Der Absturz der grünen Kanzlerkandidatin ist auch ein Debakel für den begleitenden Journalismus. Kaum etwas wurde an Annalena Baerbock so gerühmt wie ihr Detailwissen und ihre Sachkenntnis. Was ist da schiefgelaufen?
Annalena Baerbock hat sich für ihren Umgang mit der Plagiatsaffäre entschuldigt. Sie sei in die alten Schützengräben gerutscht, hat sie der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt.
Bittere Pille für ihren Rechtsanwalt, Prof. Dr. Christian Schertz beziehungsweise die Prominentenkanzlei Schertz Bergmann, die Baerbock auf dem Weg nach unten engagiert hatte. Als alter weißer Mann bezeichnet zu werden ist bitter. Aber als alter Schützengraben? Das wünscht man niemandem.
Es war ohnehin nie ganz klar, was der berühmte Anwalt aus Berlin ausrichten sollte. Angeblich ging es darum, die Kanzlerkandidatin gegen den Vorwurf der Urheberrechtsverletzung zu verteidigen. Aber bis heute ist von einer Klage gegen die sogenannten Plagiatsjäger nichts bekannt.
Stattdessen strengte Schertz in eigener Sache eine Gegendarstellung gegen „Focus Online“ an, weil dort in einem Halbsatz seine Zeit bei dem ebenfalls sehr berühmten Urheberrechtsanwalt Paul W. Hertin fälschlicherweise von acht auf zwei Jahre verkürzt worden war. Unterschätze nie die Eitelkeit von Medienanwälten!
Andererseits: Mit der Beauftragung von Professor Schertz sind die Grünen endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen, also dort, wo man das „Goldene Blatt“ liest, die arme Meghan Markle in ihrem Millionärselend bemitleidet und sich für die Ehekabalen im Hause Wulff interessiert. Zu den Mandanten gehören oder gehörten Bettina Wulff, Boris Becker, Karl-Theodor zu Guttenberg.
Apropos Becker: War Christian Schertz nicht der Mann, der aller Welt versicherte, wie solvent sein Mandant sei, als ein englisches Gericht den Tennischampion für zahlungsunfähig erklärt hatte? Gestern Ehrensolvenzbescheinigung für Becker, heute urheberrechtlicher Persilschein für Annalena Baerbock: Das Leben als Anwalt bringt immer neue Herausforderungen.
Wobei: Ich sollte aufpassen, was ich sage. Schertz gilt als klagefreudig. Der „Super Illu“ hat er mal eine Gegendarstellung reingedrückt, weil die geschrieben hatte, dass Schertz es gernhabe, wenn man ihn als Promianwalt bezeichne. Dazu stellte er fest: „Ich mag es nicht, als ‚Prominentenanwalt‘ bezeichnet zu werden.“ Ich nehme vorsorglich schon mal alles zurück, auch die Bezeichnung Promianwalt. Nur, wenn man Christian Schertz nicht als Promianwalt bezeichnen kann, als was denn dann?
Das gleiche Problem hat man jetzt mit seiner berühmten Mandantin von der grünen Partei. Das Letzte, was sie den Journalisten zurief, bevor sie sich in den Urlaub verabschiedete: Erstens seien an einem Buch immer mehrere Autoren beteiligt, und zweitens handele es sich in ihrem Fall gar nicht um ein Sachbuch.
Andere kommen von Tolstoi und Cervantes, Annalena Baerbock kommt von Joschka Fischer und Jürgen Trittin, wie man nun weiß. Aber: Kein Sachbuch? Was ist es denn stattdessen? Abenteuerroman? Befreiungsliteratur? Oder etwas ganz anderes? Dokufiction heißt die Gattung im Fernsehen, wo man Erlebtes und Erfundenes mischt. Vielleicht ist Annalena Baerbock die Begründerin eines ganz neuen Genres. Was den Verkauf angeht, muss man sagen: Die Quote stimmt. Das, immerhin, steht auf der Habenseite.
Am Montag haben die Grünen ihre Wahlkampagne vorgestellt. Jetzt soll es endlich um die großen Themen gehen: den Klimawandel, die soziale Gerechtigkeit, die Digitalisierung des ländlichen Raums. Die Leute hätten einen Hunger nach inhaltlicher Auseinandersetzung, erklärte der Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner. Ich verstehe nicht so viel von inhaltlicher Auseinandersetzung wie Herr Kellner, aber als ich das mit dem Hunger las, war mein erster Gedanke: Wenn er sich da mal nicht täuscht. Das eine ist, was die Leute sagen, was sie für wichtig halten, das andere, was sie tatsächlich interessiert.
Ich finde, die eigentliche Pointe der Nominierung wurde bislang nicht richtig gewürdigt. Jede Stimme für die Grünen sei eine Stimme gegen den Klimawandel, heißt es doch. Da das Überleben der Menschheit auf dem Spiel stehe, müssten sie das Kanzleramt übernehmen. Noch wichtiger als der Kampf gegen den Hitzetod ist den Grünen allerdings der Einsatz für die Quote. Dahinter muss alles andere zurücktreten, wie sich jetzt zeigt.
Die Grünen hatten einen Kandidaten, der das mitbrachte, was Annalena Baerbock fehlt: langjährige Regierungsverantwortung (Umweltminister und Vizeministerpräsident in Schleswig-Holstein), ein solider Lebenslauf (Doktor der Philosophie) – dazu gesegnet mit der Gabe der freien Rede und einer Reihe unzweifelhaft selbst geschriebener Bücher. Dummerweise hat Habeck das falsche Geschlecht. Deshalb liegt das Kanzleramt jetzt wieder in weiter Ferne.
Der Absturz der grünen Kanzlerkandidatin ist auch ein Debakel für den begleitenden Journalismus, das ist die andere Lehre aus den zurückliegenden Wochen. Was hat man in führenden Blättern nicht alles über Annalena Baerbock gelesen. Ihre Reden: Rockkonzerte. Ihr Aufstieg: ganz ohne die üblichen Machtspiele und Intrigen. Ihr Detailwissen und ihre Sachkenntnis: stupend.
Als Frau, „die noch im Halbschlaf das Kleingedruckte des Kohlekompromisses aufsagen könnte“, stellte sie der „Stern“ vor, der dann auch nur eine wirkliche Schwäche ausmachen konnte: „ihre Detailverliebtheit“. Ich weiß nicht, in wie vielen Geschichten über Annalena Baerbock ich das Zitat einer Parteifreundin gefunden habe, dass die Parteivorsitzende noch nachts um drei anrufe, weil sie einen völkerrechtlichen Vertrag gelesen und eine Detailfrage habe.
Und nun? Nun sieht es so aus, als ob die Vielbesungene und -gelobte nicht mal in der Lage ist, den Namen Walter Lübcke richtig zu schreiben oder die brandenburgische Kleinstadt Ludwigsfelde geografisch korrekt zuzuordnen. Die „taz“ hat ihr Buch „Jetzt“ am Wochenende einem Faktencheck unterzogen. Die Zahl der Fehler und Ungenauigkeiten füllte eine ganze Seite.
Auch im mündlichen Vortrag unterlaufen ihr ständig erstaunliche Verwechslungen und Versprecher. Ich habe neulich mal nachgezählt. Ich bin allein im ersten Anlauf auf über 20 Fehlleistungen gekommen.
Dass sie die UN-Charta für ein Gremium hält, Willy Brandt zum Begründer der sozialen Marktwirtschaft kürt und meint, das Stromnetz lasse sich auch als Stromspeicher nutzen: geschenkt. Aber wenn sie ihre Begeisterung für Europa damit begründet, dass ihr Großvater im Winter 1945 an der Oder gegen die Russen gekämpft habe, wird es ein wenig bizarr. Es soll ja auf Pazifikinseln japanische Soldaten gegeben haben, denen man zu sagen vergessen hatte, dass der Krieg aus war. Aber an der Oder?
Der CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber litt bekanntlich an Wortfindungsstörungen. Bei Annalena Baerbock muss man möglicherweise von einer Faktenfindungsstörung reden.
Viel ist in den vergangenen Wochen über die Unfähigkeit der grünen Kampagnenmanager geschrieben worden, die es versäumt hätten, sich auf vorhersehbare Nachfragen vorzubereiten. Habt ihr eure Kandidatin denn gar keinem Check-up unterzogen, lautete der händeringende Vorwurf von der „taz“ bis zum „Spiegel“. Eine Frage wurde interessanterweise ganz selten gestellt: Warum Annalena Baerbock glaubte, mit den Mogeleien durchkommen zu können?
Ein Grund für die Sorglosigkeit liegt in der Kumpanei zwischen Teilen der Presse und grüner Partei. Wer zu lange auf Händen getragen wird, dessen Reflexe erlahmen. Dazu zählt auch der Gefahrensinn. Zu viel Lob verdirbt außerdem den Charakter. Wenn man ständig über sich liest, wie gut man sich mit den Fakten auskenne, beginnt man, es irgendwann zu glauben.
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