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Woke, aber rechts

Cancel Culture, Meldestellen gegen Andersdenkende, Hass ist keine Meinung – das Copyright für diese Art des Kulturkampfs liegt bei den Linken. Aber die Politik kennt keinen Patentschutz. Jetzt ist die Gegenseite am Zug

Aus gegebenem Anlass sei an dieser Stelle an das Schicksal des Rechtsanwalts William Prynne erinnert. Der arme Kerl hatte eine Theaterkritik verfasst, in der sich der Satz „Schauspielerinnen sind gewohnheitsmäßige Huren“ fand. Leider verstand Henrietta Maria von Frankreich, Gattin des britischen Königs Karl I., dies als Anspielung auf sich. Die Königin hatte kurz vor Erscheinen des Textes eine Rolle in einer dramatischen Darstellung am Hof übernommen.

Ein dummer Zufall, wie man so schön sagt. Nichts lag dem Autor ferner, als die Hoheiten zu beleidigen. Aber Henrietta Maria hatte es sich nun einmal in ihren nach landläufiger Meinung eher mittelmäßig schönen Kopf gesetzt. Also wurden Prynne beide Ohren vom Kopf gesäbelt, um die vermeintliche Beleidigung zu sühnen.

Niemand verliert in dem Teil, den wir den freien Westen nennen, noch seinen Kopf, weil er sich über den König und seine Gattin lustig gemacht hat, gottlob. Aber seinen Job ist er los, wenn er Pech hat. So weit reicht die Macht des Königs dann doch.

In den USA hat der Spaßmacher Jimmy Kimmel wegen „unsensibler Bemerkungen“ seine Show verloren. Ich dachte, es sei die Aufgabe eines Late-Night-Hosts, unsensible Bemerkungen zu machen, das gehöre zur Jobbeschreibung. Aber möglicherweise habe ich den Anschluss an die aktuelle Humorentwicklung verpasst.

Der Fall hat Wellen geschlagen, auch in Deutschland. Der „Spiegel“ stellte seinen Lesern die Frage, ob in den USA das Ende der Meinungsfreiheit drohe. 96 Prozent antworteten mit „ja“, nur 4 Prozent haben noch Hoffnung.

Mir persönlich kam die Ausladung vertraut vor. Das Copyright auf Cancel Culture liegt bei den Linken. Menschen, die einem nicht passen, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, ist eine Übung, die sie perfektioniert haben. Ich kann es in gewisser Weise verstehen: Warum sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen, wenn man sie einfach mundtot machen kann?

Nach der Entlassung von Kimmel stieß ich per Zufall auf einen älteren Clip, in dem die Vorzeigedemokratin Alexandria Ocasio-Cortez die Entlassung des Fox-News-Moderators Tucker Carlson feierte. Wörtlich sagte sie: „Deplatforming funktioniert, und es ist wichtig. Es passieren auch gute Dinge.“ Wäre man Zyniker, wäre man versucht zu sagen: Jetzt bekommt ihr einen Geschmack der Medizin, die ihr anderen verabreicht habt. Aber so denken wir Liberalen selbstverständlich nicht. Wie heißt es: When they go low, we go high. Oder so ähnlich.

Neben ihrem Hang zur Verbohrtheit hatte die Linke immer schon ein Talent für Naivität. Nicht der marxistisch geschulte Teil, diesen Vorwurf kann man Marxisten nicht machen. Aber die woke Truppe. Staatliche Meldestellen, Hass ist keine Meinung, der Kampf gegen Hate Speech – dieser Quark geht auf ihre Rechnung. Was haben sie gedacht, was passieren würde, wenn die andere Seite die Macht erobert? Dass die Rechten sich das anschauen und sagen: „Ne, also das ist unter unserer Würde, da machen wir nicht mit“?

Natürlich haben sie rechts der Mitte die Exmatrikulationsmethoden genau studiert, um sie in dem Moment, in dem sie das Sagen haben, selbst anzuwenden. „Provokation“ heißt nicht von ungefähr ein Buch aus der Denkschmiede des rechten Verlegers Götz Kubitschek, in dem beschrieben wird, was man von den Linken lernen kann.

Der Unterschied ist: Die Linke bindet bunte Girlanden um ihre Absichten, damit sie gefälliger aussehen. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich auf Podien saß, wo darüber diskutiert wurde, ob es Cancel Culture überhaupt gebe. Die Rechte hingegen macht aus ihren Absichten kein Hehl. Es scheint fast so, als ob sie einen besonderen Kick daraus zieht, der Gegenseite zu drohen.

Vor wenigen Tagen hatte der stellvertretende Stabschef des Weißen Hauses, Stephen Miller, einen Auftritt bei Fox News. „Wir werden euch finden“, sagte er an die Gegner gerichtet in die Kamera. „Wir nehmen euch euer Geld weg, eure Macht und, wenn ihr das Gesetz gebrochen
habt, eure Freiheit.“ Am Ende sah man ein Lächeln über sein Gesicht huschen.

Ich weiß, es klingt unangenehm, aber Cancel Culture erfüllt einen kommunikativen Zweck. Sie ist eine brutale und sehr effektive Art, eigene Normen und Werte durchzusetzen. Jetzt werden die Regeln neu austariert, könnte man sagen.

„Der Vorschlag der Rechten, Cancel Culture zu canceln, eignet sich gut als Slogan“, schrieb der MAGA-Vordenker Christopher Rufo nach der Amtseinführung von Donald Trump im Februar. „Wir sollten anerkennen, dass Kultur ein Mittel der Gesellschaft ist, um eine bestimmte Wertehierarchie zu etablieren und dann auch die Grenzen zu kontrollieren.“ Bis vor Kurzem waren es unbedachte Kommentare über die Biologie der Geschlechter, die zum Ausschluss führten. Jetzt sind es unsensible Bemerkungen über Themen und Helden der rechten Bewegung.

Ich wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich der Fall Kimmel nicht als Beispiel für rechte Cancel Culture eigne, weil der Disney-Konzern, der Kimmel beschäftigt, selbst zum linken Imperium gehöre. Mit Fakten stünde ich erkennbar auf Kriegsfuß, schrieb mir der AfD-Abgeordnete Jürgen Braun: Die Sache habe mit Trump rein gar nichts zu tun.

Ich fürchte, der Mann versteht vom Kapitalismus so viel wie Heidi Reichinnek. Disney war in den vergangenen Jahren immer auf der Seite der Demokraten, das stimmt. Aber jetzt sitzt im Weißen Haus eben nicht mehr Joe Biden, sondern der Sonnenkönig aus Florida. Und wenn man die Zustimmung der Regierung bei seinen Geschäften braucht, ist man auch bei Disney sofort bereit, einen Comedian unter den Bus zu schubsen. Wer glaubt, Unternehmen hätten so etwas wie eine politische Überzeugung, für die sie im Zweifel dann einstehen, der glaubt auch, dass der Weihnachtsmann am Nordpol wohnt und die Rentiere in Norwegen überwintern.

Wer waren die Ersten, die bei Trump zu Kreuze krochen? Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und der Apple-Chef Tim Cook. Bei der Amtseinführung saßen sie in der ersten Reihe, um dem neuen Herrscher zu huldigen. Da ist mir einer wie Elon Musk tausendmal lieber. Der hakte sich immerhin bei Trump ein, als noch nicht klar war, wer das Rennen machen würde. Wäre es schiefgegangen, hätten die Demokraten ihn bei lebendigem Leibe gehäutet und seine diversen Unternehmungen gleich mit.

Am Montagabend erreichte uns die Nachricht, dass Jimmy Kimmel wieder auf Sendung geht. „Go woke, go broke“, lautet ein Satz, der zusammen mit der Cancel Culture Karriere machte. Die Zahl von Unternehmen, die ihre Kunden verprellten, indem sie dem Zeitgeist huldigten, ist Legion. Wenn die Biermarke Bud Light plötzlich eine Transaktivistin zum Maskottchen erhebt, ist das so, als würde Ben & Jerry’s plötzlich seine Liebe zu Israel erklären.

„Go woke, go broke“ gilt in gleichem Maße für die neue Wokeness von rechts. Auf jeden Neukunden, den man gewinnt, wenn man plötzlich auf die Gegenseite schwenkt, kommt ein Schwung Fans, die sauer sind. Für alle, die Disney-Aktien besitzen, waren die vergangenen Tage nicht schön. Merke: Noch wichtiger als ein offenes Ohr in der Politik ist den Leuten in der Vorstandsetage der Börsenkurs, an dem ihre Boni hängen.

© Michael Szyszka

Im Feindesland

Jetzt zeigt sich, was für eine verheerende Idee es war, die Bildungseinrichtungen zum Safe Space umzubauen. Wenn der Safe Space auf Debattenprofis wie den Influencer Charlie Kirk trifft, gewinnt nicht der Safe Space. Auch daher war er so verhasst

Ich habe mir stundenlang Charlie-Kirk-Videos angesehen. Sie wissen schon, das ist dieser amerikanische Influencer, der vor einer Woche auf dem Campus der Universität Utah von einem 22-Jährigen erschossen wurde. Ich konnte nicht mehr aufhören, es war wie ein Sog.

Das Setting ist in den Videos immer das gleiche. Kirk sitzt in einer Art Zelt, das ihn vor der Sonne schützt, neben sich ein Glas Yogitee, an dem er hin und wieder nippt. Gegenüber steht ein sogenanntes Open Mic, an das jeder treten kann, der es mit ihm aufnehmen will. „Prove me wrong“, lautete der Titel der Veranstaltungen, die Tausende anlockten: Zeig mir, dass ich falschliege.

Es gibt einen jungen Mann, der sagt, dass er schwul sei und wissen wolle, was Kirk davon hält. Man sieht eine Feministin, die mit ihm über Abtreibung sprechen will, einen älteren, schwarzen Herren, der ihn zu Rassismus befragt, eine Frau im Regenbogen-Shirt, die für Transrechte streitet.

Vor den ohnehin Überzeugten auftreten, das kann jeder. Da reichen ein paar Klopfer, wie man bei uns in Bayern sagt, und die Leute sind glücklich. Aber sich in Feindesland begeben, mit nichts anderem ausgestattet als einem Mikrofon, das erfordert mehr Fähigkeiten.

Und die Universitäten, an denen Kirk auftrat, waren Feindesland. Wenn es einen Ort gibt, der noch fest in der Hand der Linken ist, dann ist es die akademische Welt. Halten Sie mich meinetwegen für einen Extremisten der Meinungsfreiheit: Aber so ein Kampfgeist beeindruckt mich.

Viele Linke fragen sich, wie es passieren konnte, dass der Zeitgeist nach rechts kippt. Ich glaube, der Grund liegt genau hier. Links der Mitte ist man schlicht nicht mehr in der Lage, der anderen Seite etwas entgegenzusetzen. Nicht weil es keine Argumente gäbe. Argumente lassen sich für nahezu jeden Standpunkt finden. Die Linke verliert, weil sie sich zu sehr daran gewöhnt hat, nur noch auf Leute zu treffen, die zustimmen.

Jetzt zeigt sich, was für eine verheerende Idee es war, die Bildungseinrichtungen zum Safe Space umzubauen. Wer eine ganze Generation darauf trainiert, schon die Verwendung eines falschen Pronomens als Gewaltakt zu betrachten, muss sich nicht wundern, dass sie zu keiner Gegenwehr in der Lage ist, wenn plötzlich der Leibhaftige in der Tür steht.

Man kann auch sagen: Wenn der Safe Space gegen Charlie Kirk antritt, gewinnt nicht der Safe Space. Diese Jugend ist nur lebensfähig, wenn man sie in Watte packt. Ein zu lautes Wort, ein unkorrekter Gag, und sie erleidet einen Schwächeanfall.

Kirk war auch die Antwort auf das Bedürfnis nach Coolness. Er war der Beweis, dass die Rechten nicht alle so dumm und einfältig sind, wie immer behauptet wird. Ein Hillbilly, der ein
Collegekid nach dem anderen vermöbelt: Kann man sich eine grausamere Demütigung vorstellen? Auch deshalb hassen sie ihn über den Tod hinaus.

Als ich die Videos sah, habe ich mich unwillkürlich gefragt: Wer wäre bei uns heute links der Mitte in der Lage, in den politischen Nahkampf zu gehen? Die Helden der Bewegung sind Leute wie die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke, hochdekoriert und bewundert, die zuletzt inständig darum bat, sich jedem Diskurs zu entziehen. Das war ihr Petitum: Geht nicht in die Talkshows, meidet Podien, auf denen die bösen Leute sitzen, bleibt unter euch.

Oder man hält sich an Komikern wie Jan Böhmermann fest, der seinen Letztkontakt mit der anderen Seite als Praktikant bei Harald Schmidt hatte. Als der Moderator vor vier Jahren im Gespräch mit dem „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo auf offener Bühne über sein Verständnis als Satiriker Auskunft geben sollte, galt das als Sensation. Wahnsinn, Böhmermann stellt sich kritischen Fragen!

Es sollte auch das vorerst letzte Mal bleiben. Seitdem hat er das Studio, wo er nur von Leuten umgeben ist, die garantiert auf seiner Seite stehen, nicht mehr verlassen. So sind ja auch die Sendungen: ein braves Abarbeiten der Stichworte, die ihm die Redaktion liefert. In diesem Setting gewinnt man immer. Notfalls wird so lange geprobt und geschnitten, bis man als Held vom Platz geht.

Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, aber die Linke hat sich nicht durchgesetzt, indem sie sich der Auseinandersetzung verweigerte. Im Gegenteil: Ihren Siegeszug verdankt sie dem Talent zur Aufmüpfigkeit. All das, worüber man heute die Nase rümpft, die Provokation, die Zuspitzung, die Übertreibung, waren einmal die Stilmittel, derer man sich selbst befleißigte.

Die Verführungskraft der Achtundsechziger bestand nicht in Rücksichtnahme und Leisetreterei, sondern in der Krawalllust. Die Helden waren Berufsprovokateure wie Fritz Teufel oder Rainer Langhans. Ich weiß noch, wie ich als 16-Jähriger ein zerlesenes Exemplar von Fritz Teufels „Klau mich“ wie einen Schatz hütete. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ war für mich keine wegen ihrer offensichtlichen Gewaltverherrlichung fragwürdige Äußerung, sondern ein Versprechen.

Heute ist es genau umgekehrt. Die wahren Rebellen sind bei der Jungen Union zu finden. Der brave Teil sammelt sich bei den Jusos und der Grünen Jugend. Die linken Jugendorganisationen sind das, was früher die Pfadfinder oder die katholische Dorfjugend waren: Orte, an denen man lernt, wie man garantiert nicht aus der Reihe tanzt.

Damit nicht so auffällt, wie brav und angepasst man in Wahrheit ist, reißt man hin und wieder einen kessen Spruch. Dann beschimpft man Polizisten als Bastarde und die Reichen als Aasgeier. Aber in Wahrheit gibt es keine folgsamere Truppe als die Grüne Jugend. Das war schon bei den Klimaprotesten zu beobachten: Während Annika und Finn gegen den Klimatod protestierten, standen die stolzen Eltern am Rand und klatschten Beifall.

Mag sein, dass Kirk wirklich ein schlimmer Finger war. Gut möglich, dass es eine andere Seite gibt, die man auf den Videos nicht sieht. Dass sich irgendwo das frauenverachtende, rassistische Arschloch versteckt, von dem seine Verächter sprechen. Aber die meisten Zitate, die ich gesehen habe, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als deutlich nuancierter und vielschichtiger, als es zunächst den Anschein hat.

Auch Fritz Teufel hat übrigens Sachen gesagt, bei denen einem heute die Haare zu Berge stehen. Man konnte in Deutschland zwischenzeitlich sogar in den Planungsstab des Auswärtigen Amts gelangen, nachdem man als Student ein paar der schlimmsten Massenmörder der Geschichte bejubelt hatte. Die Begeisterung für Pol Pot oder Mao zeigt jedenfalls einen größeren Mangel an Urteilskraft als ein fragwürdiger Satz zum Geschlechterverhältnis.

Wir können Kirk nicht mehr fragen, was er davon halten würde, dass nun auch die US-Regierung allen den Krieg erklärt, die angeblich Hassreden verbreiten. Oder dass dem Washington-Korrespondenten des ZDF mit Visa-Entzug gedroht wird, weil der in einem Beitrag etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Der Kirk, den ich gesehen habe, würde davon nicht viel halten. Wer andere ausschließt, hat schon verloren, das ist die Botschaft, die er für Freund und Feind bereithielt.

Aber so ist das im politischen Geschäft: Wer an der Macht ist, wird faul und bequem. Insofern muss man nur darauf warten, bis das Pendel wieder in die andere Richtung schwingt. Bis es so weit ist, wird nach dem Zustand der Linken zu urteilen, allerdings noch einige Zeit vergehen.

@ Michael Szyszka