Erst setzt die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen den Ankauf von genug Impfstoff in den Sand. Jetzt wird von uns auch noch verlangt, das Debakel als Ausweis besonders raffinierter Verhandlungsführung zu sehen
Ich bin jetzt Impf-Nationalist. Ich bin schon vieles genannt worden, das noch nicht.
Um als Impf-Nationalist zu gelten, reicht es, dass man fragt, wo der Impfstoff bleibt. Oder Vergleiche anstellt mit Ländern, in denen es zügig vorangeht, weil sie genug Impfdosen bestellt haben.
Leute wie ich wollten Germany first, schrieb der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz. Nun gut, kann man sagen, wer ist Ruprecht Polenz? Ein 74-jähriger Politrentner, der in seinem Haus in Münster sitzt und sich aus Langeweile die Finger wund twittert. Aber auch gestandene Politiker wie der FDP-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff sind mit dem Vorwurf des Impf-Nationalismus schnell zur Hand.
Ich bin politisch ein relativ anspruchsloser Mensch. Mir reicht es, wenn die Leute, die einen regieren, den Job ordentlich machen, für den sie gewählt wurden. Da ist es für mich nebensächlich, ob sie in Brüssel oder in Berlin sitzen. Das ist wie im Nahverkehr. Wenn ich im Bus hinten einsteige, erwarte ich vom Busfahrer auch keine schwungvollen Reden, sondern dass er sich möglichst nicht verfährt. Aber das ist natürlich zu einfach gedacht. So zu denken gilt heute als rückständig.
Dabei wäre es so einfach gewesen. Wenn man beim Einkauf lebenswichtiger Güter nicht weiß, welcher Lieferant einem nur Versprechungen macht und wer am Ende sein Wort hält, bestellt man halt bei allen so viel, dass es in jedem Fall reicht. Aber genau das haben sie in der EU-Kommission nicht gemacht. Sie haben stattdessen nach Standort ausgewählt (Paris, Mainz) und nach Preis.
Wie man hört, war den Osteuropäern der Impfstoff aus Deutschland zu teuer. 20 Euro für eine Impfdosis? Das hätte man gerne billiger gehabt. Lasst uns Sanofi nehmen, die verlangen nur 7,56 Euro. Oder AstraZeneca, da gibt’s den Impfschutz schon für 1,78 Euro! Leider ist das billigste Angebot nicht immer das beste, das kennt man von der Schnäppchenjagd.
Es ist so verrückt. Für alles haben wir in Europa Geld. Wir legen für Milliarden Milchseen und Tomatenberge an. Gerade haben sie in Brüssel ein 1,8-Billionen-Paket zur Linderung der Kosten der Corona-Politik auf den Weg gebracht. Aber ausgerechnet beim Impfstoff, der den Ausnahmezustand beenden könnte, wollten sie sparen. Selbst wenn die Impfdose 100 Euro gekostet hätte, wäre das leicht bezahlbar gewesen. Für Deutschland hätte das acht Milliarden Euro bedeutet. So viel kostet uns der Lockdown pro Woche.
Noch verrückter ist, dass dieser Irrsinn in Teilen der Medien als besonders raffinierte Verhandlungsführung gelobt wird. In der „Süddeutschen Zeitung“ war zu lesen, dass es den Europäern gelungen sei, die Preise stabil zu halten. „Nach allem, was bisher bekannt ist, haben die USA und Israel mehr und rascher vom Biontech-Pfizer-Impfstoff bestellt; sie zahlen dafür aber auch einen sehr viel höheren Preis“, stand dazu im Leitartikel.
Das schreibt dieselbe Redaktion, die ansonsten jeden, der nach den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie-Politik fragt, als seelenloses Monster in die Ecke stellt. Nun wird also Geduld angemahnt und die Solidarität mit den europäischen Ländern beschworen, die noch weniger Impfstoff haben als wir.
Offenbar ist das Bedürfnis, die Kanzlerin zu schützen, so groß, dass dahinter alles andere zurücktritt, auch Logik und Selbstachtung. Manche machen nicht einmal mehr den Versuch, so etwas wie Unabhängigkeit an den Tag zu legen. Der ZDF-Korrespondent in Brüssel hielt noch den Sprechzettel mit den Stichpunkten aus der Pressestelle in der Hand, als er erklärte, warum man niemandem in der EU-Kommission einen Vorwurf machen könne.
Wie soll man das nennen? Journalismus im traditionellen Sinne ist das jedenfalls nicht mehr. Vielleicht sollte man von einem polit-medialen Komplex sprechen. Der Journalist entschuldigt die Regierenden für Fehler, die aus seiner Sicht gar keine Fehler sind, sondern Ausdruck von klugem Handeln. Ein Ministerpräsident der Partei, die Gesundheitsminister und Kanzlerin stellt, lobt dafür den Journalisten. Früher wäre so ein Lob für einen Journalisten ein Todesurteil gewesen, heute gilt es in Teilen der Branche als Beweis für besondere Vertrauenswürdigkeit.
Sicher, es hat immer etwas Naseweises, im Rückblick auf Fehler hinzuweisen. Aber das ist nun einmal die Aufgabenteilung zwischen Politik und Presse. Die Presse ist die Stimme, die verneint. Man muss ja nicht gleich so weit gehen wie der „Spiegel“, der in den 16 Jahren Kohl 29 Titelgeschichten hatte, in denen er das Ende der Kanzlerschaft des schwarzen Riesen herbeiwünschte. Aber wäre nicht wenigstens ein Titel drin, in dem man sich Angela Merkel kritisch vornimmt? Ein einziger?
Im Lockdown ist mehr unter die Räder geraten als das Recht, sich frei zu bewegen. Die ganze Statik, an der unsere liberale Demokratie hängt, wackelt auf bedrohliche Weise. Den Bürgern werden im Wochentakt Grundrechte genommen, ohne dass es dazu überhaupt noch eine Diskussion gibt. In Bayern fischen sie jeden von der Straße, der sich nach 9 Uhr abends außerhalb seiner vier Wände aufhält. Wenn man darauf hinweist, dass es nicht sehr viel Einfallsvermögen verlangt, die Leute zu Hause einfach einzusperren, erhält man zur Antwort, dass „einsperren“ das falsche Wort sei.
Es gibt auch keine wirkliche Opposition mehr. Die Grünen betrachten sich bereits als Teil der Regierung und haben alle Kritik eingestellt. Die Sozialdemokraten wissen nicht, wofür oder wogegen sie sein sollen. Manchmal sind sie beides am selben Tag. Die AfD ist nur noch eine Kasperletruppe. Wer die Maskenpflicht im Bundestag per Anwaltsschreiben aufzuheben versucht, hat sich aus dem Kreis derjenigen, die man ernst nehmen kann, verabschiedet. Bleibt die FDP – aber die ist zu schwach, um die Regierung herauszufordern.
Niemand bestreitet, dass die Franzosen den Biontech-Deal hintertrieben haben, auch das ist ein Ergebnis dieser verrückten Tage. Selbst der ZDF-Korrespondent, der eben noch die EU für ihre vorzügliche Verhandlungsführung lobte, räumt im Nebensatz ein, dass die Bestellung von mehr Impfstoff am Widerstand von Frankreich gescheitert sei, das ganz auf Sanofi setzte – so als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass Paris jede Frage nationalisiert, auch die des Überlebens in der Pandemie.
Die deutsche Position zu Europa schwankte immer schon zwischen Unterwürfigkeit und Naivität. Oder wie Margaret Thatcher einmal sagte: Entweder hat man die Deutschen am Hals oder an den Füßen. Was wir nicht begreifen, ist, dass andere Länder nicht schon deshalb ihre nationale Interessen aufgeben, weil wir uns europäisch vorbildlich verhalten. So gesehen war es von der Kanzlerin wahnsinnig blauäugig, die eigene Überlegenheit in der Impfversorgung durch besondere Demut Brüssel gegenüber kompensieren zu wollen.
Frankreich versteht Europa in erster Linie als Projekt zur Einhegung Deutschlands, auch das gehört zur Wahrheit. Das war beim Euro so, und das setzt sich bei jedem größeren Vorhaben und bei jeder Personalie fort. Es war die Idee von Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidenten zu nominieren. Er wird gewusst haben, warum.
Um sich die Absurdität der Situation zu vergegenwärtigen, muss man sich nur für einen Moment vorstellen, der erste Impfstoff wäre im Labor von Sanofi entwickelt worden, gefördert mit französischem Steuergeld und in enger Abstimmung mit dem Institut Pasteur.
Glaubt irgendjemand für eine Sekunde, die Franzosen hätten den Einkauf einer Psychologin aus Zypern überlassen, die es auf dem Quotenweg in das Amt des EU-Gesundheitskommissars verschlagen hat? Und dass sie es dann auch noch klaglos hingenommen hätten, wenn die völlig überforderte Frau beschlossen hätte, anderen Firmen den Vorzug zu geben, darunter Unternehmen, von denen nicht einmal klar war, ob sie je würden liefern können?
Wenn Europa heißt, dass man aus Solidarität jede Fehlentscheidung klaglos mitträgt, wird nicht nur der Impf-Nationalismus viele neue Freunde bekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass eine ganze Reihe Menschen dann ganz grundsätzlich an der europäischen Idee Zweifel bekommen wird.