Die Mehrheit wünscht sich Markus Söder als Kanzlerkandidaten. Er selbst hält sich ohnehin für den besten Mann an der Spitze der Union. Aber wäre er auch ein guter Kanzler?
Markus Söder soll Kanzlerkandidat werden, so sagen es die Umfragen. 56 Prozent der Deutschen finden, dass er ein guter Kandidat wäre. Von Friedrich Merz glauben das nur 33 Prozent. Über den armen Armin Laschet sagt das nicht mal ein Viertel der Wähler, daran wird auch die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen wenig ändern.
Ich bin bei Söder befangen, wie bei allem, was Bayern und die CSU angeht. Ich lebe seit sechs Jahren in München. Wie viele Migranten neige ich zur Überidentifikation mit der neuen Heimat. Ich sage „Grüß Gott“, wenn ich ein Geschäft betrete, und verabschiede mich mit einem herzlichen „Pfiati“. Irgendwo habe ich sogar eine Lederhose, die ich gleich nach meinem Umzug erstanden habe.
Ich gehöre auch zu den wenigen Journalisten, die sich für Söder als bayerischen Ministerpräsidenten ausgesprochen haben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als noch unklar war, ob es Horst Seehofer nicht doch gelingen würde, ihn als Nachfolger zu verhindern. Ich weiß nicht, ob das für oder gegen mich spricht. Aus Sicht der Mehrheit meiner Kollegen vermutlich klar gegen mich. Immerhin zeigt es, denke ich, dass ich bei meinen Einschätzungen zum Verlauf der söderschen Karriere nicht ganz falsch liege.
Söder würde gerne Kanzler werden, daran habe ich keinen Zweifel. Im Augenblick spielt er auf Zeit, das heißt, er sagt, dass sein Platz in Bayern sei (wo sollte er auch sonst sein, auf Bornholm?). Auch habe die CDU als größere Schwester das geborene Vorschlagsrecht. Was man eben so sagt, wenn noch nicht einmal ausgemacht ist, dass einen die eigenen Leute als Kandidaten wollen.
Im Gegensatz zu seinem Image ist Söder ein vorsichtiger Mensch. Wie alle Instinktpolitiker hat er ein Gefühl für Stimmungen und Stimmungsumschwünge. Notfalls hilft er mit Umfragen nach. Wenn er einen politischen Standortwechsel einleitet, heißt das also, dass er dort bleibt, wo er schon vorher war: nämlich bei der Mehrheit.
Söder ist kein Politiker, der den Menschen Größeres zumuten würde. Er käme nie auf die Idee, wie sein Vorvorgänger Edmund Stoiber aus politischem Ehrgeiz ein Projekt anzuschieben, das zwar sachlich geboten erscheint, aber bei einer nennenswerten Zahl von Wählern nur Missmut weckt. Man kann das für Opportunismus halten – oder für eine erfrischend unideologische Herangehensweise.
Als die AfD zulegte, war Söder der entschiedenste Flüchtlingspolitik-Kritiker in der Union. Als die Grünen ihren Höhenflug antraten, umarmte er jeden Zweig und jeden Strauch, der nicht rechtzeitig Reißaus nehmen konnte. Selbstverständlich setzte er sich auch an die Spitze des Volksbegehrens gegen das Bienensterben, als sich die Schlange der Unterzeichner vor dem Münchner Rathaus bis zum Stachus zu ziehen drohte. In ganz Deutschland wird man keinen größeren Bienenfreund als den bayerischen Ministerpräsidenten antreffen!
Jetzt ist er eben der oberste Corona-Bekämpfer, jedenfalls bis zu dem Moment, an dem die Stimmung kippt und sich die Vorstellung durchsetzt, man übertreibe es mit der Maskenpflicht. Dann wird er davor warnen, dass man bei aller Sorge um die Gesundheit auch die Freiheitsrechte im Blick behalten müsse.
Zwei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben Politiker aus Bayern versucht, ins Kanzleramt vorzustoßen, der eine war Franz Josef Strauß, der andere Stoiber. Beide Male ging es schief. Strauß, den sie bis heute in der CSU wie einen Heiligen verehren, war die Personifikation des bayerischen Starkbier-Politikers: hinreißend im Auftritt, intellektuell brillant und erstaunlich emotional, was seine Feinde dann erfolgreich gegen ihn zu wenden wussten. Der sehr viel diszipliniertere Stoiber kam dem Kanzleramt bis auf ein paar Tausend Stimmen nahe, aber auch hier überwog am Ende das Misstrauen des evangelischen Nordens gegenüber dem katholischen Süden.
Hätte Söder das Zeug zum Kanzler? Das ist eine Frage, die interessanterweise kaum gestellt wird. Söder ist vor allem auch ein sehr misstrauischer Mensch, was man auf den ersten Blick nicht vermuten sollte. Niemand beackert so hingebungsvoll die Bierzelte wie er. Wenn es irgendwo ein Volksfest oder eine Feuerwehreinweihung zu feiern gibt, dann ist er zur Stelle. Hier liegt die Wurzel seiner Popularität, gegen die nicht einmal Seehofer ankam, der nun wirklich alles daran gesetzt hat, ihm den Weg in die Staatskanzlei zu verlegen.
Seine hart erarbeitete Volkstümlichkeit täuscht allerdings darüber hinweg, dass er in Wahrheit ein Einzelgänger ist. Söders größte Schwäche besteht darin, dass er unfähig ist, Loyalität zu stiften. Das verbindet ihn mit Seehofer. Aber im Gegensatz zum Bundesinnenminister, der Freude am Spiel mit anderen Menschen hat, ist Söder bei seinen Rochaden kalt bis ins Herz. Von wem er sich keinen Nutzen mehr verspricht, der wird abserviert, das gilt auch für Leute, die ihm bis gerade eben noch treu gedient haben.
Als Minister kann man so agieren, auch als Ministerpräsident. Im Zweifel ist die Angst vor der Bestrafung immer stärker als der Drang, sich der Presse anzuvertrauen. Bei einem Kanzler funktioniert dieses Führungsprinzip nicht mehr, dafür ist das Land und die Zahl derer, die trotz Parteibindung unabhängig von einem sind, zu groß. Wer aber auch in den eigenen Reihen mehr Menschen hat, die einem den Misserfolg wünschen, als Mitstreiter, die am Gelingen interessiert sind, der verzettelt sich irgendwann in Vergeltungs- und Rachegefechten.
Das andere, was mich an der Kanzlereignung zweifeln lässt, ist Söders Wendigkeit. Einer, der ihn seit Langem beobachtet, sagte vor ein paar Tagen zu mir den schönen Satz: „Söder ist immer nur so gut wie das Volk, das er regiert.“ Was bedeutet: Wenn das Volk eine Abbiegung ins Unanständige nimmt, dann ist er nicht der Mann, sich dem entgegenzustellen. Das unterscheidet ihn von Angela Merkel, bei der man trotz aller Umfragehörigkeit wusste, dass es einen Punkt gibt, an dem sie nicht mehr mitmachen würde.
Söder hat im kleinen Kreis erkennen lassen, dass er nur in die Schlacht zieht, wenn die CDU ihn will. Er hält sich für den besten Kandidaten, alles andere wäre bei einem, der sich das wichtigste Staatsamt zutraut, auch widernatürlich. Aber er will nicht enden wie Stoiber, der sich der Union aufdrängte und am Ende von ihr im Wahlkampf im Stich gelassen wurde. Also wird es davon abhängen, was für die CDU mehr zählt: der Stolz, bislang alle Kanzler der Union gestellt zu haben, oder der Blick auf die Umfragen.
Wie wichtig ist die Herkunft? Wir reden viel über Diversität und Vielfalt, aber es ist ganz grundsätzlich die Frage, ob Abstammung und Geburtsort für Söder bei der Kanzlerwahl nicht ein zu großes Handicap sind. Einerseits wird der Bayer an und für sich bewundert, auch wenn man sich das außerhalb nicht gerne eingesteht. Alles an Bayern glänzt: die Verwaltung, die Wirtschaft, der Himmel über den Alpen. Aber das heißt noch lange nicht, dass man einen aus Bayern deshalb im Rest der Republik ans Ruder lassen würde (auch wenn Söder Franke und Protestant ist und damit streng genommen gar kein richtiger Bayer).
Wenn sie eines in Bayern nicht beherrschen, dann, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erinnern sie die ärmeren Verwandten daran, dass sie es sind, die am Ende die Zeche zahlen. Das entspricht durchaus der Realität, macht einen aber halt nicht beliebter. Wenn der arme Verwandte die Gelegenheit hat, es dem reichen Onkel heimzuzahlen, dann nutzt er diese in der Regel, auch wenn er sich selbst damit schadet.
Würden in der Politik nur Ratio und Verstand zählen, dann hätte längst ein Bayer das Land regieren müssen. Dass es bislang immer anders gekommen ist, sagt uns auch etwas über den Vernunftgrad von Politik.