Erst musste das Verfassungsgericht der Regierung den Versuch der Bilanzfälschung untersagen, jetzt wurden die Minister zur Achtung der Meinungsfreiheit ermahnt. Ist die Koalition von allen guten Geistern verlassen?
Das Bundesverfassungsgericht hat die Regierung Scholz dazu verdonnert, die Einschüchterung von Journalisten zu unterlassen. „Dem Staat kommt kein grundsätzlich fundierter Ehrenschutz zu“, heißt es in einem Beschluss, den das Gericht vergangene Woche veröffentlichte.
Zwar dürften sich auch staatliche Einrichtungen gegen verbale Angriffe zur Wehr setzen, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht erfüllen könnten. Aber dieser Schutz dürfe nicht dazu führen, sie gegen öffentliche Kritik abzuschirmen. „Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten“, so das Gericht. „Die Zulässigkeit von Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats.“
Die Abmahnung ist ein außergewöhnlicher, ja spektakulärer Vorgang. Wann ist es in der Geschichte der Bundesrepublik schon einmal vorgekommen, dass die Regierung höchstrichterlich an die Beachtung der Meinungsfreiheit erinnert werden musste?
Was war vorgefallen? Der ehemalige „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt hatte den Umstand, dass Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze weiterhin Hilfsgelder nach Afghanistan überweist, auf Twitter polemisch kommentiert: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro Entwicklungshilfe an die Taliban. Wir leben im Irrenhaus.“
Das wollte Schulze nicht über sich lesen und zog bis vor das Kammergericht Berlin, um den frechen Kommentator in die Schranken zu weisen. Was immer die Berliner Richter geritten haben mag: Sie gaben der Ministerin recht und untersagten Reichelt seine Äußerung – eine Entscheidung, gegen die Reichelts Anwalt, der in Grundrechtsfragen äußerst versierte Joachim Steinhöfel, umgehend das Verfassungsgericht anrief.
Normalerweise brauchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Jahre, vorausgesetzt, sie werden überhaupt zur Befassung angenommen. In diesem Fall erging das Urteil binnen vier Monaten. Offenbar hatte man in Karlsruhe das Gefühl, es sei Eile geboten.
Es ist das zweite Mal, dass das oberste deutsche Gericht der Bundesregierung in den Arm fällt. Erst wurde dem Kabinett Scholz in scharfen Worten der Versuch untersagt, mittels Bilanzfälschung die Haushaltsregeln auszuhebeln. Jetzt musste es daran erinnert werden, dass Regierungskritik kein Straftatbestand ist.
Formal richtet sich das Urteil gegen die Entscheidung des Berliner Kammergerichts. Aber natürlich darf Svenja Schulze den Richterspruch persönlich nehmen, schließlich war das Berliner Gericht auf ganzer Linie ihrer Argumentation gefolgt. Auch auf dieses Spiel versteht man sich in Karlsruhe: Schlage den Sack und meine den Esel.
Wir haben es mit einer Regierung am Rande des Nervenzusammenbruchs zu tun, anders lässt sich die Lage nicht mehr deuten. Und wie alle, die kurz vor einem psychischen Zusammenbruch stehen, reagieren auch die Mitglieder der Ampel zunehmend erratisch. Ein falsches Wort kann reichen und sie fahren aus der Haut. Man kennt das vom häuslichem Disput: Wenn die Nerven blank liegen, schlägt man irgendwann nur noch wild um sich.
Wir leben in einem Irrenhaus? Vielleicht keine besonders elegante Beschreibung der Situation. Aber doch kein Satz, wegen dem man vor Gericht geht, um den Urheber zur Verantwortung zu ziehen. Wenn das im Kabinett Scholz bereits unter Hate-Speech fällt, dann liegen bitterere Monate vor der Koalition. Die Nachrichten aus dem Land werden ja nicht besser. Und die Kommentare auch nicht.
Ich bin seit über 35 Jahren im politischen Beobachtungsgeschäft. Als ich als Redakteur anfing, mit 25 Jahren beim „Spiegel“, war noch Helmut Kohl an der Regierung. Ich habe Aufstieg und Untergang von Rot-Grün erlebt und das bleierne Biedermeier der Merkel-Jahre. Alle Kanzler hatten ihre dunklen Momente. Aber ich kann mich an keine Regierung erinnern, die so glücklos agierte und auch so hilflos wie diese.
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Die Bürger sind nicht einmal mehr empört. Das ist vielleicht das Deprimierendste. Empörung beinhaltet ja am Ende so etwas wie die Hoffnung, dass sich die Dinge zum Besseren wenden ließen, wenn man nur laut genug aufbegehre. Ich war in den vergangenen Monaten oft bei Wirtschaftsverbänden zu Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Wenn ich die Stimmung beschreiben sollte, würde ich sagen: totale Konsternation. An die Stelle der Empörung ist stille Verzweiflung getreten.
Wie konnte es so weit kommen? Die Grünen sind wie die Grünen sind. Es gibt bei ihnen eine Reihe vernünftiger Leute, aber eben auch viele beinharte Ideologen, die Regierungsarbeit mit dem Abhaken von Parteiprogrammen verwechseln. Anderseits ist Deutschland wohlhabend und stabil genug, dass es auch ein paar Grüne an der Regierung aushält.
Das eigentliche Rätsel ist: Wie konnte die SPD so vom Weg abkommen? Wenn es eine Partei gibt, die über eine Anbindung an die normale Arbeitswelt verfügt, dann die Sozialdemokratie. Der ehrliche Malocher steht bis heute in hohem Ansehen. Schon in meiner Jugend war er eher Ideal denn erlebte Realität. Wenn meine sozialdemokratische Mutter den Fleiß des Eisenbiegers besang, dann aus der Entfernung des Hamburger Villenviertels. Aber wenigstens gab es ein Gefühl, dass man die einfachen Leute, wie sie hießen, nicht aus dem Auge verlieren sollte.
Was also ist passiert? Die Akademisierung ist passiert. Heute sucht man auch in den Reihen der SPD vergeblich Leute, die mal an der Werkbank gestanden haben. Wer einen Parteitag besucht, begegnet dort nahezu ausschließlich Menschen mit akademischem oder anakademisiertem Hintergrund.
Weil die Delegierten nicht nur über das Programm be-
stimmen, sondern auch darüber, wer auf den Listenplätzen vorne steht, nehmen die Themen aus der akademischen Welt immer größeres Gewicht ein. Deshalb kommt es zum Bürgergeld, obwohl keine soziale Wohltat unter sozialdemokratischen Traditionswählern so verhasst ist wie das bedingungslose Grundeinkommen für Faulenzer. Oder zum Selbstbestimmungsgesetz, das Mann und Frau zu Kategorien von gestern erklärt.
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in weiteres Problem der Akademisierung von Politik ist: Sie macht auch wahnsinnig empfindlich. Wenn einem an der Uni etwas beigebracht wird, dann bei der geringsten Grenzüberschreitung nach Hilfe zu schreien. Wo früher eine Zurechtweisung geboten schien, erfolgt heute lieber der Ruf nach der Antidiskriminierungsbeauftragten.
Das färbt ab, bis in die höchsten Ränge. Annalena Baerbock hat Strafantrag gegen einen bayerischen Unternehmer gestellt, weil der in seinem Garten satirische Plakate gegen die Grünen aufgestellt hatte. Ihre Kollegin Lisa Paus möchte am liebsten jedem, der sich übermäßiger Regierungskritik schuldig macht, den Verfassungsschutz auf den Hals hetzen.
Für die Entwicklungshilfeministerin ist die Sache übrigens noch nicht ausgestanden. Sie hat zwar umgehend erklärt, das Verfassungsgerichtsurteil vollumfänglich anzuerkennen. Aber Anwalt Steinhöfel hat dem Ministerium einen Fragenkatalog überstellt, auf dessen Beantwortung er besteht. So möchte der Anwalt geklärt wissen, wer auf die Idee kam, gegen seinen Mandanten gerichtliche Schritte einzuleiten. Und natürlich: Wie hoch der Stundensatz der Berliner Kanzlei Schertz Bergmann war, die Schulze zu Rate zog.
Mindestens 20 000 Euro haben die Promi-Anwälte in Rechnung gestellt, wie man dem „Tagesspiegel“ entnehmen konnte. Dazu kommen die Auslagen der gegnerischen Seite plus Gerichtskosten.
Es gibt eine Petition, die Frau Schulze auffordert, das Geld zu erstatten. Das einem anvertraute Geld anderer Leute für unsinnige Rechtshändel in eigener Sache auszugeben, kann man auch als Veruntreuung von Steuergeldern sehen. Aber den Gedanken verfolgen wir lieber nicht weiter. Sonst haben wir morgen noch ein Schreiben der Kanzlei Scherz Bergmann im Briefkasten. Und das will ja keiner, oder?
© Michael Szyszka
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