Regression zur Mitte nennen Psychologen die Tendenz, nach einem Schock in die alten Muster zurückzufallen. Das gilt nicht nur für Individuen, wie sich zeigt, sondern auch für Parteien und ganze Nationen
Ich war bei den Weinbauern im Ahrtal. Der Winzerverband hatte mich zu seiner Jahresversammlung eingeladen. Ich sollte ein paar aufmunternde Worte zur politischen Lage sagen. Meine Spezialität: auch dem Schrecken noch etwas Heiteres abgewinnen.
Ich kann nur jedem, der an Deutschland verzweifelt, einen Besuch an der Ahr empfehlen. Es ist beeindruckend, was Heimatliebe, Solidarität und Durchhaltewillen bewerkstelligen können. Man sieht noch überall die Spuren der Verwüstung. Aber die Aufbauarbeiten sind erstaunlich weit fortgeschritten.
Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gefunden hätte, nach der Katastrophe wieder von vorn anzufangen. Das Wasser stand acht Meter hoch. Beim Mittagessen berichtete mir meine Sitznachbarin, dass bei ihr im ersten Stock plötzlich ein Auto im Fenster steckte. Andere hatten den Öltank des Nachbarn im Garten. Was sich flussaufwärts befand, hatte sich durch das Wasser auf den Weg gemacht.
Am schlimmsten sei der Gestank gewesen, erzählten die Winzer. Als sich das Wasser endlich verzog, blieb eine ölige Brühe stehen, die alles verseuchte, was sie erfasste. Bis heute ist das Erdgeschoss in vielen Häusern unbewohnbar, weil das Öl in die Wände zog.
Man sollte annehmen, dass die Behörden das ihre tun, das Leben der leidgeplagten Menschen zu erleichtern. Was man halt so denkt, wenn man die Ankündigungen vom Sommer 2021 im Kopf hat. Aber wäre es so, wären wir nicht in Deutschland.
Die Region ist berühmt für ihren Wein. Die Rebstöcke reichen bis an die Straße. Das ist seit Hunderten von Jahren so. Jetzt heißt es: Die unteren zehn Hektar müssen weichen, um eine Schutzzone zu schaffen. Irgendjemand in Mainz hat ausgerechnet, dass die Rebstöcke bei Flut für Rückstau sorgen.
Als ich den Vorsitzenden des Winzerverbandes fragte, um wie viel Meter denn die Reben zum Flutgeschehen beigetragen hätten, sagte er: 1,5 Zentimeter, rechnerisch. Ich dachte, er hätte einen Witz gemacht. Aber ihm war nicht zu Scherzen zumute, wie ich schnell merkte.
Das ist deutsche Gründlichkeit: Wir sparen 1,5 Zentimeter bei der nächsten Acht-Meter-Flut. Dafür opfern wir die Lebensgrundlage von Menschen, die mit Ach und Krach überlebt haben. Wäre ich Weinbauer, würde ich mir einen Dreschflegel nehmen und in die Landeshauptstadt stürmen. Zum Glück bin ich nur Journalist.
Wir gehen an unserer Bürokratie zugrunde. Es ist unausweichlich. Ich sehe keinen Ausweg. Unsere Regelungswut ist eine Schlinge, die sich immer weiter zuzieht. Niemand kann dagegen etwas tun, nicht einmal die Politiker, die Abhilfe versprechen.
Ich mache den Bürokraten keinen Vorwurf. Möglicherweise finden sie selbst absurd, was sie anweisen. Es sind ja keine dummen Menschen, die auf dem Amt arbeiten. Sie sind auch nicht bösartig oder empfinden Freude, ihre Mitmenschen zu quälen. Sie wollen einfach ihre Aufgabe gewissenhaft erfüllen. Und wenn es die Aufgabe ist, für Gewässerschutz oder Flutprävention zu sorgen, dann stürzen sie sich eben darauf.
In der „Zeit“ stand ein Bericht über Pflegekräfte von den Philippinen. Wir brauchen händeringend Menschen, die in der Pflege helfen. Derzeit sind 20000 Stellen unbesetzt. Bis 2030 schätzt man den Bedarf auf 500000 solcher Fachleute. Auf den Philippinen haben sie sich auf Pflege spezialisiert. Es gibt Universitäten, wo man einen entsprechenden Bachelor erwerben kann. Die Bewerber sprechen sogar Deutsch, weil sie parallel noch Sprachkurse absolviert haben.
A perfect match, sollte man meinen: Wir haben die Stellen, in dem südostasiatischen Land haben sie das Personal. Es könnte so einfach sein, wären da nicht die Aufsichtsbehörden. In den zuständigen Bezirksregierungen haben sie nachgerechnet, dass die Philippiner in ihrem Studium nur 1776 Stunden in der praktischen Ausbildung verbracht haben – und nicht die erforderlichen 2500 Stunden.
„Vergleichsgrundlage für Ausbildungen, die im Ausland erworben wurden, ist die jeweilige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung des entsprechenden reglementierten Referenzberufs in Deutschland“, heißt es dazu. Zu Deutsch: besser keine Pfleger, als bei der Stundenzahl Abstriche gemacht. In Kanada, Australien oder Großbritannien wird der philippinische Abschluss ohne Probleme anerkannt. Dort brauchen sie ebenfalls dringend Pfleger, weshalb jetzt viele der Pflegekräfte, die nach Deutschland kommen wollten, nach Kanada oder Australien ziehen.
So geht es immer weiter. Eine Bekannte hat sich überlegt, ob sie Lehrerin werden solle. Es würde ihr Spaß machen. Sie arbeitet in der Personalabteilung eines großen deutschen Konzerns, aber sie würde gern etwas anderes machen. Dafür wäre sie auch bereit, auf Gehalt zu verzichten.
Dann hat sie sich erkundigt, was man tun muss, um Lehrer zu werden. Sie hat gehört, dass Quereinsteiger gesucht würden. Sie hat ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, Betriebswirtschaft und Jura. Aber das zählt nicht. Ohne Staatsexamen plus Referendariat läuft gar nichts. Wo kämen wir denn hin, wenn wir Menschen auf unsere Kinder losließen, die aus der Praxis kommen und Freude am Unterrichten haben?
Noch ein Beispiel gefällig? Deutschland sucht 100000 Erzieher. An vielen Orten bleiben deshalb Kindertagesstätten geschlossen, oder die Eltern müssen ihre Kinder früher abholen, als die Arbeit eigentlich erlaubt. Es gibt einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, so ist es nicht. Im Schreiben von Gesetzen sind wir groß. Leider sind wir nicht ganz so groß, wenn es darum geht, die schönen Pläne mit Leben zu füllen.
Meine Kinder besuchen eine private Kita, da kann man bei den Regeln weniger streng sein. Eine Betreuerin kommt aus Wales, eine andere aus Thailand. Ich habe nicht nach den Abschlüssen gefragt, aber es würde mich wundern, wenn die Erzieher, die nicht aus Deutschland stammen, über alle Zertifikate verfügen würden. Was ihnen an staatlich geprüfter Qualifikation fehlen mag, machen sie durch Liebe und Zuwendung wett. Ich habe von meinen Kindern noch nie Klagen vernommen. Aber möglicherweise bin ich zu sorglos.
Wenn ich das nächste Mal das Wort „Zeitenwende“ höre, muss ich hysterisch lachen. Ich bin von Berufs wegen Skeptiker. Wenn jemand sagt, dass nun alles ganz, ganz anders werde, denke ich: schauen wir mal. Aber dass wir so gar keine Anstalten machen, uns auf die veränderte Wirklichkeit einzustellen, verblüfft mich dann doch.
Regression zur Mitte nennen Psychologen die Tendenz des Menschen, nach dem ersten Schock in die alten Bahnen zurückzukehren. Das gilt nicht nur für Individuen, wie man sehen kann, sondern auch für Großorganisationen wie Parteien.
Die Grünen ziehen ihre Energiewende durch, ungeachtet der Tatsache, dass sich mit dem Ausfall von russischem Gas die Geschäftsgrundlage grundlegend geändert hat. SPD setzt weiter unverdrossen auf das Konzept Handel durch Wandel. Als Morgengabe bei der Kanzlerreise nach Peking hat Olaf Scholz den Verkauf von 24,9 Prozent am Hamburger Hafen an das chinesische Staatsunternehmen Cosco im Gepäck.
Anfang der Woche wurde bekannt, dass das Kanzleramt, gegen alle Widerstände, auch den Einstieg der Chinesen bei der Chipfirma Elmos befürwortet. Die Technik sei veraltet, damit könnten die Chinesen nichts anfangen, heißt es jetzt zur Beruhigung. Aber wenn sich damit nichts anfangen lässt, warum wollen sich die Chinesen dann partout bei Elmos einkaufen? Ich hege eine Reihe von Vorurteilen gegenüber Chinesen. Dass sie Trottel sind, gehört nicht dazu.
Es gehe darum, vor den Chinesen die deutschen Argumente auszubreiten, um sie zum Nachdenken zu bewegen, lautet die Erklärung zur Chinareise des Kanzlers. Ich sehe es bildlich vor mir, wie der Bundeskanzler auf den chinesischen Präsidenten trifft, und der nach einem langen, vertrauensvollen Gespräch sagt: „Ich habe mir die Argumente unserer deutschen Freunde angehört. Sie haben mich überzeugt. Wir werden heute noch unsere Unterstützung für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine einstellen und Menschenrechte und Klimaschutz zur Priorität im Zehnjahresplan machen.“
So wird es kommen, ich bin ganz sicher.