Schlagwort: Gelbhaar

Albtraum ohne Ende

Der Fall des grünen Abgeordneten Stefan Gelbhaar gilt als Super-GAU der MeToo-Berichterstattung: Die wichtigsten Belastungszeuginnen waren ausgedacht. Aber die Verfolger lassen nicht los. Der Sturz reicht ihnen nicht

Am Freitag vergangener Woche hat der Politiker Stefan Gelbhaar wieder einmal recht bekommen. Das Landgericht Hamburg verurteilte eine Parteifreundin, sich nicht länger zu seinen Nachteilen zu äußern. Sie habe den Eindruck erweckt, er habe ihr nachgestellt, befand das Gericht. Tatsächlich jedoch sei die Kommunikation alles andere als einseitig verlaufen.

Stefan Gelbhaar ist der Mann, der aus einem langen Albtraum erwachte, um dann festzustellen, dass es nach dem Aufwachen nicht besser wird. Im Dezember vergangenen Jahres waren plötzlich Anschuldigungen aufgetaucht, er habe sich mehreren Frauen gegenüber unangemessen verhalten.

Erst waren es nur vage Andeutungen, aber da Gelbhaar Mitglied bei den Grünen ist, reichte das seinen Parteifreunden, um den Stab über ihn zu brechen. Dann stieg der RBB ein und zeichnete das Bild eines Mannes, dem man als Frau besser aus dem Weg geht, weil er sich nicht im Griff hat. Seine Beteuerungen, die Vorwürfe gegen ihn entbehrten jeder Grundlage, wurden mit einem müden Achselzucken quittiert.

Wie sich herausstellte, waren die vermeintlichen Übergriffe frei erfunden. Die Hauptbelastungszeugin, eine „Anne K.“, existierte nur in der Fantasie der Frau, die den Stein ins Rollen brachte. Auch zwei weitere Zeuginnen, auf die sich der RBB berief, gab es allein auf dem Papier. Man sollte meinen, das reiche, um jemanden zu rehabilitieren. Oder, wenn sich das mit dem parteiinternen Ethos nicht verträgt, ihn künftig zumindest in Ruhe zu lassen.

Aber die Verfolger lassen nicht los. Dass Gelbhaar seinen Job als Bundestagsabgeordneter verloren hat und in der Politik nach menschlichem Ermessen nie wieder ein Bein auf den Boden bekommen wird? Egal. Dass seine Lebensgefährtin monatelang davon ausgehen musste, ihr Partner hintergehe sie? Dass die Kinder in der Schule zu hören bekamen, ihr Vater sei ein Grapscher und Frauenfeind? Das alles ist nicht genug.

Es muss bewiesen werden, dass irgendwie doch was dran war. Deshalb finden sich in den Medien immer neue Vorwürfe, vieles wieder anonym und damit nur schwer nachprüfbar.

Einmal soll Gelbhaar eine Parteikollegin bei einem Spiel an die Hüfte gefasst und zurück in den Kreis der Teilnehmer gezogen haben. Eine Frau berichtet, dass er sie gefragt habe, ob sie mit ihm ein „Kaltgetränk“ trinken wolle. Als sie ein Foto von sich in Top und Unterhose auf ihrem Bett postete, habe Gelbhaar mit der Frage reagiert: „Na, viel Rückmeldung bekommen? :)“ Auch der ausgiebige Gebrauch von Emojis steht zur Debatte.

Von „grenzverletzendem Verhalten“ ist die Rede. Grenzverletzungen, so führt ein Jurist in einem Artikel in der „Süddeutschen“ aus, beschreibe kein strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern eine „durch die Personen selbst als solche empfundene Überschreitung des persönlichen Wohlbefindens“. Das Strafrecht kennt aus gutem Grund keine Verstöße, die allein in die subjektive Einschätzung der Betroffenen fallen. Sich unwohl fühlen ist eine Kategorie, nach der nahezu jede Äußerung außerhalb des streng Sachlichen als potenziell übergriffig gelten kann.

Ende Februar hat Gelbhaar sein Büro im Bundestag geräumt, auch seinen Aufsichtsratsposten bei der Deutschen Bahn ist er los. Aber es nützt nichts. So leicht will man ihn nicht davonkommen lassen.

Bei der Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht erschien die Parteifreundin, die sich bereitwillig den Medien
zur Verfügung gestellt hatte, nicht allein. Drei Frauen aus der grünen Parteiprominenz hatten den Weg nach Hamburg auf sich genommen, um ihre Solidarität zu zeigen: Bettina Jarasch, Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Nina Stahr, Berliner Landeschefin, die frühere Bundesfrauenministerin Lisa Paus.

Dass der Ehemann von Frau Jarasch beim RBB arbeitet, also dem Sender, dessen Berichterstattung über Gelbhaar als journalistischer Super-GAU gilt, würde ihr in jeder anderen Partei Nachfragen wegen Befangenheit eintragen. In der grünen Welt ist so etwas normal.

Auf „Spiegel Online“ erschien ein ausführlicher Text, der keinen Zweifel daran ließ, wer aus Sicht der Redaktion Opfer und wer Täter war. „Klara Schedlich steht auf dem Flur im Landgericht Hamburg, sie lächelt unsicher“, lautete gleich der erste Satz. „Sie wirkt nicht darauf vorbereitet, was sie hier erwartet.“

Was ist eine verlorene Ehre wert? Das ist die Frage, die die Gerichte in der nächsten Runde beschäftigen wird. Gelbhaar hat den RBB auf 1,7 Millionen Euro verklagt – Schmerzensgeld plus das, was über vier Jahre an Abgeordnetendiäten zusammengekommen wäre, hätte man ihm nicht sein Direktmandat genommen.

Wenn die „Bild“-Zeitung danebenliegt, sind sich alle einig. Bei eigenen Fehlernist man erstaunlich schmallippig

Bei sogenannten sexuellen Übergriffen zeigt sich ein Muster. So vorsichtig sie sonst sein können, so schnell sind Medien mit Beschuldigungen zur Hand, wenn es um Belästigungsvorwürfe geht. Dann geben auch sogenannte Qualitätsmedien ihrem Jagdeifer nach und werfen alle Bedenken über Bord. Im Zweifel für die Frauen, lautet das Motto.

Die juristische Aufarbeitung der MeToo-Berichterstattung erweist sich für die beteiligten Verlage mehr und mehr als Desaster. Von den strafrechtlich relevanten Vorwürfen gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann ist so gut wie nichts übrig geblieben. Die Beschuldigung, er habe weibliche Fans durch K.-o.-Tropfen gefügig gemacht, hat sich vor Gericht ebenso aufgelöst wie der Vorwurf, er habe sich junge Mädchen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zuführen lassen.

Auch der Fall des Moderators Luke Mockridge, dem der „Spiegel“ trotz Einstellung eines Ermittlungsverfahrens noch einmal den Vergewaltigungsprozess machte, entwickelte sich immer mehr zum Drama – in dem Fall für den „Spiegel“. Nach einem anderthalb Jahre währenden Rechtsstreit untersagte das Hanseatische Oberlandesgericht die Verbreitung wesentlicher Teile des ursprünglichen Artikels.

Hat das Fehlverhalten Konsequenzen? Der Chefredakteur des RBB wurde mit einem Posten als „Hauptabteilungsleiter Programmressourcen“ versorgt – viel höher kann man nicht fallen. Die im Fall Mockridge federführende „Spiegel“-Redakteurin versucht jetzt halt, andere Männer des Missbrauchs zu überführen.

Wenn die „Bild“-Zeitung danebenliegt, sind sich alle einig. Als neulich eine Berliner Polizistin fälschlicherweise als gewalttätige Transfrau durch das Blatt gezerrt wurde, war das für die Konkurrenz ein gefundenes Fressen. Bei eigenen Fehlern ist man erstaunlich schmallippig. Dann zieht man sich auf den Standpunkt zurück, noch sei ja juristisch nicht abschließend entschieden. Im Zweifel gilt das Urteil, das die eigene Berichterstattung konterkariert, als Ausdruck patriarchaler Justiz.

Die Frauen fühlten sich alleingelassen, heißt es jetzt im Fall Gelbhaar. Gemeint sind die Frauen, die sich bei der Ombudsstelle der Grünen gemeldet haben, um grenzverletzendes Verhalten zu Protokoll zu geben. Das ist eine eigenartige Formulierung. Was soll das bedeuten: „alleingelassen“? Finden sie, dass ihr Parteikollege noch nicht ausreichend bestraft wurde? Wünschen sie sich, dass er noch einmal öffentlich hingehängt wird? Oder wollen sie einfach, dass ihnen zugehört wird, wie schlecht sie sich gefühlt haben?

Die Pforte zur Hölle

Was lehrt der Fall Stefan Gelbhaar? Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen: Von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie vielleicht besser fernhalten

In Umfragen geben 13 Prozent der Deutschen an, sie würden für die Grünen stimmen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Weitere zwölf Prozent sagen, dass sie sich eine Wahl der Grünen grundsätzlich vorstellen könnten.

Was macht die Grünen für Wähler attraktiv? Der Einsatz für den Klimaschutz? Sicher. Der Kampf für Gleichberechtigung und Minderheitenrechte? Auch das. Aber das eigentliche Versprechen ist ein anderes. Dass es in der Gesellschaft menschlich zugehe, dass nicht Neid und Missgunst regieren, sondern Anstand und Ehrlichkeit, das ist das wahre Angebot.

So steht es auch auf den Plakaten. Wo die anderen mehr Rente oder günstigere Mieten in Aussicht stellen, prangt bei den Grünen einfach das Wort „Zusammen“. „Ein Mensch. Ein Wort“, das ist der Satz, mit dem Robert Habeck und Annalena Baerbock für sich werben.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind 48 Jahre alt, mit zwei Kindern, seit sieben Jahren sitzen Sie im Deutschen Bundestag. Wenige Tage vor der für Sie entscheidenden Abstimmung, in der über den Listenplatz für die nächste Bundestagswahl befunden wird, tauchen Gerüchte auf, Sie hätten sich Frauen in ungebührlicher Weise genährt.

Es gibt nichts Fassbares, keine Namen oder konkrete Angaben, nur allgemeine, dazu anonyme Anschuldigungen. Aber das reicht, um Ihnen den Rücktritt nahezulegen. Sie müssten zurückziehen, werden Sie aus der Spitze der Partei bedrängt, dazu gäbe es keine Alternative.

Sie sind wie vom Donner gerührt, sie können sich auf alles keinen Reim machen. Dann steigt das Fernsehen ein. Und die Anschuldigungen werden immer wilder. Es heißt, sie hätten sich eine Frau gefügig gemacht, indem sie diese mit K.-o.-Tropfen betäubt hätten. Einer anderen Frau sollen Sie gegen ihren Willen an den Busen gefasst, einer weiteren einen Kuss aufgezwungen haben. Woher die Journalisten die Informationen haben? Sie können nur raten. Bis eben galten Sie als einer der Stars Ihrer Partei, Sie haben eines der wenigen Direktmandate gewonnen. Aber binnen weniger Tage bricht alles zusammen.

Wohin Sie sich auch wenden: Niemand ist bereit, sich für Sie zu verwenden. Die Bundestagsfraktion umfasst 117 Abgeordnete, jeder kennt jeden. Aber auch hier regt sich keine Hand zu Ihrem Schutz. Es gibt allenfalls ein verlegen genuscheltes Wort des Bedauerns, das ist es.

Sie bitten darum, dass man Ihnen die Chance einräumt, sich zu verteidigen. Aber das wird Ihnen verwehrt. Genauere Angaben, was Ihnen vorgeworfen wird? Das sei leider aus Rücksicht auf die Opfer nicht möglich. Sie ziehen einen Anwalt bei und strengen eine Strafanzeige wegen Verleumdung an. Aber es nützt nichts. Am Ende nimmt man ihnen auch noch das Direktmandat.

Eigentlich ist längst entschieden, dass Sie wieder für Ihren Wahlkreis antreten werden. Aber Ihre Gegner setzen eine Wiederholung der Abstimmung an. Die Gegenkandidatin erklärt, sie wolle, dass die Partei auch für Frauen sicher sei. Es klingt, als seien Sie ein gefährlicher Triebtäter, den man unschädlich machen müsse. Sie haben keine Chance.

Ein Mensch, ein Wort? Der Mann, der seinen Ruf und sein Amt verlor, heißt Stefan Gelbhaar. Seit ein paar Tagen kennt ihn die halbe Republik. Denn das alles war erfunden: die Geschichten über den erzwungenen Beischlaf, die aufgedrängten Küsse, der Griff an den Busen. Die wichtigste Belastungszeugin hat es nie gegeben, sie ist die Erfindung einer Parteikollegin. Die Frau, die sich das alles ausgedacht hat: eine Bezirkspolitikerin vom linken Flügel der Partei, gut vernetzt, wie es heißt.

Gibt es einen vergleichbaren Fall in der deutschen Parteiengeschichte? Ich kann mich an keinen erinnern. Dass man in der Politik mit Gerüchten und Unterstellungen arbeitet, um Konkurrenten zu Fall zu bringen, das hat es immer wieder gegeben. Aber eine Verleumdung, die eine Karriere zerstört, ohne dass jemand aus der Parteispitze auch nur eine Nachfrage stellt: Das ist einmalig. Auch einmalig beängstigend.

Viel war in den vergangenen Tagen von den eidesstattlichen Erklärungen die Rede, die vorgelegen hätten, so wollte man den Vorwürfen Glaubwürdigkeit verleihen. „Wer eine falsche stattliche Erklärung abgibt, macht sich strafbar“, hieß es in der ersten Stellungnahme der grünen Parteispitze – so steht es auch auf der Webseite des RBB, der die Anschuldigungen in Umlauf brachte.

Auch das gehört zum Mummenschanz, mit dem Gelbhaar zur Strecke gebracht wurde. Bei Journalisten abgegebene Versicherungen an Eides statt kennt das Strafrecht nicht, sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Wie eine Nachfrage des „Tagesspiegel“ ans Licht brachte, hat der RBB sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Identitäten der angeblichen Zeugen zu prüfen. Eine eidesstattliche Versicherung ohne Geburtsdatum und ladefähige Adresse: Das gibt es nur in der Berliner Welt.

Muss man noch erwähnen, dass die personellen Verflechtungen der Redaktion mit der grünen Partei außergewöhnlich eng sind? Man kennt sich, man schätzt sich. Der heutige Wahlkampfmanager der Grünen, Andreas Audretsch, der den Machtkampf gegen Gelbhaar für sich entschied: ein ehemaliger RBB-Redakteur. Der Ehemann der Berliner Spitzenkandidatin für die Bürgermeisterwahl Bettina Jarasch: war unter anderem Leiter der Abteilung „Aktuelle Magazine“.

Es ist nicht ganz klar, was der Ombudsstelle der Grünen vorlag, als sie den Stab über Gelbhaar brach. Waren es die Vorhaltungen, die dann auch beim RBB landeten und die, wie man jetzt weiß, größtenteils auf falschen Vorwürfen beruhten? Lagen ihr weitere Aussagen vor? Und wenn ja, waren diese ebenfalls anonym oder hat sich jemand im Bundesvorstand mal die Mühe gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen? Dem Beschuldigten gegenüber wurde die Partei nie konkret, über Andeutungen ging es nie hinaus.

Dem „Business Insider“ gegenüber hat Gelbhaar geschildert, wie ihm die Situation zugesetzt hat. Wie er nächtelang wach lag und darüber grübelte, was vorgefallen sein könnte. Wie er sich mit Beruhigungsmitteln runterzubringen versuchte. „Das Ganze zieht enorm Kraft, es macht einen fertig. Man weiß, da ist nichts dran, aber man sucht trotzdem nach einer Erklärung. Wo kann was so krass missverstanden worden sein, das ist ein zielloses Selbstgespräch. Es zermürbt einen.“

Und nun? Nun will es keiner gewesen sein. Die Schuld trägt aus Sicht der Partei allein der RBB und die bis eben noch für ihre „intersektionale, feministische Perspektive“ geschätzte Bezirkspolitikerin, die den Stein ins Rollen brachte.

Der grüne Kanzlerkandidat zog es zunächst vor, sich gar nicht zu äußern. Wäre man Spötter, würde man sagen, er brauchte halt Zeit, seine Gedanken zu sortieren, um zu überprüfen, wer er ist und was wir sein können. Die Außenministerin erklärte, als Außenministerin könne sie zu dem Fall gar nichts sagen, es gebe gerade andere Herausforderungen weltweit.

Das Tor zur Hölle hat sich nicht durch Zufall geöffnet. Der Verzicht auf die Unschuldsvermutung ist bei den Grünen kein Versehen, es ist für sie Ausdruck von Fortschrittlichkeit. Die Parteispitze hat sich ausdrücklich von dem Prinzip verabschiedet, Anschuldigungen zu überprüfen, bevor man aus ihnen Konsequenzen zieht. „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“, erklärt die Ombudsstelle, bei der alle Verfahren landen, ihr Selbstverständnis.

Und daran soll sich auch nichts ändern. Eine feministische Partei könne sich keine Unschuldsvermutung leisten, erklärte die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, in Verteidigung der Parteilinie. Die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber die Grünen seien kein Gericht, sondern eine politische Organisation. Widerspruch vom grünen Kanzlerkandidaten? Keiner, jedenfalls keiner, den man vernehmen konnte. Lassen Sie es uns vielleicht so sagen: Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen – von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie besser fern halten.

© Sören Kunz