Schwul, behindert und schwarz

Der Kampf ums Gendern scheint entschieden: Eine Reihe führender Presseorgane bläst aus Angst vor der Rache der Abonnenten zum Rückzug. Geht dem linken Wokismus etwa die Luft aus?

Vor ein paar Wochen tauchten im Netz Szenenfotos der neuen Amazon-Serie „My Lady Jane“ auf. Die Serie spielt in der Tudorzeit. Im Mittelpunkt steht die Kurzzeitregentin Lady Jane Grey, die im Alter von 15 Jahren für neun Tage auf dem englischen Königsthron landete, bis sie dann, des Hochverrats angeklagt, den Kopf durch das Schwert des Henkers verlor.

Auf einem der Bilder sah man König Edward VI. in einem Gefährt, das man als Prototyp eines Rollstuhls bezeichnen kann. Wie sich dem Begleittext entnehmen ließ, leidet Edward in der Serie an einer Lungenkrankheit, die ihm das Gehen zur Qual macht. Dargestellt wird der König von dem schwarzen Schauspieler Jordan Peters. Die Macher der Serie haben sich zudem entschieden, ihn als homosexuellen Charakter anzulegen.

Schwul, behindert und schwarz: Mehr geht eigentlich nicht. Okay, wenn der König auch noch Flüchtling wäre und heimlich muslimischen Glaubens, das wäre der ultimative Kick. Anderseits: Irgendwas muss man sich ja für die zweite Staffel aufheben.

Den Trend, auch historische Rollen mit schwarzen Schauspielern zu besetzen, gibt es schon länger. Eine der ersten Serien, die das Ensemble kräftig durcheinanderwirbelten, war die Erfolgsserie „Bridgerton“, in der die halbe Londoner Oberschicht der aristokratischen Blässe abgeschworen hatte.

Aufmerksame Leser werden jetzt einwenden: Ist das nicht kulturelle Aneignung? Die Besetzung von Rollen mit Schauspielern, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder sexuellen Orientierung dafür nicht in Frage kommen, gilt in der Branche als No-Go.

Nach den neuen Regeln der Kunst darf Kleopatra nur mit einer ägyptischen Aktrice besetzt werden, ein Behinderter nur mit einem Behinderten und ein Transsexueller nur mit einem Transsexuellen. Aber ich kann Sie beruhigen: Mit der kulturellen Aneignung verhält es sich wie mit dem Rassismus. Den gibt es auch nur in eine Richtung.

Dass sich Serienschöpfer die Wirklichkeit so zurechtbiegen, wie es ihren dramatischen Bedürfnissen entspricht, gehört zum Handwerk. Aber der Änderungswille der kreativen Köpfe hinter Serien wie „Bridgerton“ oder „My Lady Jane“ ist politisch motiviert, entsprechend groß fiel das Lob aus: Endlich Vielfalt auch retrograd im 16. Jahrhundert!

Die nachträgliche Überwindung der Klassen- und Rassengrenzen bleibt allerdings nicht ohne Tücken. Eine Bekannte brachte mich darauf: Wenn die Kinder mit Serien aufwachsen, in denen auch Lord und Lady Danbury wie selbstverständlich schwarz sind, muss man ihnen mit Rassismus nicht mehr kommen, sagte sie. „Was, die Schwarzen wurden systematisch unterdrückt? Nein, Mama, sie hatten selber Dienstboten und konnten in England sogar König werden!“ Das ist der unbeabsichtigte Erziehungseffekt der neuen Vielfalt: Er macht den Rassismus auf elegante Weise unsichtbar, bis niemand mehr weiß, dass es ihn überhaupt gab.

Ich mag mich täuschen, aber ich glaube, wir befinden uns an einem Kipppunkt. Geht es nach den Anwälten des Fortschritts, dann stehen wir erst am Anfang einer neuen, aufregenden Entwicklung, die uns in eine noch inklusivere, gerechtere und sozialere Gesellschaft führen wird.

Schon das Wort „woke“ ist ja inzwischen verpönt, weil es aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung stammt und seine Verwendung ebenfalls eine Form der kulturellen Aneignung bedeutet.

Glaubt man den Advokaten der neuen Achtsamkeit, ist der Tag nicht mehr fern, an dem alle Yoga-Studios ihre Pforten schließen müssen, weil Yoga bekanntermaßen nicht aus Bottrop, sondern aus Poona stammt. Dafür können wir dann zum Speerwerfen zurückkehren. Das soll auch sehr gesund sein. Und: alter germanischer Brauch. Da kann der Inder nix sagen.

Wobei: Der sagt ja ohnehin nix. Ich habe noch nie einen Indianer sich darüber beklagen hören, dass sie in Bad Segeberg jedes Jahr die Karl-May-Spiele abhalten. Oder einen Mexikaner, dass die Tanzgruppe der Arbeiterwohlfahrt bei der Bundesgartenschau auf ihrer musikalischen Weltreise Sombreros trägt.

Sie erinnern sich vielleicht an das Sommertheater: 17 Rentnerinnen, bei denen man froh ist, wenn sie nach ihrer Darbietung unbeschadet den Weg von der Bühne finden. Trotzdem: Der Sombrero muss weg. Der Hut würde die Maßstäbe der Bundesgartenschau hinsichtlich „interkultureller Sensibilität“ untergraben, hieß es in einer Erklärung der Messeleitung.

Man kann jede Schraube immer fester anziehen. Irgendwann dreht sie durch. Oder der Kopf bricht ab. Rechts der Mitte lebt man in der Angst, dass eines nicht zu fernen Tages kein Witz mehr erzählt und kein loses Wort mehr geäußert werden kann, weil alles Lose und Schlüpfrige unter Strafe gestellt ist. Aber vieles spricht dafür, dass die Bewegung ihren Scheitelpunkt überschritten hat.

Man kann das beim Gendern sehen. Kaum ein Projekt haben Medien- und Kulturleute mit solcher Inbrunst verfolgt wie die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit durch eine Sprache, die alle und jeden einschließt, auch diejenigen, die gar nicht eingeschlossen werden wollen. Und nun? Nun streichen selbst führende linke Presseorgane die Segel.

Der „Tagesspiegel“, der zwar nicht über die größte Auflage, dafür aber eine der fortschrittlichsten Redaktionen des Landes verfügt, hat Ende letzten Jahres eine neue Direktive herausgegeben, nach der die Redakteure gehalten sind, auf Pünktchen, Sternchen und andere Attribute der neuen Geschlechtersprache zu verzichten.

Auch die „Süddeutsche“ und der „Spiegel“ haben ihre Versuche, mit Genderzeichen die Welt zu verbessern, weitgehend eingestellt. Weshalb der Rückzug? Die neuen Sprachregeln sind unfassbar unpopulär. Normalerweise ist Journalisten die Meinung ihrer Leser herzlich egal. Aber in dem Fall sind die erwarteten Auswirkungen auf die Abonnentenzahl so desaströs, dass die Verlagsleitungen nicht umhinkonnten, die Sache abzublasen. Es heißt ja nicht von ungefähr: Go woke, go broke.

Wie viele linke Ideen hat auch das Gendern nie wirklich über den Kreis der Überzeugten hinausgefunden. An diese Art der Sprachmagie können nur Menschen glauben, die ihren Lebensunterhalt mit dem Hin- und Herschieben von Wörtern verdienen. Wer jeden Tag Kisten schleppt oder Kissen aufschüttelt, weiß ziemlich genau, dass seine Wirklichkeit sich nicht ändert, nur weil man jetzt anders über sie spricht.

Man kann den geordneten Rückzug auch beim sogenannten Selbstbestimmungsgesetz beobachten. Was als „Glutkern“ der Fortschrittskoalition angekündigt war, gilt inzwischen als Altlast, über die man besser nicht allzu viele Worte verliert. Das Projekt ganz aufzuhalten, das hat sich bei den Grünen niemand getraut. Dazu sind die Lobbygruppen zu stark. Aber niemand im Führungskreis ist wirklich stolz auf das Erreichte. Selbst treuen Grünen-Anhängern ist nur schwer zu vermitteln, weshalb es ein Zugewinn an Liberalität bedeutet, wenn künftig jeder, der sagt, dass Erika früher mal Erich hieß, mit einer Ordnungsstrafe bedroht ist.

Wird der Wokismus ganz verschwinden? So weit wird es nun auch nicht kommen. Als Erkennungszeichen werden seine Insignien in einem bestimmten Milieu immer ihre Berechtigung haben. So wie sich in rechten Kreisen bestimmte Zahlen- und Buchstabenkombinationen großer Beliebtheit erfreuen, sind unter Grünen-Anhängern eben der Knacklaut und der Genderstern en vogue.

Es wird auch immer Leute geben, die das Erreichte noch für viel zu feige halten. In einer Besprechung von „My Lady Jane“ auf der Online-Plattform „Freilich“ heißt es: „Lady Jane ist seit Juni auf Amazon Prime verfügbar. Obwohl die Serie viele woke Elemente enthält, geht sie manchen nicht weit genug. Sie kritisieren zum Beispiel, dass, obwohl König Edward ein schwarzer, homosexueller König im England der Tudor-Zeit ist, Intersektionalität, also die Überschneidung und Wechselwirkung verschiedener Diskriminierungsformen, in der Serie nicht wirklich zum Tragen kommt.“ Das ist das Schicksal vieler Glaubensbewegungen: Es findet sich immer jemand, der noch frömmer ist als man selbst.

Amazon hat jetzt bekannt gegeben, dass es die Serie trotz sehr positiver Besprechungen nach nur einer Staffel einstellen wird. Der Kreis der Fans war einfach zu klein.

© Sören Kunz

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