Die Bundeszentrale für politische Bildung fordert dazu auf, sich „radikal“ mit „Fettfeindlichkeit“ auseinanderzusetzen. Gleichzeitig warnt die Regierung vor den Gefahren des Übergewichts. Wie passt das zusammen?
Darf man über dicke Menschen sagen, dass sie dick sind? Oder gilt das bereits als unzulässige Abwertung? Heikle Frage.
Auch die Bundesregierung scheint unentschlossen, wie sie die Sache sehen soll. Auf der einen Seite werden wir mit Informationen bombardiert, welch schädlichen Einfluss falsche Ernährung auf unsere Gesundheit hat. Das Gesundheitsministerium warnt eindringlich vor den Gefahren der Fettleibigkeit.
Anderseits fördert die Regierung über die Bundeszentrale für politische Bildung Projekte, bei denen dazu aufgerufen wird, sich „radikal“ mit „Fettfeindlichkeit“ auseinanderzusetzen. „Wir müssen verstehen, dass Normschönheit weißes Kapital ist. Und dass es damit wie bei allen Diskriminierungsformen vor allem eines auf sich hat: den Erhalt weißer und patriarchaler Machtstrukturen“, erklärt Mino, eine der Botschafterinnen der von der Bundeszentrale geförderten Initiative „Say My Name“.
Das sollte einem zu denken geben. Wer Vorbehalte gegen den Genuss bestimmter Lebensmittel äußert, weil sie angeblich die Figur ruinieren, verhält sich nicht nur diskriminierend, er ist auch noch Rassist. Dann doch lieber dick.
Es ist eine ganze Theorie rund um das Thema Körpergewicht entstanden. Man spricht von „Lookismus“, wenn Menschen aufgrund ihres Aussehens beurteilt werden. Weil jeder Kommentar über das Erscheinungsbild anderer auf eine Bewertung hinausläuft, enden auch scheinbar unschuldige Bemerkungen zwangsläufig in Diskriminierung. Diskriminierung ist aber genau das, was wir vermeiden wollen.
Deshalb: Der Blick des aufgeklärten Menschen gleitet wohlgefällig über alle Formen und Größen hinweg, egal ob dick oder dünn. Das Plus-XXL-Model erscheint ihm genauso attraktiv wie die Normschönheit mit der Wespentaille. Begriffe wie „hässlich“ oder „gut aussehend“ haben für ihn jede Bedeutung verloren.
So weit die Theorie. Allein, wie es so oft ist, wenn wir die eigene Natur zu überlisten versuchen: Zwischen Theorie und Praxis klafft ein Loch. Ach, was sage ich, „ein Loch“. Ein Spalt so tief wie der Marianengraben!
Vor zwei Wochen musste die Bekleidungsmarke „Ma-chines for Freedom“ die Aufgabe ihres Geschäfts bekannt geben. „Machines for Freedom“ hatte sich auf die Herstellung von „inklusiver“ Bekleidung für „Fahrradfahrerinnen aller Größen und Formen“ spezialisiert. Schweren Herzens nehme man von der Community Abschied, erklärte die Firmengründerin über Instagram. Offenbar scheuen auch viele übergewichtige Menschen davor zurück, sich in eine Pelle zu zwängen, die einen wie eine zu stark erhitzte Wurst aussehen lässt – allen Beteuerungen, dass dies ganz fabelhaft aussehe, zum Trotz.
Schönheit ist ein Skandal. Dass die Natur einige Menschen bevorzugt haben könnte, ist in unserer gleichheitsfixierten Zeit nicht mehr vorgesehen. Studien zeigen, dass es gut aussehende Menschen im Leben deutlich leichter haben. Schöne Menschen sind nicht nur bei der Partnerwahl im Vorteil, sie steigen im Berufsleben auch schneller auf, weil ihnen mehr zugetraut wird. Angeblich summiert sich der Mehrverdienst bei attraktiven Menschen gegenüber ihren weniger attraktiven Kollegen im Laufe des Berufslebens auf durchschnittlich 210000 Euro. Sogar bei Straftätern zahlt sich Schönheit aus: Hübsche Menschen bekommen höhere Strafnachlässe als hässliche.
Das ist natürlich zutiefst ungerecht. Was kann der Hässliche dafür, dass er hässlich ist? Aber der Mensch ist unvollkommen, auch in seinen Vorlieben. Da kann man ihm noch so sehr einbläuen, dass Aussehen total irrelevant sei – das Stammhirn spielt uns immer wieder einen Streich.
Schönheitsnormen sind auch nicht verhandelbar. Wir können tausendmal erklären, dass eine Bierwampe genauso schön wie ein Waschbrettbauch sei: Die Mehrheit wird es anders sehen. Normen wandeln sich. Wie ein Gang durch eine Galerie alter Meister zeigt, galt in der Renaissance der wohlgerundete Körper als erstrebenswert und nicht der Hungerhaken. Jedes Supermodel wäre damals in die Küche verbannt worden. Nichtsdestotrotz existierten auch in der Renaissance genaue Vorstellungen, was begehrenswert ist und was nicht.
Der Wunsch, sich der Fesseln der Natur zu entledigen, ist groß. Wenn wir in der Lage sind, die Biologie zu überwinden, indem wir neue Geschlechter erfinden, muss es doch auch möglich sein, die Normschönheit hinter uns zu lassen.
Anderseits beharrt die Medizin darauf, dass Fett- leibigkeit ein gesellschaftliches Problem sei. Übergewichtige Menschen haben ein stark erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkankungen, sie sterben öfter an Krebs und entwickeln leichter Diabetes. „Warum wir immer dicker und kränker werden“, lautet die Zeile auf dem letzten „Spiegel“-Cover. Gewagte Wortwahl, dachte ich sofort: In Hamburg trauen sie sich was.
Der amerikanische Autor und Podcaster Anthony Bradley vergleicht Fettsucht mit Rauchen. Überflussgesellschaften wie Amerika seien „metabolisch bankrott“ – deshalb sei es an der Zeit, gesellschaftlichen Druck auf Übergewichtige auszuüben. Man kann sich vorstellen, wie viele Freunde er sich damit gemacht hat.
Ein Gegenargument lautet, Übergewicht sei anders als Nikotinsucht Schicksal. Niemand könne etwas dafür, wie er aussehe. Aber das stimmt nicht ganz. In über 70 Prozent der Fälle ist Übergewicht eine Frage der Ernährung und damit der persönlichen Präferenz. Niemand zwingt uns, zu viel Zucker oder Fett zu uns zu nehmen – so wie uns auch niemand zum Rauchen zwingt. Es ist eine freiwillige Entscheidung. Muss man also aus Gesundheitsgründen zum Fatshaming kommen, so wie es zum Smoke-shaming kam?
Ich bin gegen jede Art des Shaming. Ich würde nie auf die Idee kommen, eine fremde Person auf ihr Gewicht anzusprechen. Wenn jemand sich dafür entscheidet, alle Ernährungsrichtlinien in den Wind zu schlagen: So be it. Ich habe jedoch Zweifel, ob man wirklich gleich so weit gehen sollte, den Kampf gegen die Pfunde als rassistisch zu bezeichnen.
Vielleicht gibt es kein Thema, bei dem die Schizophrenie der linken Glaubenswelt so offen zutage tritt wie die Diätfrage. Gerade fortschrittliche, dem rot-grünen Zeitgeist besonders aufgeschlossene Eltern achten penibel darauf, was ihre Kinder zu sich nehmen. Das ist sozusagen praktizierter Lookismus: Sich gemeinsam darüber empören, wie sehr die Werbeindustrie übergewichtige Menschen benachteiligt – aber sofort die Cola vom Tisch nehmen, wenn der kleine Jonas und das Sarahchen auf der Bildfläche erscheinen.
Ich fürchte, wenn man dem Ideal einer wirklich gewichtsgerechten Gesellschaft näherrücken will, kommt man um politische Maßnahmen nicht herum. Die familienpolitische Sprecherin der Grünen in Berlin hat vor Jahren vorgeschlagen, bei Schönheitswettbewerben auch weniger schönen Menschen die Teilnahme zu ermöglichen.
„Bei Misswahlen werden grundsätzlich Menschen un-serer Gesellschaft ausgeschlossen“, erläuterte Marianne Burkert-Eulitz gegenüber dem Volksblatt „B.Z.“ ihre Idee. Das sei nicht mehr zeitgemäß. „Wir leben in einer vielfältigen und heterogenen Gesellschaft, die ein anderes Menschenbild lebt.“
Das ist ein guter Ansatz, doch Misswahlen können nur ein Anfang sein. Als Nächstes brauchen wir verbindliche Sprachrege- lungen, so wie beim Gendern. Man könnte auch über eine Quote nachdenken. Für jede Abbildung eines dünnen Menschen gibt es daneben das Bild einer nicht schönheitsnormativen Person.
Gewichtsangabe beim Amtsarzt? Nur noch nach Selbsteinschätzung. Wer das alte Gewicht öffentlich macht, wird bestraft, so wie auch beim Transsexuellengesetz die Nennung des alten Namens unter Strafe steht. Ein Transfett-Gesetz, das wär’s. Dazu eine Beauftragte der Bundesregierung gegen Fettfeindlichkeit. Es gibt noch viel zu tun.
© Silke Werzinger