Das Virus spricht nicht zu uns, es hat keinen Willen und keine Stimme. Es gibt allerdings Journalisten, die so tun, als spräche das Virus zu ihnen, und die glauben, sie hörten eine Botschaft, die andere nicht hören
Um es vorwegzuschicken: Ich halte mich an die Corona-Regeln. Ich trage Mundschutz beim Einkauf. Ich achte auf sicheren Abstand zu Fremden. Meine sozialen Kontakte habe ich auf ein Minimum reduziert. Mir kommt nicht einmal die Katze des Nachbarn über die Schwelle. Wenn der DHL-Bote vor der Tür steht, bitte ich ihn, sein Lesegerät auf die Stufe vor der Eingangstür zu legen und einen Schritt zurückzutreten. Erst dann quittiere ich den Empfang der Sendung.
Ich halte nichts davon, sein republikanisches Temperament zu beweisen, indem man sich möglichst unangepasst gibt. Wo wäre der Punkt? Außerdem gehöre ich gleich doppelt zur Risikogruppe. Ich bin diese Woche 58 Jahre alt geworden, womit ich mich bedenklich der statistischen Todeszone des Virus nähere. Und ich leide an Asthma- Anfällen, seit der Heuschnupfen einen Etagenwechsel vorgenommen hat, wie mein Hausarzt das nennt.
Meinetwegen sollen sie nach der Entdeckung eines Impfstoffs auch eine Impfpflicht einführen oder einen Immunitätspass. Ich fürchte keine Corona-Diktatur, und ich mag einfach nicht daran glauben, dass die Kanzlerin heimlich darauf hinarbeitet, Deutschland zum Vasallenstaat eines Weltherrschers Bill Gates zu machen. Ich bin bei allem dabei, was mir an Verhaltensregeln zum Schutz der Alten und Schwachen auferlegt wird und mir einigermaßen vernünftig erscheint.
Wo ich nicht mehr mitmache, ist, wenn ich das Gefühl habe, die Regierung gibt eine Richtung vor, und alle marschieren mit. Wenn die Regierung sagt: „Hier entlang”, gehöre ich zu denen, die fragen: „Geht’s nicht auch andersherum?” Sie mögen das für kindisch halten. Für mich war es einer der Gründe, in den Journalismus zu gehen.
Alternativlos ist ein Wort, das in meinem Sprachgebrauch nicht vorkommt. Ich denke immer in Alternativen. Schon der Herrgott hat für eine Alternative gesorgt, als er den Teufel erschuf. Theologisch übrigens eine vertrackte Sache: Ist das Böse eine eigene Kraft, unabhängig vom Willen des Herrn? Oder ist der Teufel ein Werkzeug Gottes und damit das Eingeständnis, dass Gott nicht nur Gutes im Schilde führt?
Wie auch immer: Ich kann nicht sagen, dass mich die vergangenen Wochen eines Besseren belehrt hätten. Eine Kanzlerin, die uns sagt, dass alles von den Infektionszahlen abhängt, und die sich dann auf einer Pressekonferenz bei der Zahl der Infizierten um ein Drittel vertut? Ein Wirtschaftsminister, der erst erklärt, dass niemand sich in Deutschland wegen Corona um seinen Arbeitsplatz zu sorgen brauche, um dann kurz darauf Milliarden zur Rettung von Arbeitsplätzen auszugeben, von denen er doch eben noch gesagt hat, dass sie nicht gerettet werden müssten? Eine Behörde für den Seuchenschutz, deren Zahlen über Nacht quasi Gesetzeskraft erlangen, obwohl sie bis vor acht Wochen davon ausging, dass die Alpen eine Hürde seien, die das Virus nie überwinden könnte? Wäre ich Comedian, würde ich sagen, hier liegt 1-a-Showmaterial.
Ich sage nicht, dass man sich nicht irren kann. Jeder kann und darf sich irren, sogar Wissenschaftler. Ich hätte nur die Erwartung, dass man die Zahlen und Voraussagen von Behörden- und Regierungsvertretern, die in ihren Einschätzungen so oft danebenlagen, mit etwas mehr Vorsicht genießt.
Leute wie ich würden raunen, heißt es jetzt, so als verfolgte jeder, der die Maßnahmen der Politik infrage stellt, eine verborgene Agenda. „Raunen” ist das Äquivalent zu „zündeln”. Als es noch gegen rechts ging, war dies das Wort, um einen auf die Strafbank zu schicken. Man weiß nicht genau, was gemeint ist, aber es klingt irgendwie gefährlich. Wer raunt oder zündelt, von dem hält man sich besser fern.
Es lassen sich seltsame Distanzierungsrituale beobachten. Ein Autor des „Tagesspiegel” schreibt von „sogenannten Journalisten”, die seit Wochen Fragen hätten, „die angeblich die Demokratie und den Rechtsstaat betreffen”. Damit auch jeder versteht, wie unsinnig er diese Fragen findet, setzt er „‚Fragen haben’“ in Anführungsstriche und spricht im Weiteren von den „‚Kolleginnen und Kollegen’“ ebenfalls in Anführungsstrichen. Eine Kolumnistin des „Spiegel” bezeichnet den Streit über die Corona-Politik als „Geisterdebatte”, so, als müsse man ein bisschen wirr im Kopf sein, wenn man auf Widersprüche in der Wissenschaftsgemeinde hinweist oder die Angst vor dem Virus für übertrieben hält.
Etwas ist ins Rutschen geraten. Es hat schon vorher begonnen, als es noch nicht gegen das Virus, sondern gegen den Faschismus ging. Plötzlich fanden viele Journalisten, dass es ihre Aufgabe sei, selbst aktiv zu werden, um Deutschland vor einem Rückfall in finstere Zeiten zu bewahren. Das Virus ist noch gefährlicher und tödlicher als der Faschismus, also verdoppelt man die Anstrengungen.
Aufmerksame Leser könnten jetzt einwenden, dass ich mich doch ebenfalls an anderen Journalisten abarbeite. Natürlich tue ich das, mit Wonne sogar. Aber ich denke, ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich Leute, deren Meinung ich nicht teile, deshalb noch lange nicht aus dem Kollegenkreis ausschließe. Ich verschicke auch keine Bilder mit Sterbezahlen, um sie ins Unrecht zu setzen, oder Fotos von Intensivstationen, versehen mit dem Zusatz: „Na, glücklich jetzt, Ihr Lockdown-Gegner?”
Ich will mich nicht beklagen. Im Zweifel haben sie mich beim „Tagesspiegel” oder beim „Stern” immer schon für einen überschätzten Fatzke gehalten. Ich lebe ganz gut davon, dass mich einige Leute nicht mögen. Es geht auch nicht um Denkverbote. Man kann in Deutschland denken, was man will. Man findet sogar meist eine Plattform, auf der man das, was man denkt, der Allgemeinheit zugänglich machen kann. Was mich stört, ist, wenn so getan wird, als sei es unanständig, bei moralisch kniffligen Fragen eine Minderheitenmeinung zu vertreten. Oder wenn Journalisten glauben, sie dienten einer höheren Wahrheit.
Vor ein paar Tagen hat ein Kollege der „Süddeutschen Zeitung” auf Twitter einen Kommentar an meine Adresse hinterlassen. Manche sogenannten Intellektuellen hätten nicht verstanden, dass das Virus kein Diskurspartner sei, mit dem man freudig um das beste Argument ringen könne, schrieb er. Hier liegt ein Missverständnis vor. Ich will nicht mit dem Virus diskutieren, sondern mit den Menschen, die glauben, sie seien seine Propheten.
Das Virus spricht nicht zu uns, es hat keinen Willen und keine Stimme. Die Natur spricht grundsätzlich nicht zu uns, anders, als manche meinen. Es gibt allerdings Leute, die so tun, als spräche das Virus zu ihnen, und die glauben, sie hörten eine Botschaft, die andere nicht hören können. So funktionierten früher Priesterstaaten.
Ich habe vergangene Woche darüber geschrieben, wie sehr mich vieles an die Flüchtlingskrise erinnert. Ein Punkt, den ich ausgespart hatte, war die Rolle der Medien. Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass sich damals bei vielen Deutschen das Gefühl verfestigte, die Mehrheit der Presse würde nicht umfassend und unvoreingenommen berichten. Wir sollten aufpassen, dass sich das nicht wiederholt.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, nun wahrlich kein Fahrensmann von mir, hat in einem Interview mit dem „Standard” seinen Eindruck formuliert, dass der politische Journalismus in der Corona-Berichterstattung zu sehr dem Blick der Virologen gefolgt sei. Am Anfang habe es kaum eine andere Möglichkeit gegeben, als einen situativ bedingten Verlautbarungsjournalismus zu betreiben. Aber je länger die Krise anhält, desto mehr bräuchte es Distanz und Debatte. „Eine Orientierung an Expertenmonopolen ist, prinzipiell gesprochen, nie gut. In Zeiten einer derart dramatischen Krise wird sie gefährlich.” Ich wüsste nicht, wie ich es besser sagen könnte.