Schlagwort: Friedrich Merz

Das wird kein gutes Ende nehmen

Friedrich Merz gilt als Macher und harter Knochen. In Wahrheit war er die größte Zeit seines Berufslebens damit beschäftigt, anderen gefällig zu sein. Das hat abgefärbt

Am Ende bleibt das Genderverbot. Das hat die CDU auf den Weg gebracht, um zu zeigen, dass sie nun im Kanzleramt sitzt. Dafür hat die Kraft gereicht.

Künftig sind alle Angestellten von Kulturinstitutionen angehalten, im offiziellen Schriftverkehr zur zweigeschlechtlichen Anrede zurückzukehren. So hat es Kulturstaatsminister Wolfram Weimer verfügt. Wobei, so ein richtiges Genderverbot ist es nicht, eher ein Appell. Wenn die Museumsdirektorin in Wuppertal weiterhin den Genderstern benutzt, was will der Kulturstaatsminister unternehmen? Ihr den Stern persönlich aus allen Schreiben herausstreichen?

Ah ja, und die Flagge der LGBT-Bewegung kommt nur noch einmal im Jahr auf das Dach des Reichstags. Das hat die tapfere Julia Klöckner so angeordnet, gegen den erbitterten Widerstand von „Süddeutsche“ und „Zeit“. Aber ansonsten?

„Links ist vorbei“ – das war die Ankündigung von Friedrich Merz zum Wahlsonntag. Deswegen wurde er mit großem Abstand vor seinem Konkurrenten von der SPD gewählt. In Wahrheit läuft alles weiter wie gehabt, nur die Geschwindigkeit hat sich geändert. Das Geld für den deutschen Sozialstaat fließt jetzt einfach doppelt so schnell.

Der „Spiegel“-Kollege René Pfister hat kürzlich an den berühmten Ausspruch von Barack Obama erinnert, mit dem dieser auf die Empörung gegen seine Gesundheitsreform reagierte: „Elections have consequences“ – Wahlen haben Folgen. Wer die Mehrheit einbüßt, muss damit leben, dass er nicht mehr das Sagen hat. Aber genau das Prinzip ist in Deutschland auf den Kopf gestellt.

Das Unglück der Union ist, dass sie an einen Partner gekettet ist, der die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen will. Nominell ist das linke Lager stark zusammengeschnurrt. Legt man aktuelle Umfragen zugrunde, kommen SPD, Grüne und Linkspartei gerade mal auf 37 Prozent der Wählerstimmen. Aber die Sozialdemokraten tun einfach so, als säßen sie noch immer im Kanzleramt.

Das Symbol für diese Wirklichkeitsverweigerung ist der Heckmeck um den Fraktionssaal. Bis heute weigert sich die SPD, ihren Sitzungssaal im Bundestag zu räumen. Der Saal sei schließlich nach dem Antifaschisten Otto Wels benannt, heißt es zur Begründung. Niemand könne der SPD zumuten, ihn ausgerechnet für die AfD zu räumen.

Alles daran ist illusionär. Der Saal heißt nur in der Einbildung der Sozialdemokraten Otto-Wels-Saal. Als die Linkspartei dort saß, war er nach der linken Säulenheiligen Clara Zetkin benannt. Wenn man in den Raumplan des Bundestags schaut, steht da die schnöde Bezeichnung S 001.

Die Reihen der SPD-Fraktion sind so stark gelichtet, dass jeder Abgeordnete sein ganzes Büro samt Haustieren mitbringen kann. Dafür platzt jetzt der Sitzungssaal der AfD-Fraktion aus allen Nähten, weil sie um das Doppelte gewachsen ist. Mich wundert, dass die Feuerwehr nicht einschreitet. Eigentlich müssten Zusammenkünfte der AfD schon aus feuerpolizeilichen Gründen untersagt werden.

Normalerweise würde man den Genossen sagen: Holt euch Hilfe. Macht ’ne Therapie oder nehmt etwas, was euch runterholt. Aber um Gottes willen, haltet euch von Posten fern, auf denen ihr über die Geschicke des Landes bestimmt. Wer im Traumreich lebt, darf in Deutschland nicht mal ein Auto besteigen, ohne dass ihn die Packungsbeilage verwarnt. Doch nach Lage der Dinge ist Therapie keine Option. Wenn die SPD ausfällt, bleibt zum Regieren nur die AfD. Und das will keiner.

Dummerweise werden die Sozialdemokraten in ihrer Realitätsflucht von vielen Presseorganen bestärkt, die ebenfalls so tun, als habe es den Wahltag nie gegeben. Was die SPD vorschlägt, gilt als grundvernünftig. Was die CDU anregt, ist Ausdruck eines Kulturkampfes. Der Kollege Pfister hat das sehr schön auf den Punkt gebracht, als er schrieb, dass sich die Linke angewöhnt habe, die eigenen Anliegen für alternativlos zu halten. Kulturkämpfer sind immer die andern.

Wenn wenigstens auf den Kanzler Verlass wäre. Dann könnte man sagen: Sei’s drum. Merz umgibt der Nimbus des Machers und harten Knochens, aber nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. In Wirklichkeit hat er die letzten 15 Jahre seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen damit verdient, anderen die Tür aufzuhalten.

Wikipedia führt ihn etwas hochtrabend als Wirtschaftsanwalt. Nach allem, was man weiß, war Merz ein mittelmäßig erfolgreicher Lobbyist, der den Ruf zu versilbern wusste, in Berlin die richtigen Leute zu kennen. Unternehmensführer sind erstaunlich naiv, was das politische Geschäft angeht. Politik ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb kommt man als Berater schon mit relativ wenig Erfahrung durch.

Merz stammt aus einer Welt, in der grundsätzlich der Recht hat, der die Rechnung bezahlt. In den vergangenen Jahren war das Larry Fink, der Chef von Blackrock. Unverrückbare Grundsätze? Werte, die den Tag überdauern? In Firmenbroschüren stellt man das gerne aus, aber im Tagesgeschäft zählt das nicht die Bohne. Wenn 70 Prozent der Deutschen ein Ende von Waffenlieferungen wünschen, die ohnehin nur auf dem Papier existieren, wäre man doch verrückt, ihnen diesen Wunsch abzuschlagen, nicht wahr?

Dass Merz als konservativ gilt, verdankt er den Auftritten, in denen er sich schnell in Rage redete, und dem Urteil seiner Gegner. Verheiratet, drei Kinder, nicht geschieden und dann noch aus der Provinz: Das reicht heute schon, um als rechter Hardliner durchzugehen.

Eine überraschende Volte ist, dass der Politiker Merz jedes Gespür für die Stimmung im eigenen Laden vermissen lässt. Das ist die eigentliche Pointe: Ausgerechnet der Mann, der seine politische Spätkarriere darauf begründete, den Ausverkauf der Werte und Prinzipien zu stoppen, räumt beim ersten Gegenwind alles ab, was von der CDU noch übrig ist. Finanzielle Solidität? Mehr Eigenverantwortung statt Bevormundung? Solidarität mit Israel? Wenn man Pech hat, ist schon eine Nachtsitzung später davon nichts mehr übrig.

Das ist die Kehrseite des Opportunismus der Wirtschaftswelt: Wer ganz oben ist, bestimmt, wo es langgeht. Da reicht ein Stirnrunzeln, damit alle springen. Jetzt ist Merz ganz oben. Also macht er den Larry Fink. So hat er es gelernt.

Dummerweise funktioniert eine Fraktion nicht wie ein Unternehmen und ein Parteivorstand nicht wie ein Aufsichtsrat. Im Zweifel trifft man hier auf sehr eigenwillige Charaktere, die nicht einsehen, weshalb sie spuren sollen, nur weil Chefe es so will. Einem kleinen Staatssekretär kann man einen gewaltigen Schreck einjagen, indem man ihn böse anguckt, das ist wie bei Blackrock. Aber ein direkt gewählter Abgeordneter oder Ministerpräsident winkt müde ab, wenn man ihm drohen will.

Wohin das führt? Bislang hält die Angst vor dem Scheitern die Leute in der Union zusammen. Man sollte die Angst allerdings nicht überschätzen. Menschen agieren weniger strategisch, als man meinen sollte. Schlimmer geht immer, wäre meine Lehre aus 35 Jahren Politikbeobachtung. Wenn der Frust überhandnimmt, rückt alles in den Hintergrund, auch der Blick auf den Tag danach.

 

© Silke Werzinger

Der Niedergang

„Sagen, was ist“, hat „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein seinen Redakteuren mit auf den Weg gegeben. Heute verfährt die Redaktion lieber nach dem Motto: „Sagen, was sein soll“. Dabei kommt es zu haarsträubenden Fehlern

Der Brief, der die Meinung der „Spiegel“-Redaktion über Friedrich Merz zusammenfasst, ist 22 Zeilen lang. Er findet sich auf den letzten Seiten des Heftes, wo die Zuschriften der Leser abgedruckt sind.

Peter Krizan aus dem bayrischen Neuötting berichtet dort von einem desaströsen Auftritt des heutigen Kanzlerkandidaten an der Universität St. Gallen. Vor 20 Jahren habe Merz eine Vorlesung als Honorarprofessor gegeben, die so blamabel verlaufen sei, dass der Auftritt von der renommierten Hochschule als Schande empfunden worden sei. Unter den Studenten sei es zu Tumulten gekommen. Die Universitätsleitung habe sich gezwungen gesehen, sich vorzeitig von Merz zu trennen, um das ramponierte Image wiederherzustellen. Quite a story, wie der Engländer sagen würde.

Leider stimmt an der Geschichte nichts. Merz war nie zu Vorlesungen in St. Gallen; er hat schon gar nicht Wirtschaftswissenschaften unterrichtet, weder in der Schweiz noch anderswo. Merz ist Jurist, wie man leicht ergoogeln kann. Der Leserbriefschreiber, ein pensionierter Verfahrenstechniker, existiert, das immerhin. Aber alles andere entspringt der Fantasie.

Wie Krizan der „Süddeutschen“ berichtete, hatte er sich erinnert, dass sein Sohn in St. Gallen studiert und von einem Auftritt des CDU-Politikers erzählt habe. Weil der Sohn gerade nicht greifbar gewesen sei, habe er ChatGPT befragt, was die KI zu dem Vorfall wisse, worauf ihm obige Geschichte präsentiert worden sei, die er wiederum als Leserbrief nach Hamburg an den „Spiegel“ geschickt habe. Naja, habe er sich gedacht, die haben ja einen Faktencheck, die werden das schon überprüfen. Umso größer dann sein Erstaunen, als der Brief unverändert im „Spiegel“ erschien.

Ich habe 30 Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet. Ich hatte dort eine prima Zeit. Anders, als viele vermuteten, wurde ich auch nicht weggemobbt. Der damalige Chefredakteur hat mir glaubhaft versichert, dass er meinen Wechsel aufrichtig bedauere, als ich zu Burda ging. Aber wenn ich heute das Blatt lese, erkenne ich es kaum wieder.

Der Redaktion steht eine Dokumentation zur Seite, die ihresgleichen sucht. Jeder Text geht durch mehrere Hände, auch die Leserbriefe. Wie kann es also sein, dass ein Brief, der Behauptungen enthält, die jeder Plausibilität entbehren, seinen Weg ins Heft findet? Tumulte an einer Uni, weil BWL-Studenten mit der Qualität einer Vorlesung nicht einverstanden sind – und das ausgerechnet in der Schweiz? Da lachen ja die Hühner, wie man so schön sagt.

Der Quatsch fällt niemandem auf, weil er das Bild bedient, das man sich bis in die Chefredaktion von der CDU und ihrem Kandidaten gemacht hat. Hätte es sich um Robert Habeck gehandelt, wäre ein solcher Brief gleich in der Ablage Papierkorb gelandet. Aber bei Merz scheint alles möglich. Das ist wie beim Fall Relotius: Auch da versagten alle Sicherheitskontrollen, weil die Geschichten perfekt der Erwartungshaltung der Redaktion entsprachen.

„Sagen, was ist“, steht an einer Wand im Atrium des Verlagsgebäudes an der Hamburger Ericusspitze, ein Satz des Gründers Rudolf Augstein, mit der er seine Redakteure verpflichten wollte, über den politischen Gestaltungswillen die Wirklichkeit nicht zu vergessen. Tempi passati. „Sagen, wie es sein soll“, lautet das Motto, dem sich die Redaktion heute verpflichtet fühlt.

Damit man mich nicht missversteht: Es gibt wunderbare Kollegen beim „Spiegel“. Immer wieder findet man auch Geschichten, die es in dieser Qualität nur dort gibt. Aber es ist ein Glücksspiel geworden, ob sich der Kauf des Heftes lohnt. Oft herrscht nur gähnende Ödnis.

„Es ist bitter zu sehen, wie die ‚Zeit‘ jetzt regelmäßig den ‚Spiegel‘ abkocht“, schrieb ich neulich einem Kollegen, der wie ich inzwischen woanders arbeitet. „Mir liegt das Blatt immer noch am Herzen, und ich leide wirklich mit, dass es jetzt oft so abgehängt wirkt“, schrieb er zurück.

Früher hat man sich beim „Spiegel“ lustig gemacht, dass die „Zeit“ am Donnerstag die Geschichten kommentierte, die zuvor im „Spiegel“ gestanden hatten. Heute ist es genau umgekehrt. Wie die FDP den Ampel-Bruch vorbereitete oder die Grünen einen der ihren mit erfundenen Me-Too-Vorwürfen erledigten, liest man zuerst in der „Zeit“. Im „Spiegel“ folgt dann die Nachbereitung in der „Lage am Morgen“ – oder eine „Analyse“ der Vorgänge aus der Feder der stellvertretenden Berliner Büroleiterin Maria Fiedler.

Nichts gegen gepfefferte Kommentare. Aber selbst die wirken heute oft seltsam blutleer, weil kaum noch jemand aus der Reihe tanzt. Natürlich sind die Grünen, bei allen Fehlern, die Partei der Wahl. Selbstverständlich ist Trump verachtenswert und Musk noch verachtenswerter und die Sorge um die Demokratie und den liberalen Westen das, was uns alle bewegen muss.

Weil das auf Dauer kein abendfüllendes Programm ist, verlegt sich die Redaktion darauf, dieselben Gegner einfach noch einmal zu vermöbeln. Wenn ich mich nicht verzählt habe, gab es nach der Abstimmung über die Migrationspläne der CDU allein sechs Kommentare, weshalb Merz einen desaströsen Fehler begangen habe. Dass mitunter die Korrekturhinweise unter den Kommentaren fast so lang sind wie der Kommentar selbst, weil sich die Kommentatoren in ihrem Eifer über alle möglichen Fakten hinweggesetzt haben? Geschenkt. Es geht ja gegen die Richtigen.

Ginge es nur um den „Spiegel“, könnte man sagen: Nun ja, der „Spiegel“ halt. Aber ich sehe hier einen Trend. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es mit der Selbstabschottung eines journalistischen Milieus zu tun, das alles, was der eigenen Meinung widerspricht, einfach ausblendet – oder zum Werk von Feinden erklärt, denen man aus höheren Gründen trotzen müsse.

Wie sich die Dinge verschoben haben, sieht man bei dem, was für preiswürdig gehalten wird – und was nicht. Man kann aus der journalistischen Jurypraxis geradezu ein Gesetz ableiten: Wenn sich Teile der Berichterstattung als fragwürdig oder unwahr herausstellen, erhöht das eher die Chance auf eine Auszeichnung.

Wer erhielt den renommierten „Stern“-Preis für die „Geschichte des Jahres 2022“? Der „Spiegel“ für seinen Artikel „Warum Julian Reichelt gehen musste“ – und dabei blieb es auch, als sich wesentliche Vorwürfe der Hauptbelastungszeugin als frei erfunden erwiesen. Wer bekam die Auszeichnung für die „Geschichte des Jahres 2024“? Die „Süddeutsche“ für den Ursprungstext über den Fall Aiwanger, von dem selbst der „SZ“-Chefredakteur in einer Redaktionskonferenz gesagt hatte, das man das so im Nachhinein nicht hätte machen sollen.

Wer sind die „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2024“?: Das Team des Recherchenetzwerks „Correctiv“, dessen aufsehenerregende Reportage über die Remigrationspläne der AfD vor den Gerichten so zerpflückt wurde, dass man die Redaktion gerichtsfest der Unwahrheit bezichtigen darf. Funfact: Am Tag, als das „Medium Magazin“ die „Correctiv“-Mannschaft als Vorbild für die Branche auszeichnete, erklärte das Landgericht Berlin II die Bezeichnung „dreckige Lüge“ für den von ihr publizierten „Geheimplan“ als zulässig.

Wird sich etwas ändern? Ich habe wenig Hoffnung. Am Montag entschuldigte sich der „Spiegel“ bei seinen Lesern für den Abdruck des fehlerhaften Leserbriefs. Man habe ihn „depubliziert“. Das ist das Wort, auf das man sich redaktionsintern geeinigt hat. Es klingt nicht nur ungleich vornehmer als „gelöscht“ oder „entfernt“. In ihm schwingt auch die Suggestion mit, bei der Löschung handele es sich um eine souveräne Entscheidung der Redaktion.

Selbstverständlich saß die stellvertretende Chefredakteurin Melanie Amann, die am Wochenende die Depublizierung verfügt hatte, am Sonntag schon wieder bei „Caren Miosga“ – als „die einzig Unparteiische hier an diesem Tisch“, wie die Talkshow-Moderatorin die „Spiegel“-Frau vorstellte. Unparteiisch? Da muss nicht nur der „Spiegel“-Abonnent herzhaft lachen. Anderseits gilt bei Miosga jeder als unparteiisch, der sein Kreuz links der Mitte macht. Parteiisch sind immer die andern. So schließt sich der Kreis.

Weil nichts Konsequenzen hat, auch die haarsträubendsten Fehler nicht, gibt es auch keine Veranlassung, etwas zu ändern. Das Vertrauen der Leser erodiert, aber das ist ein anderes Thema. Damit beschäftigt man sich dann auf Podien, in denen man das sinkende Vertrauen in die Demokratie beklagt.

© Sören Kunz