Schlagwort: Juden

»Seht euch vor!«

In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffengewalt außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen. Das ist das Ziel der Leute, die jede Woche Hassgesänge anstimmen

Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule in München besucht. Wenn Sie sich fragen, weshalb der Bub auf einer jüdischen Schule gelandet ist: Wir brauchten eine Ganztagsschule, und von denen gibt es im Umland von München nicht so viele. Dann fragte mich eine Freundin, ob ich schon mal über die Sinai-Grundschule nachgedacht hätte, die könne sie sehr empfehlen.

Wir haben die Entscheidung nie bereut. Es gibt durch die Bank großartige, den Kindern zugewandte Lehrer. Keine Klasse hat mehr als 20 Schüler. Und die Klassengemeinschaft ist so, wie man sich eine Klassengemeinschaft wünscht. Ich habe nicht nachgefragt, wie viele der Mitschüler nicht jüdischen Glaubens sind, aber es hat auch nie eine Rolle gespielt.

Es gibt ein paar Besonderheiten, das muss man wissen. Die Kinder lernen von der ersten Klasse an außer Deutsch und Englisch Hebräisch. Zweimal am Tag wird gebetet, die Jungs mit Kippa, und das Essen ist selbstverständlich koscher.

Ach so, noch eine Sache unterscheidet sich von jeder anderen Schule in Deutschland: Der Schulbesuch ist nur unter Polizeischutz möglich.

Schon vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Hamas Israel den Krieg erklärte, stand immer ein Polizeiwagen in Sichtweite. Seitdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal deutlich erhöht. Wenn die Kinder einen Ausflug machen, und sei es nur zu einem Museumsbesuch oder einem Sportfest, sind bewaffnete Sicherheitsleute dabei. Als es im Herbst auf das Oktoberfest gehen sollte, wurde der Klassenausflug kurzfristig abgesagt: Zu gefährlich, hieß es. Zweimal im Jahr wird der Ernstfall geprobt. Dann lernen die Kinder, sich zu verstecken.

Es ist viel über die schwierige Lage der Muslime die Rede. Aber ich glaube, es gibt kein einziges muslimisches Kind in Deutschland, das die Schule nur unter Aufsicht von Polizisten mit Maschinenpistole im Arm betreten kann – und das aus einem einzigen Grund: weil es muslimisch ist.

Es sind übrigens auch nicht irgendwelche Glatzen, vor denen man sich vorsieht, oder die AfD. Es sind die Leute, die auf deutschen Straßen ungehindert ihren Hass auf Israel und die Juden herausplärren dürfen und von denen man nicht weiß, ob nicht der eine oder andere auf die Idee kommt, den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Ich schildere das so genau, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass vielen nicht klar ist, welche Folgen es hat, wenn man alles an Israelhass zulässt. Ich bin normalerweise vorsichtig, von Worten auf Taten zu schließen. Aber es wäre weltfremd anzunehmen, dass es keinen Einfluss hat, wenn der Vorsitzende der Linkspartei die Israelis als „Hungermörder“ bezeichnet und dem Land die Durchführung eines „Genozids“ unterstellt wird.

Manche mögen einwenden, dass sich die Kritik ja gegen Israel richte und nicht gegen die hier lebenden Juden. Dummerweise wird der Unterschied im Alltag oft nicht näher beachtet.

Deshalb sind die antisemitischen Straftaten auf einem Rekordhoch. Und deshalb findet die Besatzung eines spanischen Ferienfliegers auch nichts dabei, die Teilnehmer eines jüdischen Ferienlagers als Repräsentanten eines Terrorstaates zu identifizieren und aus dem Flugzeug zu werfen. Wo wir schon dabei sind: Begeht Israel einen Völkermord in Gaza? Der amerikanische Journalist Bret Stephens hat dazu in einem sehr lesenswerten Kommentar in der „New York Times“ das Nötige gesagt.

Gesetzt den Fall, Israel wollte das palästinensische Volk vernichten – und das ist die UN-Definition eines Genozids: die Auslöschung einer Volksgruppe aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zusammensetzung –, warum ist die Zahl der Toten nicht höher, fragt Stephens. Die Möglichkeit, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, hätten die Israelis. Wer wollte sie hindern? Aber statt alles Leben zu beseitigen, halten sie sich mit Verhandlungen über Hilfslieferungen auf.

Dass man links der Mitte so versessen darauf ist, das Wort Genozid zu benutzen, hat einen einfachen Grund. Man will endlich gleichziehen. Es ist eine irre Pointe, dass die linken Enkel vollenden, wovon ihr Wehrmachtsopa immer geträumt hat, die Befreiung Deutschlands vom „Schuldkult“. Darum geht es ja in Wahrheit: Israel und Nazideutschland auf eine Stufe stellen, um endlich wieder fröhlich heraus sagen zu können, was man von den Juden hält.

Im Augenblick wird darüber gestritten, ob die Bundesregierung eine Erklärung unterschreiben soll, in der Israel als Aggressor markiert wird. Im Prinzip kann uns das egal sein. Wenn der Kanzler seine Ohnmacht demonstrieren will, indem er seinen Namen unter einen Appell setzt, der völlig folgenlos bleiben wird – soll er es tun. Ich bin dennoch dagegen, weil die Unterschrift eine Auswirkung hätte: Sie würde das Leben der hier lebenden Juden weiter verschlechtern.

Die Unterschrift ist eine Trophäe. Sie wird von den Leuten als Bestätigung gesehen werden, die Israel als Terrorstaat bezeichnen. Deshalb sind sie so dahinter her, dass auch der Name von Friedrich Merz unter der Erklärung steht.

Ich glaube, den meisten Bundesbürgern ist nicht bewusst, dass sich nach wie vor sechs deutsche Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Wer wollte es ihnen verdenken? Es ist ja auch so gut wie nie von den Geiseln die Rede. Sie kommen weder in den Ansprachen des Bundeskanzlers vor noch in Berichten aus dem Kriegsgebiet.

Sie heißen Alon Ohel, Itay Chen, Gali und Ziv Berman, Rom Braslavski, Tamir Nimrodi. Kennt Herr Wadephul ihre Nahmen? Sind sie den Diplomaten im Auswärtigen Amt bekannt, von denen es heißt, sie wollten eine entschiedenere Verurteilung Israels?

Vor zwei Wochen haben sie vor der Schule meines Sohnes demonstriert. Weil die Stadt nicht aufgepasst hatte, führte der Weg des Bündnisses „Palästina Spricht“ an der Synagoge vorbei, die neben der Schule liegt. Auf der Demo trat ein Genosse Aboud auf, der erst alle Synagogenbesucher als „Faschistenfreunde“ bezeichnete und dann die Berichte über das Leid der Geiseln als „Lüge“. Selbstverständlich war die Route von den Demonstranten nicht zufällig gewählt, so wie es auch kein Zufall war, dass die Demo pünktlich zum Freitagsgebet stattfand.

Weil wir in München sind und nicht in Berlin, fanden sich sofort Münchner Bürger ein, um sich schützend vor das Gebetshaus zu stellen. Aber die Botschaft der Demonstranten war klar. Seht euch vor! Niemand ist sicher, nicht mal am Münchner Sankt-Jakobs-Platz.

Es geht um Einschüchterung, das ist das Ziel. In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffen außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen.

Manche Menschen werfen mir vor, nicht unbefangen zu sein. Das stimmt. Was das Existenzrecht der Juden in Deutschland angeht, bin ich nicht unbefangen. Ich glaube allerdings, das hat weniger mit der Tatsache zu tun, dass mein Sohn eine jüdische Schule besucht, sondern eher mit meiner sozialdemokratischen Erziehung.

Wenn es etwas gab, was mir von klein auf beigebracht wurde, dann, dass Deutschland dafür Sorge zu tragen hat, dass jüdische Menschen bei uns nie wieder Angst um ihr Leben haben müssen. Nennen Sie mich einen unverbesserlichen Linken, aber das gilt für mich bis heute.

© Sören Kunz

Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen

Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass etwas folgt. Was lernt der deutsche Hamas- Anhänger, wenn er der Regierung ins Gesicht lacht? Dass er machen kann, was er will

 Der Bundeskanzler hat der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer zum Geburtstag gratuliert. Am Sonntag ist Frau Friedländer 102 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass schrieb Olaf Scholz auf Twitter beziehungsweise X, wie die Plattform jetzt heißt: „Margot Friedländer weiß um die Anfänge des barbarischen Regimes im Nationalsozialismus und was daraus folgte. Es ist ein großes Glück, dass sie heute wieder in Deutschland lebt und das ‚Nie wieder‘ mit Leben füllt.“

Keine Ahnung, welcher Trottel den Twitteraccount des Kanzlers betreut. Aber besser hätte man die Lage der Juden in Deutschland nicht zusammenfassen können: Man freut sich, dass sie da sind. Aber dafür, dass sich der Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholt, müssen sie schon selbst sorgen. Es wäre jedenfalls deutlich besser, es bliebe nicht einer Hundertjährigen überlassen, das „Nie wieder“ mit Leben zu füllen, sondern der deutsche Staat würde sich der Sache annehmen.

Die Politik überschlägt sich mit Versicherungen, dass man jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten werde, daran mangelt es nicht. Es gebe Null Toleranz für antisemitische und israelfeindliche Hetze, sagt die Innenministerin, das sei „die rote Linie“. Auch der Kanzler wiederholt unermüdlich, welche Bedeutung für ihn der Schutz jüdischen Lebens habe. Und dann? Dann ziehen am Wochenende Heerscharen enthusiastischer Hamas-Fans durch deutsche Innenstädte und zeigen, was sie von der roten Linie halten.

Man kann die Sache auch einfach laufen lassen, das ist ebenfalls eine Option. Der Aufruhr beschränkt sich bislang auf Städte, in denen der Anteil arabischstämmiger Menschen besonders groß ist – Berlin, Essen, Frankfurt, Düsseldorf. Auch in München gab es einen Umzug der Palästina-Freunde. Aber bevor jemand am Marienplatz die IS-Flagge schwenkt, muss noch einiges passieren.

Es sind auch nicht Hunderttausende, die laut rufend auf der Straße stehen. In Essen waren es 3000, in Berlin 8000. Es sieht nicht danach aus, als ob morgen schon das Kalifat anbrechen würde.

Aber es geht eine eindeutige Botschaft von den Demonstrationen aus: Wenn wir könnten, wie wir wollten, dann würden wir ganz andere Seiten aufziehen. Und auch der Adressat ist klar: Als Erstes sind die Juden dran, erst danach kommen die anderen.

Es ist ja kein Zufall, dass die Filialen von Starbucks attackiert werden. Der Starbucks-Gründer Howard Schultz ist jüdischen Glaubens, das reicht, um gegen die Scheiben zu spucken und die Gäste zu beschimpfen. Das Signal versteht jeder: Fühlt euch nicht zu sicher!

Ich bin dafür, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, wie sie sind. Am Ende geht es um die Frage, wen wir in Deutschland halten wollen: die Juden oder die antisemitischen Troublemaker. Darauf läuft es hinaus.

Der ehemalige Justizsenator von Hamburg Till Steffen und heutige Geschäftsführer der Grünen im Bundestag hat eine Antwort gegeben, die auch meine wäre: „Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen.“ Wenn ich mich nicht täusche, denken viele Menschen in Deutschland ähnlich.

Ich habe noch keine Umfragen gesehen, wie die Deutschen zu den „Free Palestine“-Demonstrationen stehen. Aber ich vermute, wenn sie die aufgeregten jungen Männer sehen, wie sie den Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus in Berlin besteigen, um ihre Flagge zu hissen, sagen sich viele: „Mit diesen Leuten haben wir nichts zu schaffen und wollen es auch nicht.“

Noch schlechter als ein Rechtsstaat, der wegsieht, ist einer, der Ansagen macht, ohne dass ihnen etwas folgt. Was lernt der junge Hamas-Anhänger, wenn er beschließt, der Bundesregierung ins Gesicht zu lachen und mit Gleichgesinnten um den Block zu ziehen?

Dass sein Verstoß gegen die Ermahnungen aus Berlin für ihn und seine Kumpane nachteilige Folgen hat? Nein. Er lernt, dass er ungehindert tun und lassen kann, was er will. Egal, ob er die Taliban-Flagge schwenkt oder Starbucks-Besucher bespuckt – es bleibt bei der Ankündigung, jetzt, aber jetzt auch wirklich durchzugreifen und so etwas nicht mehr zu dulden.

Ich bin neulich auf einen Satz von Helmut Schmidt gestoßen: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt ist.“ SPD-Kanzler Schmidt hat das nach dem Überfall der Befreiungskämpfer der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm gesagt.

Wir sind noch nicht wieder so weit, dass der Staat durch Geiselnahmen oder Anschläge herausgefordert wird. Bislang beschränkt sich die Drohung, den Staat aus den Angeln zu heben, auf wilde Ankündigungen.

Aber für Leute, die jüdisch sind, klingt das bedrohlich genug. Wenn die jüdische Gemeinde in München die Redaktion der „Jüdischen Allgemeinen“ darum ersucht, die Zeitung in einem neutralen Umschlag zu verschicken, damit nicht ersichtlich ist, wer die Abonnenten sind, bekommt man eine Vorstellung, wie die Stimmungslage ist.

Was also bietet sich an? Man kann das Versammlungsrecht einschränken, wenn die begründete Annahme besteht, dass aus einer Demonstration heraus Straftaten begangen werden. Man kann die Strafen für Volksverhetzung (Paragraf130 StGB) und die Billigung von Straftaten (Paragraf140 StGB) heraufsetzen. Man kann auch mal die Polizei in Marsch setzen.

Was spricht dagegen, einen Kessel zu bilden und die Demonstranten einer Personenfeststellung zuzuführen, wenn wie in Essen verbotene Symbole gezeigt werden?

Ich habe dieser Tage eine Mail von einem Polizeibeamten aus Nordrhein-Westfalen erhalten. Wo denn der Wasserwerfer sei, wenn man ihn brauche, hatte ich in einem Kommentar bei „Welt TV“ gefragt. Die Frage könne er mir gerne beantworten, schrieb er mir: „Im Carport.“ Die meisten Einsatzleiter seien der Meinung, dass Wasserwerfer nicht mehr in die Zeit passten. Ich war als Student in Hamburg bei einer Reihe linksradikaler Demos dabei. Ich kann nur sagen, dass ein Wasserwerfereinsatz eine durchaus ernüchternde Wirkung auf die Beteiligten hat.

Es gehe darum, die Trauer auf die Straße zu tragen, heißt es aus der muslimischen Community. Wenn es denn um Trauerbekundungen ginge! In Berlin zeigten Videoaufnahmen einen Mann, der mit einem selbst gebastelten „Free Palestine“-Schild zu den Demos erschienen war. Allerdings hatte er den Slogan um einen kleinen Zusatz ergänzt: „Free Palestine from Hamas“. Das reichte, um ihm den Zugang zu verwehren. Kaum waren Aktivisten seiner ansichtig geworden, schoben sie ihn rüde zur Seite.

Noch ist es zu früh, um die Parolen über die rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft wieder hervorzukramen. Aber es dauert nicht mehr lange, bis es so weit ist. In einer Reihe angesehener Blätter finden sich die ersten Texte, warum die eigentlichen Antisemiten nicht unter Muslimen zu finden seien, sondern unter Rechtsradikalen. Den Anfang machte die „Spiegel“-Redakteurin Özlem Topcu mit einem Leitartikel, dass die wahre Gefahr von Rechtsextremisten ausgehe.

In der „taz“, dem linken Zeitungsprojekt aus Berlin, verstieg sich ein Autor zu der These, dass Deutschland nicht deshalb ein Problem mit muslimischem Antisemitismus habe, weil wir zu großzügig bei der Einwanderung aus arabischen Ländern waren. Nein, im Gegenteil: Es gebe so viel Antisemitismus unter Muslimen, weil wir die Leute nicht schnell genug eingebürgert hätten. Judenhass als Reflex gegen eine zu restriktive Einwanderungspolitik: Das ist zumindest originell.

Die Bundesregierung will die Einbürgerung erleichtern. Der entsprechende Gesetzesentwurf wurde vom Kabinett im August auf den Weg gebracht. Vielleicht sollte man im Lichte der Ereignisse noch einmal darüber nachdenken, ob das wirklich so schlau ist. Man kann auch über einen Entzug der Staatsbürgerschaft nachdenken, sicher. Aber es ist sehr viel einfacher, jemanden den Stuhl vor die Tür zu setzen, der noch nicht im Besitz eines deutschen Passes ist.

Wie sagte Till Steffen: Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen. Wenn wir weiter nichts tun, wird’s genau andersherum kommen.

© Silke Werzinger

Die Pro-Palästina-Verirrten: Hassen sich Linke und Schwule so sehr selbst?

Warum drücken linke Künstler und Studenten einer Bewegung die Daumen, die alles verachtet, wofür man links der Mitte steht? Verblendung? Selbsthass? Oder einfach Feigheit?

 An der Rosa Lila Villa, dem Zentrum der queeren Community in Wien, hängt eine Flagge. Es ist nicht die Regenbogenflagge, wie man denken sollte. Oder die Progress-Pride-Flagge, die neben dem Regenbogen noch eine Reihe weiterer Streifen enthält, um auch Intersexuelle und Non-Binäre einzubeziehen. Aus dem ersten Stock hängt die Flagge Palästinas, also jenes Terrorstaates, der für sich alles an Land beansprucht, was heute Israel ist.

Warum hängen schwule Aktivisten die Flagge eines Landes aus dem Fenster, in dem sie keine zehn Minuten unbeschadet überstehen würden, würden sie ihre sexuellen Neigungen offen zeigen?

Kaum eine Region der Welt ist für Schwule und Lesben so gefährlich wie die arabische, von Transmenschen gar nicht zu reden. Eine Reihe arabischer Länder haben ihre Gesetze in den letzten Monaten noch einmal verschärft. In Jordanien hat das Parlament gerade ein Cybercrime-Gesetz verabschiedet, dass die „Anstiftung zur Unsittlichkeit” unter drakonische Strafen stellt. Im Irak wird diskutiert, ob man für Homosexualität nicht die Todesstrafe einführen sollte. Auch in Gaza ist jede Form der gleichgeschlechtlichen Liebe selbstverständlich verboten.

Wenn es ein Symbol bräuchte für alles, was auf der Linken schiefläuft, dann ist es die Palästinaflagge vor dem schwulen Zentrum in Wien. Dass auch hierzulande viele arabische Männer nichts von Frauen- oder Minderheitenrechten halten, ist keine Überraschung. Aber auf den Straßen stehen ja nicht nur junge Araber, um ihre Solidarität mit der Hamas zu bekunden. Neben ihnen laufen junge, weiße Mittelschichtskinder, um aus Leibeskräften „Free Palestine” zu rufen, so als gelte es, die Vertreibung der eigenen Großeltern gleich mit rückgängig zu machen.

„Von der Maas bis an die Memel” heißt heute „From the River to the Sea”. Das ist familiär eingeübt, könnte man sagen. Trotzdem bleibt die Frage, weshalb sich progressiv eingestellte Menschen im Westen lieber mit ihren potenziellen Schlächtern solidarisieren als mit Leuten, die sie in ihrem Emanzipationsbestreben immer unterstützt haben? Der „taz“-Redakteur Jan Feddersen spricht von einem Fall von „Politpathologie”. Die Hinzuziehung psychiatrisch geschulten Personals ist bei der Suche nach einer Erklärung keine schlechte Idee. Aber es gibt einen ideologischen Kern, das sollte man nicht übersehen.

Die große ideologische Klammer heißt Antikolonialismus. Nach den Genderwissenschaften hat kein Fach eine solche Karriere hingelegt wie die „Postcolonial Studies”. An nahezu jeder Uni, die etwas auf sich hält, kann man sich inzwischen in dieses Fach einführen lassen.

Für eine Theorie, die sich berufen fühlt, zu allen politischen Fragen Stellung zu beziehen, ist es misslich, dass ihr Untersuchungsgegenstand als historisch erledigt betrachtet werden kann. England, Spanien, Portugal – die Zeit der großen Kolonialreiche liegt lange zurück. Also hat man sich auf die Suche nach einem aktuellen Beispiel gemacht und ist dabei auf Israel verfallen, als letzte Bastion weißen Überlegenheitsdenkens.

Dass Israel auch ethnisch weitaus diverser ist als viele Gesellschaften, in denen man jetzt gegen Israel demonstriert, wird großzügig übersehen. Es gibt in Israel Juden aus Äthiopien, Mali und dem Jemen. 1,9 Millionen Israelis sind gar keine Juden, sondern Muslime. „Schluss mit Apartheid und Siedlerkolonialismus”, lautet dennoch die Parole. Auch die Postkolonialisten träumen von einer Ein-Staaten-Lösung: einem Staat, in dem Israel nicht mehr existiert.

In dieser Welt gilt Hamas selbstredend nicht als Terrorsekte, sondern als revolutionäre Kraft. „Es ist ungemein wichtig, dass wir Hamas und Hisbollah als soziale Bewegungen verstehen, die progressiv sind und damit Teil der globalen Linken”, lautet ein bekanntes Zitat von Judith Butler, einer der Vordenkerin der intersektionalen Linken.

Dass auch Butler in Gaza nichts zu lachen hätte, sei nur nebenbei angemerkt. Jüdisch und lesbisch, das ist eine besonders schlechte Kombination, wenn man in Direktkontakt mit den Befreiungskämpfern der Hamas tritt. Möglicherweise ist es eine spezifische Form des Selbsthasses, der sich hier ausdrückt.

Viele haben sich gefragt, wie es sein kann, dass junge Menschen, die eine ordentliche Schulbildung durchlaufen haben, vor dem Auswärtigen Amt sitzen, um „Free Palestine from German Guilt” zu skandieren. Die Rede vom Schuldkult hielt man doch für eine rechte Obsession. Zur Entschuldigung der jungen Menschen muss man sagen: Sie haben eben gut zugehört bei ihren Professoren an der Humboldt-Uni.

Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht nur für Rechte ein Ärgernis, sondern auch für viele Linke. Dass die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung BDS („Boycott, Divestment, Sanctions”) in Deutschland nie so Fuß fassen konnte wie in Spanien oder Großbritannien, liegt auch daran, dass es in Teilen des politischen Establishments immer noch ein Bewusstsein dafür gibt, was die Deutschen den Juden angetan haben.

Parallel zur Antikolonialismusforschung ist deshalb eine eigene Profession entstanden, die darauf abzielt, den Judenmord zu relativieren. Einer der Köpfe ist der Australier Anthony Dirk Moses, der die Einzigartigkeit des Holocaust einen „Glaubenssatz“ nennt, den es abzulegen gelte. Auch hierzulande gibt es Vertreter dieser Relativierungszunft, angeführt vom Hamburger Professor Jürgen Zimmerer. Bei ihm ist nicht von „Fetischisierung” des Holocaust die Rede, sondern von einer unseligen „Fixierung” – gemeint ist dasselbe.

Muss man sich zu den Verbrechen der Hamas äußern? Das ist eine ganz andere Frage. Nein, muss man nicht, wäre meine Antwort. Es gibt auch das Recht, nichts zu sagen. Das unterscheidet Demokratien von Systemen, in denen man ständig gezwungen ist, sich zu positionieren. Aber wenn Leute, die ansonsten bei jeder Gelegenheit eine Protestnote verfassen, plötzlich ganz still sind, dann darf man das ebenfalls als Meinungsbekundung verstehen.

Der „Welt”-Reporter Frédéric Schwilden hat vor ein paar Tagen bei einer Reihe bekannter Polit-Influencer angefragt, ob sie ihm für einen Aufruf gegen Judenhass ein oder zwei Sätze schicken könnten. Bis auf Diana zur Löwen und Luisa Neubauer hatten alle leider gerade etwas anderes zu tun.

„Leider können wir aus zeitlichen Gründen Ihrer Nachfrage nicht nachkommen”, antwortete das Management von Marius Müller-Westernhagen. „Sophie Passmann ist momentan auf Tour unterwegs”, schrieb die Agentur der bekannten Feministin. „Leider werden die beiden nicht dabei sein können“, erklärte die Agentur von Felix Lobrecht und Jasmina Kuhnke.

Gut, kann man sagen: Springer, mit denen wollen viele nicht reden. Aber die seltsame Sprachlosigkeit ist nicht nur dem „Welt”- Reporter aufgefallen. Auch in der „taz” hat man sich Gedanken gemacht, warum ausgerechnet ein Milieu, in dem Haltung zeigen als oberste Tugend gilt, jetzt so schweigsam ist.

Sind Leute wie Marius Müller-Westernhagen oder Jasmina Juhnke Antisemiten? Vermutlich nicht. Es ist bei vielen schlicht Feigheit, die sie davon abhält, ein klares Wort zu finden. Man wolle die Friends und Allies nicht vor den Kopf stoßen und einen Boykott der Künstler und Künstlerinnen aus dem Globalen Süden riskieren, erklärte ein Theatermacher dem Redakteur der „taz”, als der wissen wollte, was der Grund für das kollektive Stillhalten sei.

Vielleicht muss man doch noch einmal daran erinnern, wovon wir reden. Wir reden von Schwangeren, denen bei lebendigem Leib der Fötus aus dem Bauch geschnitten wurde. Wir reden von 15-jährigen Mädchen, die so brutal vergewaltigt wurden, dass ihr Becken brach. Wir reden von Eltern, die zusehen mussten, wie ihren Kindern die Augen ausgestochen wurden, und von Kindern, die erlebten, wie man erst Mutter und Vater mit Benzin übergoss und anzündete, bevor sie selbst an die Reihe kamen.

Die neue, linke Theorie der Israelfeindlichkeit ist eine furchtbare Verirrung. Sie ist ein Gift, das alles verdirbt, was mit ihr in Berührung kommt. Am Ende bleibt dort, wo ein Herz war, nur ein schwarzes Loch.

© Sören Kunz