei. Da ist es sogar in Südamerika besser. Da kann man wenigstens mit ein paar Scheinen nachhelfen, um die Sache zu befördern.

Wenn Berlin Venezuela ist, dann ist Kreuzberg unser Caracas. Das Epizentrum der organisierten Verantwortungslosigkeit, das schwarze Loch staatlichen Handelns.

Das perfekte Beispiel für das Versagen ist das Ringen um den Görlitzer Park. Der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner hat vergangene Woche zu einem Krisengipfel geladen, weil die Dinge selbst für Berliner Verhältnisse außer Kontrolle geraten sind.

Die Bürgermeisterin von Kreuzberg hatte allerdings bei einer Pressekonferenz vorsorglich deutlich gemacht, was alles nicht geht: also keine nächtliche Schließung, nicht mehr Polizei, auf keinen Fall Zäune oder Videoüberwachung. Selbst der Vorschlag, die Büsche zu beschneiden, damit die Dealer ihre Drogen nicht mehr so leicht verstecken können, scheint einigen im Rathaus irgendwie suspekt.

Man will schließlich niemanden ausschließen, auch nicht den Dealer. „Keine Gruppe soll ausgeschlossen werden“, gab die frühere Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann vor Jahren die Linie vor, der man sich in Kreuzberg bis heute verpflichtet fühlt. „Heute ist es die Dealergruppe, die rausgeschickt wird. Was ist morgen? Wer darf morgen nicht in den Park rein? Und wer darf übermorgen nicht in den Park rein? Und wer bestimmt das eigentlich.“ So läuft das: Ein unfreundliches Wort zum Dealer und schon landet man beim Gillamoos.

Ein Vorwurf an Merz lautete, dass sein Satz fremdenfeindlich gewesen sei, weil in Kreuzberg auch ganz viele Migranten leben würden. Es stimmt, ein Drittel der Einwohner kommt von außerhalb. Deshalb funktioniert das Viertel ja auch halbwegs. Wäre Kreuzberg auf die linken Hipster angewiesen, die erst um 11 Uhr aus dem Bett finden, gäbe es nicht mal den berühmten Latte macchiato. Ich fürchte allerdings, wenn man die Migranten fragen würde, für wen sie eher stimmen würden, für Friedrich Merz oder Monika Herrmann, dann fiele das Votum ziemlich eindeutig aus.

Sprechen wir für einen Moment vom normalen Deutschland. Ich weiß, „normal“ ist auch so ein Begriff, der mit Vorsicht zu genießen ist. Anderseits kommt nicht einmal der hipste Hipster umhin anzuerkennen, dass viele Deutsche anders leben, anders sprechen und anders denken als er. Wäre es anders, würde ja seine ganze linke Hipsterexistenz keinen Sinn ergeben.

Das normale Deutschland sind Orte wie Tuttlingen oder Oggersheim, jene als Provinz verspottete Welt, in der man zum Muttertag noch Blumen schenkt, Gendern für eine exotische Sportart hält und nichts Verwerfliches an Gardinen und Häkeldeckchen findet. In dieser Welt sagt übrigens auch niemand: Patchwork, das habe ich mir für meine Beziehung immer gewünscht.

Die Überraschung ist jedes Mal wieder groß, wenn sich das normale Deutschland zu Wort meldet. Im März waren die Berliner zur Klimawahl aufgerufen. Wochenlang war die ganze Stadt voller Plakate: Berlin klimaneutral bis 2030. Großes Konzert am Wahlwochenende am Brandenburger Tor mit allen Musikbands des guten Herzens. Es gab nicht einmal eine Gegenkampagne. Und was passierte dann? Dann wurde selbst das Mindestquorum von 25 Prozent der Wahlberechtigten verfehlt.

Die Randbezirke seien schuld, hieß es anschließend zur Erklärung. „Randbezirke“ ist der deutsche Bible Belt. Da, wo die Minderbemittelten leben, die ihr Herz noch an Autos, Grillfleisch und Schnittblumen hängen.

Die alten Linken verstanden noch etwas von Dialektik, also der Fähigkeit, in Gegensätzen zu denken. Ich habe kürzlich eine Geschichte über die beiden Erfinder des Partykrachers „Layla“ gelesen. Der eine ist Lagerist, der andere Elektriker. Das Geheimnis eines guten Partyhits sei ganz einfach, erklärten die Zwei: Eine eingängige Melodie und einen Text, den man auch mit zwei Promille noch mitsingen kann. Dass es Layla zum Protestsong des Jahres gebracht hat, hat allerdings auch die zwei jungen Männer aus Stuttgart überrascht.

Das Lied ist auf jeder Kirmes der Renner. Beim Oktoberfest wird es mit Sicherheit ganz oben auf der Wunschliste stehen. Ihren Riesenerfolg verdanken die Erfinder nicht ihrem umwerfenden Talent, sondern der Mithilfe der Grünen. Hätten sie sich in einer Reihe von Städten nicht in den Kopf gesetzt, die Aufführung des Songs zu untersagen, hätte „Layla“ vermutlich nie diese Popularität erreicht.

Ich mag mich täuschen, aber ich habe den Eindruck, dass abseits des „Spiegel“ und des Feuilletons der „FAZ“ ein Umdenken begonnen hat. Bei der SPD gibt es an verantwortlicher Stelle wieder Leute, die sich fragen, ob es wirklich so schlau ist, jeden Unsinn mitzumachen, den man bei den Jusos oder der Grünen Jugend ersinnt. Dass man froh sein kann, dass Deutschland nicht Kreuzberg ist, ist ein Satz, den sie auch in vielen SPD-Ortsvereinen unterschreiben können.

© Sören Kunz

Die Verachtung des Spießers

Durch Deutschland geht ein Riss: Hier das progressive Deutschland, in dem man zur Not sogar auf Papa und Mama verzichtet. Dort das „Arschloch-Deutschland“, in dem man nicht einsehen will, was an traditionellen Werten falsch ist. Wer wohl gewinnt?

 Wie sah das Dritte Reich 1940 aus? Unter anderem so: weiblich, sportlich, ordentlich gekleidet im Blau der Polizei. Und selbstverständlich hat man sich vor allem Sorgen gemacht, ob die Menschen noch so reden können, wie sie denken. Denn das weiß ja jedes Kind: Das größte Thema der Nazis war der Kampf gegen das Gendern.

Okay, ich habe mir zugegebenermaßen eine der dämlichsten Reaktionen zum Auftritt der Olympiasiegerin Claudia Pechstein auf dem Konvent der CDU herausgesucht. Diese stammt von Aurel Mertz, einem der komödiantischen Nachwuchstalente des ZDF: „Mir gerade angeschaut, wie eine Polizeibeamtin unter tosendem Applaus der CDU-Führung ein Deutschland-1940-Mindset schlecht abliest. Die CDU labert sich so hart Richtung AfD unter Merz.“ Geschichte ist erkennbar nicht die Stärke des jungen Mannes, aber für eine Karriere beim Jugendprogramm Funk reicht es trotzdem.

Was hat Claudia Pechstein gesagt? Dass sie sich wünschte, die CDU würde sich weiter für die traditionelle Familie einsetzen. Dass Kinder sich wünschen, dass sie Mama und Papa haben, und dass es Wichtigeres gebe, als den Genderstern korrekt auszusprechen oder das Zigeunerschnitzel zu verbieten.

Wohlgemerkt: Claudia Pechstein war bei der CDU zu Gast, nicht bei den Grünen. Sie hat also vor Leuten gesprochen, die gefragt nach ihrer Vorstellung vom Glück nicht sagen: „Ja, Patchwork, das ist genau das, wovon ich träume.“ Aber das ist natürlich keine Entschuldigung!

Außerdem hat Frau Pechstein, die heute bei der Bundespolizei ihren Dienst tut, Uniform getragen. Schlimmer Verstoß gegen die Neutralitätspflicht von Beamten! Komischerweise gilt die Neutralitätspflicht nie beim Hissen von Regenbogenflaggen oder anderen Bekundungen einer progressiven Gesinnung. Im SPD-Land Rheinland-Pfalz machen sie sogar in Uniform Wahlkampf für die Ministerpräsidentin.

Wäre ich Spötter, würde ich hinzufügen: Immer noch besser, im Blau der Polizei aufzutreten, als zu leicht bekleidet. Erinnert sich noch jemand, wie Heiner Geißler auf dem Parteitag 1979 Revuetänzerinnen auf die Bühne schickte? Das kann bei Friedrich Merz nicht passieren.

Manchmal denke ich, es läuft ein großes Experiment, wie man die Leute so aufbringt, dass sie die Partei mit dem größten Empörungsfaktor wählen, um es mal allen zu zeigen. Nach Lage der Dinge ist das die AfD. Wenn man dem hellen Deutschland einen Schlag versetzen will, sagt man bei Umfragen einfach, dass man sich gut vorstellen könne, für die hellblaue Truppe zu stimmen.

Ich bin politisch gefestigt. Eher würde ich mir den Arm abhacken lassen, als mein Kreuz bei der AfD zu machen. Wer einen Mann wie den Joseph-Goebbels-Spätimitator Björn Höcke wählt, ist aus meiner Sicht politisch nicht ganz zurechnungsfähig. Aber gar nicht so wenigen Leuten ist es egal, ob einer jeden Abend im Keller noch einmal die Panzerschlacht von Kursk gewinnt – Haupt-sache, er steht für Provokation. Wenn man den Wählern außerdem den ganzen Tag sagt, dass das, was sie bisher für normal hielten, in Wahrheit rechtes Gedankengut sei, dann sagen sie sich irgendwann: Dann bin ich eben ein Rechter, dann kann ich die auch wählen. Da gilt der Nietzsche-Satz: „Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.“

Haben die Leute, die Claudia Pechstein für eine Rassistin halten, eine Vorstellung, wie es im normalen Deutschland aussieht, also in dem Teil, der nicht auf gewachster Altbaudiele in durchgrünter Innenstadtlage mit Lastenfahrrad vor der Tür lebt? Ich war über Pfingsten auf Mallorca. Am Strand kommt man nicht umhin, sich Gedanken über Normalität zu machen, das fängt beim Körperschmuck an und hört bei Ernährungsgewohnheiten nicht auf.

Die CDU überlegt, wie sie den Anschluss an dieses Durchschnittsdeutschland behalten kann. Auch deshalb war die fünfmalige Olympiasiegerin eingeladen. Im Adenauer-Haus hat man noch eine Ahnung davon, dass jemand wie Pechstein tausendmal mehr das normale Deutschland verkörpert als jeder grüne Bundestagsabgeordnete. Die SPD hat den Versuch aufgegeben, den Kontakt zu halten, deshalb liegen die Sozialdemokraten auch nur noch bei 18 Prozent. Bei den Grünen ist man seit jeher stolz darauf, nichts mit der Spießerwelt zu tun zu haben. So sagt man es nicht, aber so denkt man.

Spießerverachtung hat in Deutschland Tradition. Für jede gesellschaftliche Gruppe finden sich Fürsprecher, selbst der Faulenzer kann noch mit einer Verteidigung rechnen. Nur auf den Kleinbürger sehen sie sowohl von unten als auch von oben herab.

Es ließe sich viel Gutes über den Spießer sagen, seine Arbeitsethik, die Umsicht und Gewissenhaftigkeit, mit der er für ein sozial stabiles Umfeld sorgt. Nur Spießer gehen regelmäßig zum Blutspenden, sammeln Altkleider und sind bei der freiwilligen Feuerwehr. Was wäre der deutsche Sozialstaat ohne die spießige Steuerehrlichkeit? Oder Greenpeace ohne sein Herz für Delfine und Wale?

Es nützt nichts: Seine Beharrlichkeit wird ihm als Pedanterie ausgelegt, seine Sparsamkeit als Geiz. Zur Abwertung des Milieus kommt die seiner Gedankenwelt. Sein Alltag wird durchgängig als banal und sinnentleert beschrieben, das Gefühlsleben als schal und abgestanden, seine politischen Überzeugungen als gefährlich.

Friedrich Merz hat sich in seiner Rede bei dem CDU-Konvent mehrfach auf Helmut Kohl bezogen. Er wird wissen, warum er das tat. Denn auch das ist wahr: Normalität kommt von Mehrheit.

Kein Politiker wurde so verspottet wie Kohl. Er war die Birne, der Tor, das Trampel – ein Mann ohne jedes wirkliche Format, beachtlich nur wegen seiner Körpergröße. Über alles wurde sich lustig gemacht: die Liebe für einfache Hausmannskost, die dialektale Färbung der Sprache, in der noch Worte wie Heimat, Volk und Vaterland vorkamen, die Betonung des familiären Lebens, die in aufreizendem Gegensatz zur persönlichen Lebensgestaltung stand.

Was all die neunmalklugen Journalisten allerdings übersahen, war, dass sich ganz viele Leute im Spott über den Mann aus der Pfalz mitverspottet fühlten. Und so begab es sich, dass Kohl einfach weiter neben seinem Aquarium und der Münzsammlung im Bonner Kanzleramt saß und sich durch die Welt telefonierte, bis niemand im Land sich mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte.

Tatsächlich war Kohl ein sehr gebildeter Mann. In der Bundestagsbibliothek stand er auf der Ausleihliste ganz oben, es gab kaum eine Buchmesse, die er ausließ. Seine Berater haben ihn angefleht, doch auch diese Seite zu zeigen, um das Feuilleton milde zu stimmen.

Aber erst sah Kohl keinen Vorteil, sich den fortschrittlichen Kreisen zu empfehlen, dann wollte er nicht mehr. Also wurde auf Parteitagen weiter die Hammondorgel angeschmissen und zur Demonstration eine Extraportion Saumagen verzehrt, obwohl der Kanzler in Wahrheit Pasta bevorzugte. Er wusste genau, dass das, was seine Verächter zur Raserei trieb, die Anhänger an ihn band.

Das wahre Vergehen von Claudia Pechstein ist, dass sie so schrecklich durchschnittlich ist. „Claudia Pechstein ist Deutschland pur“, merkte der Dramatiker Juri Sternburg in der „taz“ nach Durchsicht ihres Instagram-Kanals an und listete dann penibel die Verfehlungen auf: Videos von Helene-Fischer-Konzerten, Fotos von Radausflügen, Werbung für ein Nackenkissen. „Nichts unterscheidet sie vom Grillfest in sächsischen Schrebergärten, von der Strandbar auf Sylt oder einem Volkswagen 6-Zylinder VR6. Deutschland, einig Arschloch-Land.“

Besser kann man es nicht sagen. Wie dumm nur, dass es mehr Helene-Fischer-Fans als Sternburg-Fans gibt.

© Sören Kunz

Im deutschen Wolkenkuckucksheim

Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie ihre Wirtschaft retten können. Nur in Deutschland gilt: Hauptsache, klimaneutral! Wenn schon Untergang, dann auf jeden Fall sauber

Am 14. März 2020 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Warnung. „Achtung Fake News!“, hieß es darin. „Es wird behauptet und rasch verbreitet, die Bundesregierung würde bald weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt nicht! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Als gutwilliger Bürger fragte man sich, wie man dem Appell Folge leisten sollte. Wie stoppt man die Verbreitung von Fake News? Indem man das Gegenteil in Umlauf bringt? Auch das hilft ja leider nicht gegen Falschnachrichten, weil man erst einmal sagen muss, wogegen man ist, um es dann richtigzustellen.

Zum Glück hatte sich das Problem schon zwei Tage später erledigt. Da beschlossen Bund und Länder genau die Einschränkungen, die das Gesundheitsministerium gerade ausgeschlossen hatte.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Lockdown. Als ich mich auf einer Parkbank im Englischen Garten niederlassen wollte, um ein Buch zu lesen, traten zwei Polizisten auf mich zu, weil das Niederlassen auf einer Bank zu Lesezwecken nun als Ordnungswidrigkeit galt. Vermutlich hält man im Bundesgesundheitsministerium den Aufenthalt im Freien ohnehin für überbewertet.

Ich musste an die Warnung aus dem ersten Corona-Jahr denken, als ich vergangene Woche folgenden Anti-Fake-News-Tweet aus dem Bundeswirtschaftsministerium sah:

„Wir haben eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit und eine hohe Versorgungssicherheit. Trotzdem kursieren unter #Blackout, #Stromausfall oder #Lastabwurf Behauptungen im Netz, die unbegründet Panik verbreiten.“ Es folgte eine ausführliche Begründung, weshalb Stromausfälle in Deutschland so gut wie ausgeschlossen seien.

Wir werden sehen, wie lange diese beruhigende Nachricht hält. In jedem Fall würde ich dazu raten, sich doch mit anderen Dienststellen abzustimmen, um unnötige Irritationen zu vermeiden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenalarm zum Beispiel rief erst vor zwei Wochen zum Anlegen eines zehntägigen Vorrats für den Fall von Stromausfällen auf („Bei der Zusammenstellung Ihres Notvorrats kommt es auch auf eine durchdachte Planung an“).

Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck einmal seine grüne Parteivorsitzende zur Seite nehmen würde, damit sie in ARD-Interviews nicht weiter den Lastabwurf empfiehlt und so „unbegründet Panik verbreitet“, wie es in der Mitteilung aus seinem Hause heißt.

Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenreich. Einerseits kommt uns mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung gerade die Grundlage unserer Volkswirtschaft abhanden. Andererseits tut die Regierung so, als ob alles so weiterlaufen könnte, wie im Koalitionsvertrag vereinbart und niedergelegt.

Natürlich gilt weiter das Aus für die Kohle. Vor wenigen Tagen hat Robert Habeck mit RWE eine Vereinbarung geschlossen, wonach der Kohleausstieg nicht aufgeschoben, sondern im Gegenteil um acht Jahre vorgezogen wird – von 2038 auf 2030. Selbstverständlich wird auch am Atomausstieg festgehalten. Und ich bin sicher, wenn man die Verantwortlichen fragen würde, wie es mit dem Plan aussieht, zwei Dutzend neue Gaskraftwerke zu bauen, als Brückentechnologie auf dem Weg in die erneuerbare Zukunft, lautet die Auskunft: alles nach Plan.

Wie soll man das nennen? Deutscher Sonderweg? Kosmisches Gottvertrauen? Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Wirtschaft nicht koppheister geht – nur in Berlin zimmern sie fröhlich weiter am Wolkenkuckucksheim. Es ist faszinierend, aber auch etwas beängstigend.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Energiekrise lautet, kurz gefasst: jetzt erst recht. Also nun erst recht den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren und den Abschied aus dem fossilen Zeitalter vorantreiben. Man kennt das aus Managementseminaren, wo der Motivationstrainer Leuten, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hat, rät, sie sollten die Krise als Chance begreifen. Als Zuschauer sagt man sich da: Arme Teufel, in deren Haut möchte man auch nicht stecken. Leider sind wir in dem Fall alle Teilnehmer des großen Managementexperiments.

©Michael Szyszka

Schon die jetzigen Pläne sind völlig unrealistisch. Der „FAZ“-Redakteur Morten Freidel hat sich neulich die Mühe gemacht, einmal nachzurechnen. Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die Regierung jeden Tag vier große oder acht kleine Windräder bauen, und das über die nächsten zehn Jahre. Selbst wenn man auf alle Genehmigungsverfahren von heute auf morgen verzichten würde: Dafür gibt es weder das Material noch die Monteure – von den Kosten gar nicht zu reden.

Und im Jahre 2045, wenn alles ausgestanden ist, weil Deutschland dann endlich klimaneutral ist, wie es die Befürworter erhoffen, ginge es wieder von vorne los. Auch ein Windrad hält nicht ewig. Nach 20 Jahren muss es ersetzt werden. Was bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Volkswirtschaft konstant damit beschäftigt wäre, für den Wind zu sorgen, der das Land am Laufen halten soll.

Ohne ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit wird es nicht gehen, jedenfalls wenn wir Industrienation bleiben wollen. Und die sollte nicht zu lange auf sich warten lassen. Die 200 Milliarden für den Gaspreisdeckel reichen bis Ende kommenden Jahres. Aber dann steht wieder ein Winter vor der Tür. Und danach noch einer. Und dann noch einer.

Wir sind ein reiches Land, das ist die gute Nachricht. Wir sind sogar ein energiereiches Land. Wir verfügen über Gasvorkommen, die uns für 20 Jahre von den Launen des Energiemarktes unabhängig machen könnten. Dummerweise ziehen wir es vor, über diesen Reichtum nicht einmal zu reden. Das meiste Gas liegt in Niedersachsen. Wie man lesen konnte, hat keine Partei im Wahlkampf die Gasvorkommen auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch das ist eine Strategie: Umgehung der Realität durch kollektives Beschweigen. Darin haben wir in Deutschland eine gewisse Übung.

Glaubt man den grünen Strategen, ist klar, wer am Wahlerfolg der AfD schuld ist: die CDU, weil ihr Parteivorsitzender vor der Einwanderung in unser Sozialsytem gewarnt hat. Das macht das Leben im Wolkenkuckucksheim so angenehm: Man kann sich immer die Erklärung heraussuchen, die einem am besten passt. Auf den Demonstrationen spielt die Einwanderung hingegen kaum eine Rolle, dort geht es vor allem um Inflation und Energiepreise.

Die Lösung der AfD lautet: Nord Stream 2 aufmachen. Ich bin absolut dagegen. Ich hielte es für einen Riesenfehler, dem Terroristen im Kreml zu signalisieren, dass er machen kann, was er will, solange er uns nur wieder Gas liefert. Aber wenn man gegen Gas aus Russland ist, sollte man eine Alternative nennen können. Die Alternative kann nicht sein, darauf zu hoffen, dass uns die wundersame Umwandlung von Strom in Wasserstoff von allen Beschwernissen erlösen wird.

60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie derzeit keiner Partei zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen, vor denen das Land steht. Ein Rekordwert. Ich weiß, in der Regierung halten sie die Leute für zu blöd, die Weisheit der Energiewende zu erkennen. Aber die Leute sind nicht alle blöd. Sie ahnen: Alles abschalten ist auf Dauer auch keine Lösung.

Der Internationale Währungsfonds hat Mitte der Woche seine Prognose für das kommende Jahr veröffentlicht. Bei keinem Land sieht die Vorhersage so düster aus wie bei Deutschland. Doch bei einem: Russland, da ist es noch schlimmer. Das ist allerdings auch der einzige Trost.

Wäre ich Zyniker, würde ich sagen: Hauptsache, wir halten unsere Klimaziele ein. Wenn schon Untergang, dann wenigstens sauber.

 

Diskriminierte dieser Welt, meldet euch!

40 Beauftragte sind inzwischen auf Geheiß der Bundesregierung damit beschäftigt, Deutschland zu einem inklusiveren und besseren Land zu machen. Kein Wunder, dass immer neue Formen der Benachteiligung entdeckt werden

Helmut Thoma, das Trivialgenie des deutschen Fernsehens, der Mann, der den Deutschen „Tutti Frutti“ und „Der heiße Stuhl“ brachte, war bei ServusTV. Die Sendung, in der er auftrat, heißt „Links. Rechts. Mitte“, eine Talkshow, in der auch Gäste eingeladen sind, die bei „Anne Will“ nicht mal in den Zuschauerraum kämen.

Ich war Anfang des Jahres da. Damals ging es um Corona. Jetzt war das Thema der Vormarsch der Ukraine.

Wie es lief? Sagen wir so: Gegen Thoma ist Gerhard Schröder ein schüchterner Chorknabe.

Dialog, Minute 39 und folgende:

Thoma: „Was hat denn Putin bitte getan? Können’s das bitte sagen?“

Moderatorin, leicht konsterniert: „Er ist einmarschiert am 24. Februar. Er hat ein Land überfallen.“

Thoma: „Ja und? Die Amerikaner hätten einen Atomkrieg in Kuba begonnen, die saßen schon mit der Hand am Knopf da.“

Ich dachte, Johannes Varwick sei verrückt, der Politikprofessor, der vom Bundeskanzler fordert, er müsse die Ukraine zum Aufgeben zwingen. Dass der nächste Angriffskrieg von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ausgeht, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Aber es gibt stets noch höhere Grade der Verrücktheit.

Ich habe Thoma einmal getroffen, da war er der Zirkusdirektor bei RTL. Die Mischung aus heiterer Gerissenheit, Wiener Schmäh und erwartungsfroher Provokationslust hat mich sofort begeistert. Von Thoma stammen unsterbliche Weisheiten wie der Satz, dass, wer Bratwürste anbiete oder genehmige, dass Bratwürste angeboten werden dürfen, sich nicht beklagen könne, dass sie Fett enthalten.

Damit ist er zum erfolgreichsten Medienmenschen geworden, den Österreich jemals hervorgebracht hat. Sozusagen der Mozart des Privatfernsehens. Oder soll man sagen: der Dr. Mabuse? Wie auch immer, irgendetwas Schreckliches muss mit ihm passiert sein, seit er sich vor Jahren auf das Sammeln von Aufsichtsratsmandaten verlegte. Manche Menschen entdecken mit fortschreitendem Alter ihre Liebe zur Entomologie, andere finden zur Diktatoren-Verehrung.

Anderseits: Auch die Verrückten und Marginalisierten brauchen eine Stimme. Wo kämen wir hin, wenn nur grundvernünftige Leute im Fernsehen säßen? Todlangweilig wär’s. Und unfair obendrein. Ich ertrage aus diesem Grund sogar Sascha Lobo mit seinem Irokesen, der inzwischen so aussieht, als ob ein Marder mit ins Bett eingezogen ist.

Wenn Lobo die tote Queen herabwürdigt, weil sie ihm nicht feministisch genug war und zu wenig antirassistisch obendrein, denke ich: Sei’s drum, auch diese Position musste vertreten werden. Solange die Kombattanten in Talkshows nicht mit Marschflugkörpern aufeinander zielen, ist das Schlimmste, was passieren kann, eine Kritik aus der Feder einer Einfaltsmeise auf „Zeit Online“ oder bei der „FR“.

Wer weiß, vielleicht gibt es bald sogar eine Quote für Leute wie Thoma und Lobo. Die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, hat laut darüber nachgedacht, das Antidiskriminierungsgesetz um neue Tatbestände zu ergänzen. Warum bei Geschlecht, sexueller Präferenz oder Religionszugehörigkeit stehen bleiben? Weshalb nicht auch regionale Herkunft oder Familienstand zu den Kriterien zählen, bei denen die Beauftragte tätig werden muss?

Das Gesetz habe große Lücken, sagte Ataman in einem Interview. Ostdeutsche zum Beispiel kämen seltener in Führungspositionen und seien einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Auch viele Eltern erführen in Deutschland Diskriminierung. „Wir haben eine Studie dazu gemacht. Darin gaben 40 Prozent der Eltern an, dass sie am Arbeitsplatz diskriminiert werden, zum Beispiel, weil sie früher nach Hause müssen, um ihr Kind zu betreuen. Solche Schutzlücken möchten wir schließen.“

Das ist ein löblicher Ansatz. Auf die eine oder andere Weise sind wir doch alle diskriminiert. Wer nicht zu schwarz oder zu migrantisch oder zu kinderreich ist, der ist eben zu weiß oder zu männlich oder ganz grundsätzlich zu privilegiert. Abwertung ist nicht auf Minderheiten beschränkt. Auch als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft kann man Beleidigung und Stigmatisierung erfahren.

©Michael Szyszka

Ich gehöre der Altersgruppe der sogenannten Boomer an. Glauben Sie nicht, dass dies nur einfach wäre. Im „Spiegel“ musste sich meine Generation von einer Autorin aus der Schweiz (ausgerechnet!) vorhalten lassen, wir hätten die falsche Musik, die falsche Kleidung und die falsche Einstellung sowieso. Der Text war mit einem Foto von Kai Pflaume in Hoodie und Sneakern bebildert.

Zum Glück bin ich ein Mann. Schlimmer noch als Abwertung ist die totale Nichtbeachtung. Die Boomer-Frau ist nicht mal wert, dass man sich über sie lustig macht. Sie kommt einfach nicht vor, nicht einmal als Feindbild.

Auch in Texten fortschrittlicher Autor:innen gleitet der Blick über Frauen ab 50 achtlos hinweg. Ich weiß nicht mehr, welche Kollegin es war, die in der MeToo-Debatte einwarf, die jungen Anklägerinnen, die hinter jedem Kommentar eine Beleidigung witterten, sollten einmal in das Alter kommen, wo man sich danach sehne, dass einem jemand auf der Straße hinterherpfeife.

Die Sache mit der gesetzlichen Anerkennung ist natürlich nicht ganz billig. Von selbst passiert da nichts, deshalb braucht es Leute wie Ataman. Oder den Beauftragten für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Oder die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus. Oder den Beauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland.

40 Beauftragte sind inzwischen auf Geheiß der Bundesregierung damit beschäftigt, Deutschland zu einem inklusiveren und besseren Land zu machen. Ich bin sicher, wenn man die Zahl zur 500000-Euro-Frage bei „Wer wird Millionär?“ machen würde, die Kandidaten wären heillos aufgeschmissen. Darauf kommt auf Anhieb kein Mensch.

Alles hat allerdings seinen Preis, auch die Opferinflation. Wenn jeder ein Opfer der Verhältnisse ist, sinkt der Wert der einzelnen Leidensgeschichte. Es entsteht auch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit.

Der „Spiegel“-Redakteur René Pfister hat über eine Studie berichtet, die der Bundestag in Auftrag gegeben hatte, um herauszufinden, wie rassistisch die Deutschen sind. Das Ergebnis war ermutigend. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, in den vergangenen fünf Jahren einer rassistischen Aussage widersprochen zu haben. Jeder dritte sagte, er würde an einer Demonstration gegen Rassismus teilnehmen, fast jeder zehnte hatte es bereits getan.

Ein weltoffenes und tolerantes Land, in dem die überwältigende Mehrheit der Bürger (90 Prozent) der Meinung ist, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe: So stellt sich die Bundesrepublik im Lichte der Rassismusforschung dar.

Aber so konnte es das Institut, das die Studie durchgeführt hatte, das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, nicht stehen lassen. Die Autoren beklagten stattdessen, dass bei der Hälfte der Bevölkerung „Reflexe der Abwehr und eine damit einhergehende Bagatellisierung von Rassismus“ zu beobachten seien.

Wie sie zu diesem Befund kamen? Sie hatten den Befragten unter anderem folgende Aussage vorgelegt: „Es ist absurd, dass einem Rassismus unterstellt wird, wenn man lediglich fragt, wo jemand herkommt.“ 63,4 Prozent stimmten dem zu, darunter auch viele derjenigen, die jederzeit gegen Unrecht auf die Straße gehen würden.

So ist das, wenn man überall Diskriminierung wittert: Dann ist es bereits Rassismus, wenn sich jemand für die Lebensgeschichte seiner Mitmenschen interessiert. Sie sehen, es bleibt noch viel zu tun.