Monat: Juli 2025

Plötzlich scheinen die Rechten cooler als die Linken

Eine Politikerin darf nicht zu Wort kommen, weil man jeden Satz so fürchtet, dass er sofort übertönt werden muss – lässt sich ein größeres Eingeständnis der Hilflosigkeit denken?

Wie muss man sich den gemeinen CDU-Abgeordneten vorstellen? Wenn man der stellvertretenden „Spiegel“-Chefredakteurin Melanie Amann glauben darf, dann so: als zitterndes Affektbündel, das seine Stichworte von rechts außen bezieht, unfähig zu einem eigenständigen Gedanken oder einer echten Gewissensregung, getrieben von der Angst vor populistischen Einpeitschern.

Wenn sie bei der Union über Migration, Bürgergeld oder neue Verfassungsrichter abstimmen: Es sind die „rechten Hetzportale“, die den Takt bestimmen. „Sie haben in Unionskreisen eine beängstigende Reichweite, und gegen ihre Propaganda fruchtet kein Argument. Diese Woche waren sie nicht nur wirkmächtiger als seriöse Medien, sie haben de facto die Unionsfraktion regiert.“ So stand es vor ein paar Tagen in einem „Morning Briefing“, so stand es mehr oder weniger offen auch in einem Leitartikel. Die Idee, dass CDU-Abgeordnete aus freien Stücken oder innerer Überzeugung handeln könnten? Für Frau Amann offenbar ausgeschlossen.

Von Charaktermasken sprach die RAF verächtlich, so drückt man sich heute nicht mehr aus. Aber gemeint ist Ähnliches. Auch deshalb hat der Fall Brosius-Gersdorf für die Linke solche Bedeutung. Er gilt als der Beweis für den Einfluss rechter Plattformen – oder wie es Lars Klingbeil ausdrückt: die Macht rechter Netzwerke.

Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft mir in den vergangenen Tagen das Schaubild eines grünen Thinktanks präsentiert wurde, wie man bei „Apollo News“, „Nius“ und „Tichys Einblick“ Stimmung gegen die Richterkandidatin macht. Umgekehrt liegt hier auch der Grund, weshalb unbedingt an Frauke Brosius-Gersdorf festgehalten werden muss. Würde man die Kandidatur zurückziehen, hätte man dem Druck der rechten Netzwerke ja nachgegeben.

Dass sie auch links der Mitte bei der Verschwörungstheorie angekommen sind, zeigt das Ausmaß der Verzweiflung. Wer sich die Welt nur noch als Ergebnis einer rechten Kampagne erklären kann, ist mit seinem Latein am Ende. Tatsächlich ist es wie so oft, wenn ein Thema hochkocht: Zum Schluss sind alle möglichen Leute beteiligt. Aber von der Beteiligung zur Anstiftung ist es ein großer Schritt.

Wo man überall nur noch Verschwörer sieht, neigt man zu Überreaktionen, auch das ist nahezu unvermeidlich. Wenn es ein Symbolbild gibt für die Hysterie, die das linke Lager erfasst hat, dann ist es der Protest gegen das ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel.

Eine Politikerin, die nicht zu Wort kommen darf, weil man jedes Wort so fürchtet, dass es übertönt werden muss – kann man sich ein größeres Eingeständnis der Hilflosigkeit vorstellen?

Kulturkampf war einmal die Paradedisziplin der Linken. Eine ganze Generation ist in dem Bewusstsein groß geworden, über die flotteren Begriffe, die prägenderen Überschriften und die zündenderen Ideen zu verfügen. Einer der Großmeister, der Theaterintendant Claus Peymann, wurde gerade zu Grabe getragen. Ich habe mich weidlich über ihn und den steuerfinanzierten Revolutionsgestus lustig gemacht, der nur mit ausreichend Staatsknete die Verhältnisse zum Tanzen bringt.

Aber erstens verdanke ich Peymann eine der besten Szenen meines Films „Unter Linken“. Wie er vor laufender Kamera die ihm gereichte Honorarvereinbarung unterschrieb, weil er nichts ohne Subvention machte, auch kein Interview mit „Spiegel TV“, ist wahnsinnig komisch.

Außerdem musste ich immer neidvoll anerkennen, dass Peymann in all seiner Großsprecher- und Angeberei eine Grandezza und Coolness besaß, von der die TikTok-Epigonen nur träumen können. Schaut man sich bei den Nachfolgern um, entdeckt man vor allem Angst und Langeweile. Wenn dort einer aus der Reihe tanzt, dann aus Versehen.

Ich komme aus dem goldenen Jahrzehnt der Theorie. Ich weiß noch, wie glitzernd und verführerisch die Linke sein konnte. Als ich die Uni besuchte, stand die Franzosenlehre hoch im Kurs. Michel Foucault, Jacques Derrida, Luce Irigaray, dazu natürlich ein strukturalistisch aufgebürsteter Marx. Auch wenn ich nur die Hälfte verstand, fühlte ich mich doch als Eingeweihter. Keine Ahnung, was die Juso-Anführer so lesen. Aber ich fürchte, wenn man ihnen mit dem Überbau kommt, schlagen sie einem als Erwiderung das Berliner Enteignungsgesetz um die Ohren.

Der für die Grünen zuständige „Zeit“-Redakteur Robert Pausch hat neulich in einem längeren Artikel festgehalten, dass die interessantesten Debatten heute bei der Rechten stattfinden würden. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war ein Rededuell, das sich das Verlegerpaar Götz Kubitschek und Ellen Kositza mit dem AfD-Auf- und Anrührer Maximilian Krah zum Begriff „Remigration“ geliefert hatte.

Der Text von Pausch (Kernsatz: „Die radikale Rechte ist heute der Ort, an dem am lebhaftesten über Politik diskutiert wird“) hat für einige Furore gesorgt. Im eigenen Blatt wurde Pausch sofort getadelt, er unterschätze die Gefährlichkeit der Bewegung. Aber ich denke, er hat recht. Was Scharfsinn und Belesenheit angeht, steckt einer wie Kubitschek jeden, der bei den Linken den Ton angibt, in die Tasche. Das ist am Ende wie vieles andere auch eine Frage der Bildung.

Die Anhänger von Rot-Grün ziehen sich jetzt auf das Argument zurück, SPD und Grüne seien vielleicht etwas langweilig, aber dafür verlässlich. Wenn man sich die neue SPD-Vorsitzende Bärbel Bas ansieht, fällt es schwer zu widersprechen. Dass von Frau Bas auch nur ein Satz zu erwarten wäre, der über Parteistanzen hinausginge, glauben nicht einmal die treuesten Fans.

Deshalb darf auch in keinem Porträt der Hinweis fehlen, dass sie aus einfachen Verhältnissen stamme. So will man Kritik vorbeugen. Dabei verrät der Satz eine erstaunliche Unkenntnis der einfachen Verhältnisse. Gerade dort, wo man sich einen klaren Blick auf die Dinge bewahrt hat, sprechen viele eine anschauliche und oft auch humorvolle Sprache.

Eine der lustigsten Szenen aus dem Innenleben des Bundestags, die sich im Netz finden lassen, zeigt eine Schulklasse, die bei Alice Weidel für Selfies ansteht, während die Lehrerin verzweifelt zum Aufbruch drängt. Jugendliche haben ein untrügliches Gefühl, wer cool ist und wer nicht. Dagegen kommen weder die Omas gegen Rechts mit ihren Trillerpfeifen an noch der Lärmbus des Zentrums für Politische Schönheit.

Was vielen, die ständig gegen rechts anschreiben, völlig zu entgehen scheint, ist, welch unverhofftes Geschenk sie denjenigen bereiten, die zu verachten sie vorgeben. Wäre ich Julian Reichelt, könnte ich mein Glück nicht fassen. Was kann einem Besseres passieren, als vom „Spiegel“ attestiert zu bekommen, dass man mehr Einfluss besitzt als der „Spiegel“ selbst? Das ist der Ritterschlag.

„Wirkmächtiger als seriöse Medien“? Ich halte das für großen Unsinn. In Wahrheit erreichen Plattformen wie „Nius“ und „Apollo News“ nur diejenigen, die ohnehin überzeugt sind. Aber ich würde das an deren Stelle sofort auf die Werbeplakate schreiben. Und wer weiß: Wenn man es lange genug behauptet, wird es irgendwann sogar wahr.

© Silke Werzinger

Was uns der Fall Brosius-Gersdorf lehrt

Mit dem Votum gegen Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin hätten sich CDU und CSU aus der demokratischen Mitte des Landes verabschiedet, erklärt der grüne Parteichef. Wenn er sich da mal nicht täuscht

Knapp 40 Millionen Deutsche sind Mitglied einer christlichen Kirche, 20 Millionen bei den Katholiken, 18 Millionen bei den Protestanten. Ich glaube, das ist vielen, die über Politik urteilen, nicht klar.

Der vorherrschende Eindruck ist, dass wir in einem durchsäkularisierten Land leben, in dem nur noch ein paar Käuze an so etwas wie Gott glauben. Wenn über die Kirche geschrieben wird, dann über Missbrauchsfälle oder den Einsatz der Kirchenoberen fürs Tempolimit.

Überhaupt herrschen über die Lebensverhältnisse in Deutschland eher irrige Vorstellungen. Wer eine der führenden Zeitungen des Landes aufschlägt, muss zu dem Schluss kommen, dass die Mehrheit der Deutschen mit dem Gedanken an den drohenden Klimatod aufwacht und sich dann fragt, wie sie sich so ausdrücken können, dass sich niemand zurückgesetzt oder beleidigt fühlt.

Der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der über ihn berichtet wird, lebt der Durchschnittsbürger in ergrünter Innenstadtlage auf gewachster Altbaudiele, wo man schon deshalb über den Autowahn der Deutschen den Kopf schüttelt, weil der Stellplatz vor der Tür der radgerechten Stadt zum Opfer gefallen ist.

Das ist nur nicht die Realität in Deutschland. Die Realität ist: In Großstädten, also Städten mit mehr als 400 000 Einwohnern, leben lediglich 17 Prozent der Deutschen – was möglicherweise erklärt, warum der Bundeskanzler Friedrich Merz und nicht Robert Habeck heißt. Jeder zweite Deutsche ist Mitglied in einem Verein, obwohl das Vereinswesen als Inbegriff der Spießigkeit gilt. 70 Prozent der Kinder kommen nach wie vor in einer Ehe zur Welt, allem Gerede über die Vorzüge von Patchwork zum Trotz.

Warum ich das schreibe? Weil die Fehlwahrnehmung, was normal ist und was nicht, Folgen hat. Wer nach einer Erklärung sucht, weshalb die Wahl der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf so schrecklich schiefgehen konnte, findet sie in der Verwechslung von Mehrheit und Minderheit.

Der grüne Parteivorsitzende Felix Banaszak ließ sich nach der Verschiebung der Richterwahl zu folgendem Statement hinreißen: „CDU und CSU haben sich heute aus der demokratischen Mitte unseres Landes verabschiedet. Man kann nur hoffen, dass sie den Weg zurückfinden.“ Seine Parteifreundin Renate Künast setzte noch einen drauf, indem sie schrieb: „CDU auf Kurs Abschaffung der Demokratie und des Rechtsstaates.“

Das ist der Stand der Debatte: Wer es nicht übers Herz bringt, eine Frau zu wählen, die die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung für obsolet erklärt und den Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft zu einer reinen Privatsache machen will, hat den demokratischen Rahmen verlassen.

Die CDU habe sich von rechten Influencern in eine Kampagne hineintreiben lassen, lautet jetzt die Lesart im linken Lager. Die Kandidatin sei eine über jeden Zweifel erhabene Juristin, gegen die niemand klaren Verstandes Einwände vorbringen könne. Das ist die Deutung von Leuten, die lange nicht mehr vor die Tür getreten sind, würde ich sagen.

Wer ist die Mitte? Die Mitte fährt Auto, und das ganz konventionell. Sie hört Helene Fischer und schunkelt auch bei „Layla“ ohne schlechtes Gewissen mit. Wenn sie morgens aufsteht, fragt sie nicht als Erstes nach der Work-Life-Balance, sondern sorgt dafür, dass Deutschland einigermaßen funktioniert.

Die Mitte benutzt Worte, für die man beim „Spiegel“ sofort vor die Tür gesetzt wird, und lacht an Stellen, an denen es sich nicht gehört. Sie trägt im Zweifel Tracht, mag Volksmusik und ist bei der freiwilligen Feuerwehr. Kurz: Sie ist so, wie man links der Mitte als Eltern seinen Kindern immer gesagt hat, wie sie nie werden sollen.

Die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner berichtete neulich, wie sich die Reaktionen auf ihren Flaggenerlass unterscheiden. In Berlin herrscht Fassungslosigkeit, dass Klöckner die Regenbogenflagge nur noch einmal im Jahr auf dem Reichstag erlauben will. Im Bundestag gab es dem Vernehmen nach Tränen. Aber sobald Klöckner zu Besuch in ihrer Heimat ist, spielt das Thema keine Rolle. Oder die Leute bestärken sie in ihrer Auffassung, dass die Queer-Bewegung eine politische Bewegung wie andere ist, also nicht schlechter, aber auch nicht besser.

Das Provinzielle stand in Deutschland immer unter Verdacht. Die Provinz gilt als Hort des Betulichen und Beschränkten, Brutgebiet der Intoleranz, die auf alles Fremde mit Ablehnung reagiert. Nicht viel besser steht es um den Ruf des Vororts. Die Reihenhaussiedlung im Grünen ist die Endstation des Mittelschichtspaars mit Nachwuchs, Schauplatz von Nachbarschaftsstreitigkeiten, stillen Ehedramen und Kindesmisshandlung. Wer hier landet, so muss man es verstehen, hat mit seinem Leben abgeschlossen.

Ich würde dagegenhalten, dass wir in Wahrheit ein erstaunlich tolerantes und liberales Land sind. Dafür sprechen alle soziologischen Befunde. Noch die tolerantesten Menschen lassen sich allerdings so weit in die Ecke treiben, dass sie biestig werden. Man muss ihnen nur ständig vorhalten, wie rückständig sie denken.

Der Streit über den Paragrafen 218 ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel, wie weit sich die Berliner Sicht von der Sicht im Lande entfernt hat. Frau Brosius-Gersdorf mag in der rot-grünen Szene ein Star sein. Die meisten finden ihre Position zur Abtreibung fragwürdig oder lehnen sie rundweg ab.

Warum einen Kompromiss aufkündigen, der das Land befriedet hat? Es wird immer Menschen geben, denen der Paragraf 218 zu weit geht – oder eben nicht weit genug. An dem einen Ende der Skala stehen die Lebensschützer, die vor den Beratungsstellen von Pro Familia Mahnwachen abhalten – am anderen Ende befindet sich die „Mein Bauch gehört mir“-Fraktion, die am liebsten Abtreibung bis zur Geburt straffrei stellen würde.

Aber das ist nicht die Mitte, von der Felix Banaszak spricht. Die Mitte findet, dass es sich mit dem Kompromiss, den das Verfassungsgericht fand, leben lässt. Keine Frau, die ihr Kind nicht austragen will, wird dazu gezwungen – gleichzeitig aber erinnert der Paragraf 218 daran, dass wir es vermeiden sollten, menschliches Leben zu beenden.

Zur Wahrheit gehört, dass ein wichtiger Grund für eine Abtreibung heute eine mögliche Behinderung des Kindes ist. Die Pränataldiagnostik ist auf einem Stand, dass selbst kleinste Chromosomenstörungen auffallen. Der Harmony-Test, den auch die Krankenkassen bezahlen, erfasst zuverlässig Trisomie 21, 18 und 13. Das teurere Kingsmore-Panel liefert Hinweise auf mehr als 500 genetische Auffälligkeiten.

Man sieht den Erfolg im Straßenbild. Als ich zur Schule ging, gehörten Kinder mit Downsyndrom zum Alltag, heute sind sie die große Ausnahme. Meine Tochter besucht eine Montessori-Schule. Das gemeinsame Lernen mit behinderten Kindern ist dort Teil des Konzepts. Jedes Mal, wenn ich sie abhole, fällt mir auf, was wir an Selbstverständlichkeit verloren haben.

Es sind übrigens oft Frauen, die in der Kirche verwurzelt sind, die sich gegen eine Abtreibung entscheiden. Man kann den Glauben in Zweifel ziehen. Oder es wie der SPD-Fraktionschef Matthias Miersch empörend finden, wenn sich die Kirche in die Debatte einschaltet. Aber auch Herr Miersch kommt nicht an dem Umstand vorbei, dass viele Menschen, die in der Kirche sind, anders über den Schutz ungeborenen Lebens denken als Menschen, denen der Glaube wenig oder nichts bedeutet.

Am Ende steht Katzenjammer

Die einzige Berufsgruppe, bei der sich jede Kritik verbietet, sind Richter. Was immer sie entscheiden, hat der Bürger klaglos hinzunehmen. Dabei zeigt das Ringen um die Besetzung des Verfassungsgerichts, wie politisch auch Gerichte sind

Eines der zentralen Versprechen der Union ist es, den ungesetzlichen Zustand an den Grenzen zu beenden. Jeden Tag kommen Menschen, die auf Nachfrage nicht einmal sagen können, wie sie heißen oder wie alt sie sind. Beziehungsweise sie zeigen Papiere vor, die zwar Namen und Altersangaben enthalten, sich aber schon bei flüchtigem Augenschein als gefälscht erweisen. Bisher ist die übliche Praxis, diese Menschen erst einmal freundlich ins Land zu bitten, um dann mit ihnen gemeinsam den mühseligen Prozess der Prüfung ihres Asylantrags zu beginnen. Da dieses Verfahren oft Jahre dauert, hat sich ihr Aufenthaltsstatus am Ende allein aufgrund der inzwischen verflossenen Zeit so verfestigt, dass an eine Abschiebung nicht mehr zu denken ist.

Die neue Regierung will das ändern. Deshalb hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt die Grenzpolizei angewiesen, Asylbewerber in das Nachbarland zurückzuweisen, aus dem sie gekommen sind. Er kann sich dabei auf die Verfassung berufen. Wer aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreist, und das sind nach Lage der Dinge alle Länder um Deutschland herum, hat keinen Anspruch auf Asyl. So steht es in Artikel 16a des Grundgesetzes.

Anfang Mai griff die Polizei im Bahnhof von Frankfurt (Oder) drei Somalier auf, die über Polen eingereist waren. Es war ihr dritter Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen. Kurioserweise waren die Flüchtlinge mit jedem Grenzübertritt nicht nur juristisch besser beraten, sondern auch von Mal zu Mal jünger. Der Fall ging vor das Verwaltungsgericht in Berlin, das in einem Eilentscheid die Abschiebung für rechtswidrig erklärte.

Seitdem herrscht große Aufregung. Der Innenminister tat das Urteil als Einzelfall ab, was ihm wiederum den Vorwurf eintrug, geltendes Recht zu brechen. Von einem „gruseligen Rechtsverständnis“ sprach die „Tagesschau“ in einem Kommentar, das Verhalten des Ministers sei „besorgniserregend“. Dass in dem Zusammenhang auch die (grüne) Parteizugehörigkeit des Richters zur Sprache kam, wurde als besonders anstößig empfunden.

Die einzige Berufsgruppe, bei der sich jede Kritik verbietet, ja bei der diese als geradezu staatsgefährdend gilt, ist die Richterschaft. Egal was ein deutscher Richter entscheidet, der Bürger hat es klaglos hinzunehmen. Wer mault oder die Beweggründe hinterfragt, gilt als gefährlicher Querulant, der an den Grundfesten des Gemeinwesens rüttelt.

Wie sich denken lässt, ist auch die Justiz von politischen Moden nicht frei. Es wäre weltfremd anzunehmen, dass Richter mit dem Überstreifen der Robe ihre politischen Überzeugungen ablegen würden. Aber das ist die Fiktion, an die zu glauben die Deutschen aufgefordert sind.

Besagter Verwaltungsrichter in Berlin beispielsweise hat eine Blitzkarriere unter seinem Parteifreund, dem grünen Justizsenator Dirk Behrendt, hingelegt. Behrendt hat sich nicht nur einen Namen wegen eines sehr eigenwilligen Rechtsverständnisses gemacht, sondern auch als besonders eifriger Advokat der linken Sache. Beim Abschied aus dem Amt konnte er sich zu Recht der Grünfärbung der Berliner Justizlandschaft rühmen.

Ich erinnere mich gut an die Kommentare, als vor zwei Jahren in Tel Aviv Tausende auf die Straßen gingen, um gegen die Pläne des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu protestieren, der Politik bei der Richterauswahl Einfluss zu verschaffen. Was Netanjahu in Israel einführen wollte, ist bei uns seit Langem üblich. Kein Verfassungsrichter, den nicht die Parteien nach Karlsruhe entsendet hätten. Und selbstverständlich verbinden sich mit der Ernennung Erwartungen. Wäre es anders, würde über die Auswahl ja nicht so hart gerungen.

Wer das Bundesverfassungsgericht politisiere, der delegitimiere eine der letzten angesehenen demokratischen Institutionen, heißt es auch jetzt wieder von linker Seite. Das ist kurios, denn SPD und Grüne haben mit der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf eine Kandidatin ins Feld geführt, die jedes Klischee der Aktivistin erfüllt, bis hin zum SPD-Doppelnamen. Alles, was in linken und sehr linken Kreisen en vogue ist, findet in ihr eine Befürworterin.

Frau Brosius-Gersdorf hält die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, für „einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss“. Sie befürwortet Frauenquoten auf Wahllisten und widerspricht damit der gängigen Auffassung, wonach Frauen Männer repräsentieren können und Männer Frauen. Sie hielt in der Corona-Epidemie eine Impfpflicht für geboten, würde gerne das Grundgesetz durchgendern und hat auch nichts gegen das Kopftuch im Justizdienst. Selbstverständlich unterstützt sie ein Verbotsverfahren gegen die AfD, wie sie bei „Markus Lanz“ ausführte.

Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder schilderte in einer Anekdote das Sendungsbewusstsein der Kandidatin. Während einer zufälligen Begegnung anlässlich einer Ballnacht in Berlin sei sie von dieser sofort in Beschlag genommen und in eine Diskussion über das Ehegattensplitting verwickelt worden. Alle Versuche, zum Small Talk zurückzukehren, seien gescheitert. „Ich weiß noch, wie befremdlich ich dieses aktivistische Auftreten bei einem feierlichen Anlass fand“, berichtete Schröder.

Dass man über die Justiz Macht ausüben kann, haben die Linken früh begriffen. Deswegen nahmen die Achtundsechziger bei ihrem Marsch durch die Institutionen besonders das Rechtswesen in den Blick. Dafür waren sie sogar bereit, sich den anstrengenden Auswahlverfahren zu unterziehen.

Soll das Volk doch wählen, wen es will. Am Ende entscheidet man am Richtertisch, welche parlamentarischen Beschlüsse Bestand haben und welche nicht. Dann ist der Soli eben doch kein Soli, sondern eine Reichensteuer, das Bürgergeld eine Art Grundeinkommen und die Kontrolle der Grenze ein Verstoß gegen Europarecht.

Am Montagabend empfahl der Wahlausschuss des Bundestags die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf als neuer Verfassungsrichterin. Zuvor hatte schon die CSU beigedreht: In einer Zeit, in der Demokratie von den Rändern unter Druck gerate, brauche es ein Zeichen des Zusammenhalts. Wenn Sie mich fragen, droht der Demokratie eher Gefahr durch Urteile, die sich weit von der Mitte wegbewegen.

Auch die Union hatte ursprünglich einen eigenen Kandidaten, den Verwaltungsrichter Robert Seegmüller. Aber den wollten Sozialdemokraten und Grüne nicht. Seegmüllers Vergehen? Er hatte vor Jahren in einem Interview mal darauf hingewiesen, dass die nationale Rechtslage durchaus Zurückweisungen an der Grenze erlaube. Damit war er raus. Politische Zuspitzung vertrage sich schlecht mit dem hohen Karlsruher Amt, hieß es anschließend in einem Kommentar. Deswegen stand ja nun auch Frau Brosius-Gersdorf auf der Vorschlagsliste.

Es ist wie immer in solchen Fällen: Die Union gibt sofort nach, wenn sie es bei Rot-Grün verlangen. Stößt der eigene Vorschlag auf Skepsis, entschuldigt man sich.

Auf X, wie Twitter heute heißt, habe ich folgenden Eintrag gelesen: „Die CDU hat die Grünen unterschätzt. Die CDU hat die Identitätspolitik unterschätzt. Die CDU hat die Unterwanderung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterschätzt. Die CDU hat die links-grünen NGOs unterschätzt.“

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich den Katzenjammer auszumalen, sollte das Verfassungsgericht in strittigen Fragen zum sozialdemokratischen Regierungspartner halten. Aber das ist ja das Wesen des Katzenjammers: Er kommt immer zu spät.

Die Selbstverstümmelung

»Wie soll man einem Medium vertrauen, dessen eigene Angestellte glauben, dass man gewisse Sichtweisen lieber nicht äußert?« Diese Frage stellte »Zeit«-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Tja

Anlässlich des 75. Geburtstags der „Zeit“ verfasste der Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im Februar 2021 ein leidenschaftliches Plädoyer für die Meinungsfreiheit. Der Text stand unter der Überschrift „Wofür stehen wir?“ und entfaltete auch deshalb Wirkung, weil di Lorenzo, anders als viele erwartet hatten, die Feinde der Freiheit vor allem links der Mitte ausmachte.

Er erinnerte an den Fall einer Food-Kolumnistin, die ihren Job verlor, weil sie als Weiße zwei Frauen mit asiatischen Wurzeln kritisiert hatte. Er nannte den Fall von Donald McNeil, einem allseits anerkannten Wissenschaftsjournalisten, der in einer Diskussion das sogenannte N-Wort benutzt hatte, nicht in böser Absicht, sondern als Zitat, was seine Verfolger aber nicht davon abhielt, ihn so lange zu jagen, bis sie seine Kündigung erreicht hatten. Er zitierte einen Bericht, wonach die Hälfte der bei der „New York Times“ tätigen Journalisten Angst hätten zu schreiben, was sie denken

Der Leitartikel endete mit dem Appell, auch abweichenden Meinungen Platz zu geben. „Wie soll man einem Medium vertrauen, dessen eigene Angestellte glauben, dass man gewisse Sichtweisen lieber nicht äußert?“

In Teilen der „Zeit“-Redaktion rief der Kommentar Bestürzung hervor. Das helle Deutschland vereint im Kampf gegen rechts – und dann schert ausgerechnet der eigene Chefredakteur aus und erklärt die übertriebene Political Correctness zur eigentlichen Gefahr? Das kann ja wohl nicht wahr sein!

Di Lorenzo hatte recht. Und es ist sein eigenes Blatt, das dieser Tage Anschauungsmaterial liefert, wie recht er doch hatte.

Es gibt viele gruselige Wörter. „Depublikation“ steht ganz oben. Am Donnerstagabend vergangener Woche gab die Redaktion bekannt, dass sie eine Kolumne ihres Autors Maxim Biller „depubliziert“ habe. Der Beitrag habe mehrere Formulierungen enthalten, die nicht den Standards der „Zeit“ entsprochen hätten, hieß es in einer knappen Erklärung. „Unsere aufwändige redaktionelle Qualitätssicherung hat leider nicht gegriffen.“

Ich bin seit Langem Abonnent der „Zeit“. Ich gehöre zu denen, die auf das Privileg bestehen, sie am Donnerstag im Briefkasten vorzufinden. Ich habe mir also sofort das Feuilleton gegriffen, und siehe da, da stand der depublizierte Text, 124 Zeilen in schönstem Biller-Deutsch über die merkwürdige Obsession der Deutschen mit Israel. Was bedeutete, dass jeder sein Fett abbekam, angefangen bei Markus Lanz, von dem es hieß, er rolle beim Thema Nahost die Augen wie Elon Musk auf Ketamin.

Die Löschung ist auf vielen Ebenen ein beispielloser Vorgang, auch beispiellos bescheuert. In ihrer Werbung stellt die „Zeit“ gerne die wachsende Auflage heraus. 600 000 Käufer findet die Wochenzeitung jede Woche. Aber offenbar hält das Blatt seine Print-Käufer für altersschwache Zausel, die ohnehin nicht mehr begreifen, was man ihnen vorsetzt. Anders ist es nicht zu verstehen, dass man meint, einen Text erledigt zu haben, wenn man ihn aus der Online-Ausgabe im Netz entfernt.

Auch menschlich ist der Vorgang bodenlos. Biller ist der „Zeit“ seit Jahrzehnten verbunden, sein erster Text erschien 1985. Aber wenn die Verantwortlichen meinen, ihre „aufwändigen Qualitätssicherungen“ seien unterlaufen worden, zählt das nicht. Dann setzt man den Autor in knappen Worten in Kenntnis, dass man einen seiner Texte entfernt hat. Jedes Einwohnermeldeamt verhält sich da rücksichtsvoller.

Wenn man sich unter den Redakteuren umhört, wie es zu diesem Akt der Selbstverstümmelung kommen konnte, verweisen sie auf die Unruhe in Teilen der Redaktion. Es ist wie so oft in solchen Fällen: In den Kommentarspalten versammeln sich die Leute, die umgehend Konsequenzen verlangen. Aber die eigentlichen Heckenschützen sitzen im eigenen Haus.

Die „Zeit“ ist in der Frage, wie viel Meinungsfreiheit sie zulassen soll, tief gespalten. Die Linie verläuft ziemlich genau entlang der neuen und der alten Welt. Die Vertreter einer robusten Meinungsfreiheit, die im Zweifel auch Texte einschließt, die übers Ziel hinausschießen, finden sich vor allem in der Printredaktion. Die eher aktivistisch gesinnte Fraktion, die bei jedem Artikel zuerst die Frage stellt, wem er nutzt, trifft man hingegen mehrheitlich bei den Onlinern. So gesehen handelt es sich bei der Biller-Abstrafung auch um eine Machtdemonstration des zum Co-Chefredakteur aufgestiegenen Online-Chefs Jochen Wegner.

Die Trennlinie geht durch viele Redaktionen. Ich erinnere mich gut an eine der ersten Konferenzen beim „Spiegel“ nach der Zusammenlegung von Print und Online. Greta Thunberg stand damals noch am Anfang ihrer Karriere, ihr Talent war aber schon ersichtlich.

„Haben wir etwas zu Thunberg im Heft?“, fragte einer der Ressortleiter in die Runde. „Ich glaube, Fleischhauer macht etwas dazu in seiner Kolumne“, antwortete der Chefredakteur. Worauf
jemand in einer der hinteren Reihen, wo die Online-Kollegen Platz genommen hatten, Würgegeräusche imitierte. Diesen Umgangston kannte man bislang beim „Spiegel“ nicht. Auf seine hanseatische Contenance war man an der Ericusspitze immer stolz gewesen, auf die hanseatische Liberalität auch.

Wenn man einmal auf dem Weg nach unten ist, rutscht man irgendwann immer schneller. Auf die Depublikationsnotiz folgte die Erklärung einer Verlagssprecherin, man halte einige Formulierungen in der Biller-Kolumne für „nicht vertretbar“. Man hätte zu gern gewusst, über welche Expertise die Sprecherin verfügt, um sagen zu können, wo die sprachliche Zurechnungsfähigkeit bei einem der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren endet.

Wäre ich bei der „Zeit“, ich würde vor Scham ins Grab sinken. Die Tantenhaftigkeit, die behördenhafte Eilfertigkeit und die grandiose Selbstüberschätzung sind jede für sich genommen schlimm – in der Kombination rechtfertigen sie die sofortige Abo-Kündigung. Oder muss man sagen: Abo-Depublikation?

Billers Text sei durchgerutscht, heißt es jetzt aus der Redaktion. Der diensthabende Feuilletonchef habe nicht richtig draufgesehen, was so nie hätte passieren dürfen. Warum eigentlich nicht? Weil es über die Hungerblockade von Gaza heißt, sie sei unmenschlich, aber strategisch richtig? Oder weil in der Form eines Witzes auf das Dilemma des Soldaten hingewiesen wird, der jeden Tag Menschen erschießen muss, da es keinen Staat Israel mehr gäbe, wenn er die Waffe niederlegte?

Es ist nicht die KI oder die Macht der amerikanischen Monopole, die meiner Profession den Garaus macht. Es ist die Angst anzuecken. Wenn man nach einem Grund sucht, warum
immer mehr Leute das Gefühl haben, sie kämen auch ohne Zeitungsabonnement aus, dann liegt er hier.

Man kann es den Lesern nicht verdenken. Was sollen sie von Journalisten halten, die behaupten, sie hätten keine Angst vor den Mächtigen, aber schon wegen eines scharfen Absatzes von den Socken sind? Lasst die Kritiker doch meckern, würde ich sagen. Wenn sie sich aufregen, umso besser. Im Zweifel steht im nächsten Heft eine deftige Replik.

Aber das traut man sich nicht. Dann müsste man ja beweisen, dass man besser und schärfer schreiben kann als der Angegriffene. Dazu sind die meisten nicht in der Lage. Wer jeden Tag mit dem Gedanken aufwacht, was er alles nicht sagen und schreiben darf, ist dann leider ziemlich hilflos, wenn er mal richtig hinlangen soll. Deshalb bleibt als letzter Ausweg nur die Löschung.