Das beliebteste Talkshow-Mantra lautet derzeit, dass man über bestimmte Themen besser nicht redet, weil das nur die Rechten stärke. Aber wer weiß: Vielleicht liegt genau hier der Grund, weshalb die Rechten immer stärker werden?
Beim Aufräumen bin ich auf einen älteren Leitartikel aus der „Zeit“ gestoßen. Es ging um die Klimawahl in Hamburg, die zur Überraschung vieler, auch der rot-grünen Stadtregierung, von den Befürwortern rigoroser Maßnahmen gewonnen wurde.
In Hamburg hätten die meisten Politiker darauf gesetzt, dass Klimapolitik aus dem Bewusstsein der Bürger verschwinde, wenn man nicht darüber rede, schrieb die Redakteurin. „Die Strategie schlug fehl, weil das Problem nicht schon dadurch verschwindet, dass Politik und Medien es ignorieren, im Gegenteil, die Klimakrise wird immer größer, und der Meeresspiegel steigt.“
Die Autorin, Petra Pinzler, hat aus meiner Sicht absolut recht. Es ist selten eine gute Idee, die Leute für dumm verkaufen zu wollen. Sie sehen ja, was los ist, auch wenn die Politik die Realität totzuschweigen versucht. Und die wenigsten Probleme verschwinden, indem man sie einfach ignoriert. Meistens werden sie sogar größer, wenn man sich nicht darum kümmert. Doch merkwürdigerweise wird die Schweigestrategie im Umgang mit vielen Problemen empfohlen, auch von den Leuten, die bei der Klimapolitik zu Recht einwenden, dass Ignorieren keine Lösung sei.
Der Klassiker ist der Streit um den richtigen Umgang mit der Migration. Man muss „Klimakrise“ und „Meeresspiegel“ nur durch „Stadtbild“ oder „Grenzkontrolle“ ersetzen, und schon läuft die Diskussion ganz anders. Wann immer sich ein Problem auftut, heißt es dann, man solle besser nicht darüber reden, weil man sonst das Geschäft der Rechten besorge.
Der andere Satz, der nahezu unweigerlich folgt, lautet: Die Leute wählen das Original und nicht die Kopie. Auch das läuft darauf hinaus, von allem die Finger zu lassen, was irgendwie strittig ist. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was bei der Befassung mit der Klimakrise als die richtige Vorgehensweise gilt.
Das Prinzip „Bloß nicht drüber reden, dann wird schon alles gut“ gilt längst nicht mehr nur bei der Einwanderung. Eine kleine Liste von Problemen, bei denen von interessierter Seite so getan wird, als ob alles in Ordnung sei: Sicherheitslage auf Weihnachtsmärkten, Pisa-Ergebnisse in Schulen, Finanzierung bei der Rente. Da heißt es dann, das permanente Schlechtreden würde die Wähler verunsichern und damit das Vertrauen in die Demokratie untergraben.
Viele Bürger haben nicht auf Anhieb alle Fakten parat. Aber sie haben ein Gefühl dafür, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. Wenn die Regierung die Verlässlichkeit des Generationenvertrags beschwört und dann heimlich immer gigantischere Beträge ins System pumpt, damit das System nicht kollabiert, merkt auch der Begriffsstutzigste, dass etwas nicht stimmen kann. In Wahrheit ist das Geld, das man über die Jahre für das Alter eingezahlt hat, einfach weg. Damit der Schmu nicht auffliegt, gehen jetzt schon 120 Milliarden an Steuergeld für Stützungsmaßnahmen drauf, das ist ein Viertel des Bundeshaushalts.
Neulich hat die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche den unverzeihlichen Fehler begangen, zu sagen, dass wir in Zukunft wohl etwas länger arbeiten müssen, wenn wir uns unseren Wohlstand erhalten wollen. Es könne auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen.
Das galt als Tabubruch. Das Mantra der Regierung lautet, dass alle mehr davon haben, wenn wir laufend die Renten erhöhen – auch die Jungen, die es zahlen müssen. Weil: Dann ist ja das Rentenniveau höher, wenn sie später mal selbst in Rente gehen. Ich weiß, das klingt nach ziemlich übler Bauernfängerei, aber das ist das Argument von Bärbel Bas, unserer Sozialministerin.
In der realen Welt, außerhalb der Politik, wäre Frau Bas wegen Betreiben eines Schneeballsystems dran. Wenn man bei Google den entsprechenden Suchbegriff eingibt, erhält man folgende Definition: „Ein Schneeballsystem ist ein illegales Pyramidensystem, bei dem das Hauptziel die Rekrutierung neuer Mitglieder ist.“ Passt, würde ich sagen.
Teilnehmer zahlen Geld ein und werden ermutigt, weitere Mitglieder anzuwerben, deren Zahlungen dann an die Teilnehmer in der oberen Hierarchie weitergeleitet werden.“ Passt ebenfalls. „Das System kollabiert, da es nicht nachhaltig ist, weil es keine realen Produkte oder Dienstleistungen gibt, die den Wert der Zahlungen rechtfertigen.“ Also aus meiner Sicht beschreibt das ziemlich genau, wie bei uns das Rentensystem funktioniert.
Ich habe mich gefragt, was das eigentlich heißen soll: Die Leute würden im Zweifel das Original wählen? Gemeint ist vermutlich, dass sie immer der Partei den Vorzug geben, die die radikalste Antwort gibt. Aber das hat die SPD nicht davon abgehalten, den Mindestlohn zu erhöhen, obwohl die Linkspartei sehr viel weitergehende Vorschläge hat.
Was richtig ist: Es gibt immer jemand, der noch mehr zu bieten hat, also im Zweifel mehr Bürgergeld, mehr Rente, mehr Abschiebung. Dennoch wählen die Leute in der Mehrheit eher moderate Kräfte. Die Linkspartei verspricht den Leuten, das Rentenniveau auf 53 Prozent zu erhöhen. Die AfD will sogar auf 70 Prozent des letzten Nettoeinkommens hinaus.
Der Fehler, den die CDU macht, ist ein anderer. Sie tut zu wenig bei den Themen, bei denen ihr die Wähler etwas zutrauen. Die Unzulänglichkeiten bei der Einwanderung bekümmern viele Deutsche. Aber noch mehr beschäftigt sie derzeit ausweislich der Umfragen der beängstigend schlechte Zustand der Wirtschaft.
Man sollte meinen, dass die CDU davon profitiert. Bis heute trauen ihr die Wähler in Wirtschaftsdingen so viel zu wie keiner anderen Partei. Interessanterweise steht an der Spitze der Union auch ein Mann, der damit für sich Wahlkampf gemacht hat: den Laden wieder zum Laufen zu bringen. Dafür waren viele am Wahltag sogar bereit, darüber hinwegzusehen, dass sie ihn rasend unsympathisch finden. Aber wenn man ausgerechnet auf dem Feld versagt, auf dem man für sich besondere Kompetenz beansprucht, muss man sich nicht wundern, wenn die Leute den Glauben verlieren. Das scheint mir der Kardinalfehler der Regierung Merz und nicht, dass sie Dinge im Stadt- und Landesbild anspricht, die ohnehin jeder sehen kann.
Interessanterweise haben sich auch viele Journalisten angewöhnt, an den Problemen vorbeizuschreiben. Wenn es ein Milieu gibt, in dem es als der Weisheit letzter Schluss gilt, um bestimmte Themen einen großen Bogen zu machen, weil man sonst angeblich die Falschen stärkt, dann ist es die Medienwelt. Also setzt man den Lesern lieber lang und breit auseinander, weshalb die grüne Energiewende trotz aller Verwerfungen genau der richtige Weg ist. Oder erklärt ihnen, warum man den Kriminalstatistiken zur Ausländerkriminalität nicht trauen kann.
In einer Hinsicht funktionieren die Welt der Politik und die Welt des Journalismus sehr ähnlich: Beide hängen vom Zuspruch des Publikums ab. Man kann das als Politiker beziehungsweise Chefredakteur ignorieren. Aber dann passieren in der Regel zwei Dinge. Die Leute wenden sich ab (Auflagenschwund / Wählerschwund). Oder sie schauen sich nach Alternativen um. Aber möglicherweise fällt das auch schon unter die Themen, die man lieber nicht ansprechen sollte, weil sonst die Falschen profitieren.

© Michael Szyszka
