Nirgendwo ist der Opportunismus so ausgeprägt wie in Großkonzernen. Wer es an die Spitze geschafft hat, verdankt dies selten Eigensinn und Mut. Wie kommen ausgerechnet Wirtschaftsführer auf die Idee, sie wären politisch ein Vorbild?
Joe Kaeser kämpft jetzt auch für die Demokratie. Er hat sich das gut überlegt, ob er sich positionieren soll. Man zahle schließlich einen Preis, wenn man vor den Gefahren von Rechts warne, sagte der ehemalige Topmanager der Nachrichtenagentur Reuters. Aber jetzt sind alle gefordert, da muss man auch etwas riskieren. „Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich geschwiegen hätte, als noch Zeit war, Dinge zu korrigieren.“
In diesen Tagen sind wir alle Weiße Rose. Jana aus Kassel hat nun einen Bruder: Joe aus München.
Ich habe kurz gezuckt, als ich davon las. Von welchem Preis, den man zahle müsse, redet der ehemalige Siemens-Chef? Ich nehme doch an, dass Kaeser in seinem Leben so viel Geld verdient hat, dass er sich eine Immobilie leisten kann, die von der Straße nicht einsehbar ist. Selbst seine Enkelkinder dürften in einem Alter sein, in dem größere Gefahren lauern als ein paar angesäuerte AfD-Politiker.
Oder meint er, dass seine Frau im Bridge-Club Probleme bekommt? Man kann den Leuten nicht in den Kopf sehen. Wer weiß, vielleicht befinden sich im Umfeld der Familie Kaeser mehr AfD-Sympathisanten, als man denken sollte. Dann kann es natürlich beim nächsten Gesellschaftsabend etwas unangenehm werden.
Wie auch immer, freuen wir uns, dass der Joe dabei ist. Wenn es darum geht, die AfD in die Knie zu zwingen, kann man jede Hand gebrauchen.
Das Problem bei Leuten wie Kaeser ist allerdings: Es ist auf sie nicht wirklich Verlass. Wer sich auf einen wie ihn verlässt, der ist schnell wieder verlassen, wenn’s blöd läuft.
Wo stand Deutschlands bekanntester Ex-Manager nicht schon. Als er noch die Geschäfte bei Siemens führte, sah man ihn an der Seite von Wladimir Putin. Auch die Chinesen fand er lange prima. Dass sie eine Million Uiguren in Lagern halten, weil die den falschen Glauben haben? Gott ja, nicht schön. Aber wollen wir anderen vorschreiben, wie sie ihr Land zu regieren haben?
Selbst für den Kopf-Ab-Prinzen aus Saudi-Arabien zeigte Kaeser Verständnis. Als alle zum Boykott aufriefen, weil der Kronprinz einen seiner Kritiker hatte in Stücke hacken lassen, warnte Kaeser vor übereilten Schritten: „Wenn wir aufhören, mit Ländern zu kommunizieren, in denen Menschen vermisst werden, kann ich auch gleich zu Hause bleiben.“
Kaum näherte sich das Ende als Vorstandsvorsitzender dann die Rolle rückwärts. Plötzlich fand er Carola Rackete toll und die Seenotretter im Mittelmeer. Selbst- verständlich war ihm auch der Klimaschutz ein brennendes Anliegen. Luisa Neubauer in den Siemens-Aufsichtsrat? Das wäre doch eine super Idee! Im Januar dann die nächste Volte: Der Ausstieg aus der Kernenergie sei ein kapitaler Fehler gewesen. Opportunismus, dein Name ist Kaeser, könnte man sagen.
Fairerweise muss man hinzufügen, dass der Joe in der Kunst der Antizipation von Wetterwechseln nicht alleine ist. Politisches Engagement entdecken Firmenlenker immer dann, wenn sie sich in guter Gesellschaft wähnen. Sie hissen die Regenbogenflagge auf ihrem LinkedIn-Account, wenn auch bei Outlook Gay Pride Day gefeiert wird. Empört sich alle Welt über Rassismus, finden sie Black Lives Matter total wichtig und posten kleine schwarze Kacheln. Solidarität mit der Ukraine? Aber sicher. Da sind doch die meisten dafür, nicht wahr?
Israel hingegen: schwierig. Das sei so kontrovers, heißt es in dem Fall. Als nach dem Überfall vom 7. Oktober aus der Wirtschaft die Idee für eine „Nie wieder ist jetzt“- Anzeige aufkam, gab es in einer Reihe von Kommunikationsabteilungen eine aufgeregte Diskussion, ob man sich beteiligen solle. Am Ende siegte auch hier der Opportunismus: Nicht dabei sein erschien noch kontroverser, als mitzumachen.
Ich finde Opportunismus im Prinzip nicht schlimm. Ohne eine gewisse Anpassungsbereitschaft ist das Leben nicht denkbar, das gilt zumal für das Leben in Großorganisationen. Was mich stört, ist, wenn Leute ihre Wendigkeit als besondere Standfestigkeit ausgeben.
Erinnert sich zufällig noch jemand an den Aufstand bei Adidas? Im Sommer 2020 musste die Personalchefin Knall auf Fall ihren Posten verlassen, weil sie als politisch untragbar galt. Ihr Vergehen: Sie hatte in einer internen Diskussionsrunde gesagt, dass sie nicht glaube, dass Adidas ein größeres Problem mit Rassismus habe. Das galt zu dem Zeitpunkt als inkorrekt.
Und dann? Dann konnte man in der „New York Times“ lesen, dass derselbe Konzern, der seine Personalvorständin wegen mangelnder politischer Sensibilität feuerte, einfach wegsah, als sein größter Star, der Rapper Kanye West, in Kreativsitzungen auf Turnschuhe kleine Hakenkreuze malte, um die Schuhe ein wenig aufzupeppen.
Wenn nicht alles täuscht, geht die Bekenntnis-Phase dem Ende entgegen, das ist die gute Nachricht. Der „Zeit“- Redakteur Ijoma Mangold vertritt die These, dass wir Peak Woke erreicht haben, so wie es auch Peak Oil gab. Es wird immer noch Öl gefördert, vermutlich sogar über viele Jahre, aber der Scheitelpunkt liegt hinter uns. So könnte es jetzt auch beim identitätspolitischen Engagement sein.
Kaum etwas fürchten Großunternehmen so sehr wie Konflikte. Das unterscheidet sie von Parteien und Aktivistenvereinen. Während der Aktivist von der Zuspitzung lebt, um sein Thema durchzusetzen, wollen Konzerne auf keinen Fall auf dem falschen Fuß erwischt werden. Jeder Konflikt birgt die Gefahr, dass man Leute vor den Kopf stößt. Wer sich abwendet, ist als Kunde verloren.
ls Beispiel für Peak Woke darf die Trans-Kampagne von Bud Light gelten. Eine Marketingmanagerin des Brauereikonzerns Anheuser-Busch hatte im Frühjahr vergangenen Jahres die brillante Idee, als neues Maskottchen die Trans-Influencerin Dylan Mulvaney zu verpflichten, um das Image irgendwie inklusiver zu machen.
Dummerweise ist die Zahl queerer Menschen, die nicht sagen können oder wollen, welchem Geschlecht sie angehören, unter Budweiser-Kunden eher gering. Der Rocker Kid Rock veröffentlichte ein Video, in dem er BudLight-Büchsen mit dem Gewehr zerschoss. Das Dosenschießen der Kid-Rock- Nachahmer hielt für kurze Zeit den Umsatz stabil, dann folgte ein Einbruch, der das Unternehmen fünf Milliarden Dollar an Börsenwert kostete. Go woke, go broke.
Der Unternehmer muss auf sich selbst vertrauen, seine Ideen, das Gespür für die Kunden und den Markt . Im Zweifel setzt er sich gegen alle durch, die es angeblich besser wissen, deswegen spricht man ja auch vom Selfmademan oder Visionär. Um im Konzern den Weg nach oben zu schaffen, sind völlig andere Fähigkeiten gefordert. Der Konzernlenker ist nicht dank seiner Eigenwilligkeit an die Spitze hingekommen, im Gegenteil. Kreativität und Widerspruchs- geist sind für den Aufstieg eher hinderlich.
Widerstände umschiffen, ein gutes Gespür für die Erwartungen seiner Förderer zeigen, rechtzeitig erkennen, wenn sich der Wind dreht: Das sind die Eigenschaften, die in Großunternehmen belohnt werden. Klar, out of the box thinking, das findet man theoretisch ganz toll. Wer will schon als Anpasser gelten? Deshalb lädt man sich für Hunderttausende Dollar Motivational Speaker ein, die auf Führungskräftetagungen dann das Loblied der Unangepasstheit singen. Aber wehe, jemand nimmt das ernst, der ist sofort erledigt.
Joe Kaeser heißt übrigens auch nicht Joe Kaeser, sondern in Wahrheit Josef Käser. Das war ihm nur irgendwann nicht mehr weltläufig genug. Meinetwegen soll sich jeder nennen, wie er will. Wenn man heute sein Geschlecht frei wählen kann, sollte das beim Namen allemal möglich sein. Ob es allerdings für jemanden spricht, wenn er sich seiner Herkunft schämt, da habe ich Zweifel.