Das EU-Parlament ist das einzige Parlament der Welt, das keine eigenen Gesetze vorschlagen darf. Jeder Beamte in Brüssel hat mehr Macht als ein Abgeordneter. Dennoch hängt das Land voll mit Wahlplakaten. Was soll man tun?
Soll man zur Europawahl gehen? Ich bin unschlüssig. Vergangene Woche kamen die Wahlunterlagen an. Dieses Mal gehe es um alles, heißt es.
Auf der Fahrt zur Schule komme ich jeden Morgen an den Wahlaussagen der Parteien vorbei. Die SPD verspricht, mehr gegen Hass und Hetze zu tun. So steht es auf einem Plakat, das am Eingang des Tierparks steht. Ich bin auch gegen Hass. Aber ich fürchte, wenn die Sozialdemokraten die Sache in die Hand nehmen, landen wir bei einem weiteren „Demokratiefördergesetz“, wie die Dauersubventionierung arbeitsloser Politologen bei der SPD heißt.
Die FDP verspricht Freiheit für die Wirtschaft, die Wirtschaft liebe Freiheit nämlich wie wir selbst. Das glaube ich gerne. Allerdings ist es nicht selten böse ausgegangen, wenn man Konzernlenker schalten
und walten ließ, wie sie wollten (siehe Finanzkrise). Weniger Bürokratie wäre da sicher treffender gewesen, aber das klang wahrscheinlich nicht schmissig genug.
Die Grünen sind für Menschenrechte und Ordnung. Interessante Kombination, dachte ich, als ich
das las. Ich hätte ja bei den Grünen eher auf irgendwas mit mehr Gefühl getippt. Welche Ordnung sie wohl meinen? Die des Stuhlkreises?
Wenn ich mich entscheiden müsste, dann würde ich vermutlich bei Volt landen: „Sei kein Arschloch.“ Kommt es am Ende nicht genau darauf an: Kein Arschloch geworden zu sein? Ob einem allerdings ausgerechnet die Politiker in Brüssel dabei helfen
können, da habe ich doch Zweifel.
Ich war vor ein paar Jahren zu einem längeren Besuch im EU-Parlament. Ein Parlament, das als einzige Volksvertretung der Welt keine eigenen Gesetze vorschlagen darf, schien mir allemal eine Reise wert. Das Mittagessen mit dem EU-Abgeordneten startete mit der Frage: „Wer übernimmt, Sie oder ich?“ Selbstverständlich übernahm ich. Viele Ab-geordnete haben gar kein Portemonnaie mehr dabei, wenn sie sich mit Leuten von außerhalb zum Essen verabreden, wie ich mir hatte sagen lassen.
Das Ergebnis meiner Reise war eine Kolumne, in der ich Brüssel mit Rom verglich – minus der Palmen, der Gladiatoren und der Sonne. Alles andere ist so, wie man es aus den Filmen kennt. Da ist das satte Machtgefühl einer Elite, die mit einem Fingerzeig über das Schicksal von Millionen
von Menschen entscheidet – da ist auch die lächelnde Herablassung für die Provinzen, aus denen das Geld kommt, das man dann im Zentrum des Imperiums in Ströme von Gold verwandelt. Der Text trug mir eine Nominierung der Europa-Union für den „größten europapolitischen Fauxpas“ des Jahres ein.
Ich habe nicht den Eindruck, dass sich inzwischen viel geändert hätte. Gemessen an den Demokratiestandards rangiert die EU irgendwo zwischen Bangladesch und Obervolta.
Sie halten das für eine Übertreibung? Ich empfehle das Gespräch, das die „Süddeutsche Zeitung“ mit dem EU-Abgeordneten Nico Semsrott geführt hat. Semsrott ist dieser depressive Satiriker, der immer im schwarzen Hoodie rumrennt und 2019 zusammen mit Martin Sonneborn für die Spaßpartei „Die Partei“ ins EU-Parlament einzog. Mit seinem Mitstreiter hat er sich zwischenzeitlich im Streit über einen Witz überworfen. Wie auch immer: Semsrott hat der „SZ“ ein ziemlich spektakuläres Interview gegeben.
So berichtete er, wie er einmal auf die verwegene Idee kam, bei der Parlamentsverwaltung nach der Höhe der Reisekostenerstattungen für die Jahre 2019 bis 2023 zu fragen. Semsrott ist Mitglied im Haushaltskontrollausschuss, da ist eine solche Auskunft eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen.
Aber nicht in Brüssel. Dort weigerten sich die Beamten einfach, die Zahlen herauszugeben. Er könnte jetzt nach Luxemburg gehen und das Europäische Parlament verklagen, aber dazu fehlt ihm die Kraft.
Ich habe bei dieser Gelegenheit gelernt, dass die EU-Abgeordneten bei ihren Kostenabrechnungen zum Teil nicht mal Belege einreichen müssen. Man kann sich also Reisen einfach ausdenken, wenn man will, und bekommt sie trotzdem erstattet. Auch das gilt als völlig normal. Semsrott hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Es heißt „Brüssel sehen und sterben“. Ich habe
es mir umgehend besorgt. Lassen Sie es mich so sagen: Nach der Lektüre weiß man, dass man sich bei Obervolta entschuldigen muss.
Man soll nicht immer nur aufs Negative fokussieren, schon wahr. Die EU hat auch ihre guten Seiten. Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass wir nachsichtiger mit uns selbst sein dürfen. Dass der Deutsche in der Bürokratie zu sich selbst finde, wird nicht einmal von denen bestritten,
die immer behaupten, dass so etwas wie ein Volkscharakter
pure Erfindung sei. Aber nicht nur der Deutsche liebt Bürokratie, wie sich zeigt. Auch der Italiener, Franzose und Belgier ist ganz vernarrt darin, die Welt mit immer neuen Regeln
und Vorschriften zu überziehen.
Beinahe jede Woche verlässt die Verwaltung eine Anordnung, die Europa zu einem noch sicheren, noch nachhaltigeren und überhaupt noch vorbildlicheren Kontinent machen soll.
Woher kommt diese Lust am Verordnen? Eine Erklärung wäre, dass wir es bei den Bewohnern des EU-Archipels mit einer überdurchschnittlich hohen Anzahl sadistisch veranlagter Menschen zu tun haben, die über das Erlassen immer neuer Richtlinien ihre Machtfantasien ausleben. Das hat einiges für sich. Ich glaube allerdings, der Grund ist simpler: Bei der Regelungswut handelt es sich vor allem um Selbstrechtfertigung.
Wären die Beamten in Brüssel so faul, wie ihnen gern unterstellt wird, würden sie den ganzen Tag in den Etablissements der Stadt ihre Zeit vertrödeln, in denen man fabelhaft speisen kann, wie ich mich habe überzeugen dürfen. Dummerweise gibt es aber auch in der Brüsseler Beamtenschaft eine Reihe von Leuten, die finden, dass sie für das
viele Geld, das sie verdienen, etwas leisten müssen. Also denken sie sich ständig neue Gesetze aus, die das, was gut ist, noch perfekter machen sollen.
Was sollen sie auch anderes tun? Kein Mensch braucht den riesigen Apparat. Allein bei der Kommission arbeiten 32 000 Menschen. Dazu kommen die Abgeordneten samt ihrer Mitarbeiter. Praktischerweise gibt es das meiste auch gleich doppelt, in Brüssel und in Straßburg.
Ich habe nichts gegen die EU, im Gegenteil. Als ich
neulich beim Wahl-O-Mat teilnahm, landete die AfD unter den von mir ausgewählten Parteien auf dem letzten Platz. Manchmal wird allerdings auch meine Geduld auf eine schwere Probe gestellt. Als der iranische Massenmörder Ebrahim Raisi Anfang der Woche bei einem Hubschrauber-Crash ums Leben kam, sorgte das insbesondere im Iran für spontane Freudenkundgebungen.
Waren alle froh, dass der Mann, den sie den Schlächter von Teheran nannten, sein verdientes Ende gefunden hatte?
Nein. Neben Russland und China drückten sowohl Josep Borrell, Außenbeauftragter der EU, sowie Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, im Namen Europas ihr aufrichtiges Beileid aus.
Wie wird man solche Kanaillen wieder los? Auf eine entsprechende Frage auf Twitter erhielt ich wenig ermutigende Auskünfte. „Die Lage ist aussichtslos“, schrieb mir ein Leser. Ein anderer wies darauf hin, dass Borrell Sozialdemokrat
sei und Michel Liberaler – also nicht SPD und FDP wählen, lautete die Empfehlung.
Einige Leser rieten dazu, am 9. Juni für „Die Partei“ zu stimmen. Vielleicht sollte ich das wirklich tun. An der Seite von Martin Sonneborn tritt die Schriftstellerin Sibylle Berg an. Ich bin mit ihr seit Jahren freundschaftlich verbunden. „Billige Mieten, billige Energie, billige Versprechen“: Das übertrifft außerdem in seiner Schlagkraft noch die Plakate von Volt.
Also: alle Stimmen für Martin und Sibylle. Manchmal kann einen nur noch der Humor retten.
© Silke Werzinger