Springer-Chef Mathias Döpfner steht in der Kritik, weil er sich in privaten SMS drastisch geäußert hat. Ein Skandal? Ja – für alle, die es immer schon unmöglich fanden, wie die Springer-Blätter die Grünen angehen
Was denkt Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der „Zeit“, über Politiker, die er für unfähig hält? Flucht er manchmal über sie? Hegt er hässliche Gedanken über Ossis, Muslime oder Angela Merkel?
Was schreibt Steffen Klusmann vom „Spiegel“ im Vertrauen, wenn er sich ärgert? Gestattet er sich Schimpfwörter? Hat Wolfgang Krach, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, jemals eine SMS verfasst, von der er sich wünscht, er hätte sie nie geschrieben?
Nein, nein, nein. Ich bin sicher, diese Zeitungsführer schreiben auch in ihren schwärzesten Stunden so, dass es sich jederzeit für einen Leitartikel eignen würde. Niemals würde ihnen ein Wort wie „ficken“ über die Lippen, geschweige denn in die Tastatur kommen. Oder ein Ausdruck wie „AfD-Wichser“.
Selbstverständlich würden sie noch unter dem härtesten Einfluss von Alkohol oder anderer potenziell toxischer Substanzen in perfekter Orthografie darauf beharren, dass man auf keinen Fall ganze Volksgruppen über einen Kamm scheren dürfe. Schon gar nicht kämen sie auf die Idee, politische Gegner in die Opposition zu wünschen oder ihre Zeitungsmacht zu nutzen, damit sie dahin zurückkehren. Ein Verdikt wie: „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten“? Bei ihnen undenkbar!
Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns, ist kein so beherrschter Mensch wie seine Journalistenkollegen. Er hat, wie man spätestens jetzt weiß, ein überraschend entflammbares Temperament, das sich gelegentlich auch in Flüchen und Schimpfkanonaden entlädt.
Zehn Tage ist es her, dass man in der „Zeit“ einen Teil der SMS lesen konnte, die er an Julian Reichelt, den ehemaligen Chefredakteur der „Bild“, geschickt hat, als dieser noch leitender Redakteur im Hause Springer war. So einen Freudentag hat man im übrigen Mediendeutschland seit Langem nicht mehr erlebt – kein Wunder, dass man ihn dort durch immer neue Kommentare und „Nachdrehen“ zu verlängern sucht.
Im „Spiegel“ war zu lesen, wie enttäuscht man von dem Mann sei, den man sich immer als Feingeist und Freund der schönen Künste vorgestellt habe. Und nun so ordinär und rabiat im Auftritt: schrecklich! Die brave „SZ“ fiel so sehr von einer Ohnmacht in die andere, dass sie der Causa über zehn Artikel widmete, darunter ein Streiflicht, eine Seite drei, einen Kommentar und zwei Medienaufmacher.
Darf man Ostdeutsche als Faschisten und intolerante Muslime als Gesocks bezeichnen? Natürlich darf man das. Es ist ungerecht, es ist unmanierlich, aber solange man damit nicht an die Öffentlichkeit tritt, liegt kein Grund für irgendwas vor. Wie heißt es so schön: Die Gedanken sind frei. Private Mails und Textnachrichten sind es auch.
Aber weil Döpfner nicht irgendwer ist, sondern der Chef des mächtigsten europäischen Medienhauses, heißt es nun, die SMS seien gar nicht richtig privat, jedenfalls nicht so privat, dass man daraus nicht zitieren dürfe. Dieses Argument wird kurioserweise vor allem von Leuten vorgebracht, die ansonsten bei jedem Verstoß gegen den Datenschutz einen Herzanfall bekommen.
Sie hätten die wirklichen privaten Nachrichten ja nicht veröffentlicht, rechtfertigen sich die „Zeit“-Redakteure. Also alles über Familie und Frauen hat man draußen gelassen, soll das wohl heißen. Andere machen aus den SMS-Fetzen umstandslos Dienstanweisungen an einen Untergebenen, womit es sich um quasi offiziöse Verlautbarungen handelt. Wenn es darum geht, eine Begründung zu liefern, warum man auch Sachen veröffentlicht, die man eigentlich nicht veröffentlichen sollte, waren Medien schon immer kreativ. Im Zweifel erfindet man irgendein „überragendes öffentliches Interesse“, dem man dient.
Wer das Verhältnis von Mathias Döpfner und Julian Reichelt kennt, weiß, dass es sich hierbei nicht um ein normales Arbeitsverhältnis gehandelt hat. Die beiden sahen sich als Kampfgefährten, als „Brothers in Arms“. Deshalb fiel ja auch die Trennung so schwer. Döpfner hielt noch an Reichelt fest, als alle ihm schon rieten, ihn loszuwerden. Reichelt wiederum entwickelte einen geradezu mörderischen Hass auf Döpfner, als der ihm am Ende die Tür wies. Schlimmer als ein zerbrochenes Arbeitsverhältnis ist enttäuschte Liebe.
Ein Bekannter, der für eine Zeitung in Berlin arbeitet, schrieb mir: „Die Scheinheiligkeit ist kaum zu ertragen. Wenn meine linken Freunde hören, dass ich in der Uckermark lebe, sagen sie immer: ,Echt? Da leben doch nur Nazis.‘ Das ist dann völlig akzeptierte Redeform.“ Aber auch das ist den Redakteuren in Hamburg vermutlich gänzlich unbekannt. Sie besitzen weder Häuser in der Uckermark, noch würden sie Ostler jemals als Nazis bezeichnen. Den einzigen Ossi, den sie in Hamburg beim Namen kennen, ist Gregor Gysi, und den mögen alle.
Um was es geht? Ganz einfach: Es geht darum, das einzige Medienhaus in Deutschland, das verlässlich gegen Rot-Grün antritt, in die Knie zu zwingen. Springer ist die letzte publizistische Macht, die in der Lage und vor allem auch willens ist, der Bundesregierung geschlossen das Leben schwer zu machen. Glaubt jemand ernsthaft, die „Süddeutsche“ würde einen Abgrund von „Menschenverachtung“ beklagen, wenn Döpfner seine Redaktionen angehalten hätte, entschiedener gegen den Klimawandel anzuschreiben und statt der FDP Annalena Baerbock zu unterstützen?
Marc Felix Serrao hat in der „NZZ“ darauf aufmerksam gemacht, dass das, was die „Zeit“ nicht für problematisch hält, mindestens so interessant ist wie das, was sie empörend findet. Nicht problematisch ist zum Beispiel eine Nachricht der Gesellschafterin Friede Springer an ihren Chefredakteur, in der sie den „lieben Julian“ bittet, er möge doch der „erfahrenen Bundeskanzlerin“ im Umgang mit der Corona-Pandemie zur Seite stehen. Es kommt eben ganz darauf an, für wen man Partei ergreift, damit ein Skandal daraus wird.
Man mag einwenden, dass es einen Unterschied macht, ob ein Vorstandsvorsitzender oder ein Chefredakteur seine Leute auf eine Blattlinie verpflichtet. Das ist formal richtig, aber für den Redakteur, den es trifft, fühlt sich beides gleichermaßen übergriffig an. Und dass dies ein Tabubruch wäre, können nur Leute behaupten, die frisch von der Journalistenschule kommen, wo man Pressekampagnen lediglich dem Namen nach kennt.
Der „Spiegel“ ist groß geworden, indem er Partei ergriff, erst für Brandts Ostpolitik, dann gegen Helmut Kohl. Auf 36 Titeln variierte die Redaktion die Zeile „Kohl kaputt“, bis es dann, nach 16 Jahren, endlich geschafft war. Ich habe in meinen 30 Jahren beim „Spiegel“ viele Ressortleitersitzungen mitgemacht. Lassen Sie es mich so sagen: Auch nach 1998 wurde dem Kampagnenjournalismus nicht abgeschworen. Fragen Sie Gerhard Schröder, der kann ein Lied davon singen.
Erst als Angela Merkel in der Flüchtlingskrise zur Kanzlerin der Herzen aufstieg, wandelte sich das Blatt. Seitdem sieht man sich in der Hauptstadtredaktion als kritischer, aber konstruktiver Begleiter der Regierung. Daher auch die unfassbare Langeweile, die viele Artikel heute verströmen. Wenn doch mal jemand ins Visier gerät, wie neulich der treue Merkel-Knappe Peter Altmaier, dann kommt die Geschichte garantiert nicht aus dem Berliner Büro.
Die eigentliche Pointe ist, dass die veröffentlichten SMS einen Döpfner abbilden, den es so gar nicht mehr gibt. Der neue Döpfner ist ein Mann, der möchte, dass die „Bild“ weniger bullig auftritt. Der seinen Führungskräften Awareness-Seminare verordnet, in denen sie den inklusiven, gendersensiblen Sprachgebrauch erlernen, und der mit Kommentaren eingreift, wenn in einem seiner Blätter Wissenschaftler die verrückte These aufstellen, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt.
Man darf getrost davon ausgehen, dass 60 Prozent der Deutschen die Lage so sehen, wie der Mann an der Spitze des Konzerns sie in seinen Nachtnachrichten schilderte. Dass Merkels Energiepolitik ein Unglück fürs Land war und ihre Corona-Politik übertrieben, dass Scharia-Muslime eine Gefahr darstellen und die Angst vor dem Klimawandel hysterische Züge trägt: Das kann die Mehrheit sofort unterschreiben. Dieser Mehrheit eine Stimme zu geben war bislang die Stärke der „Bild“.
© Sören Kunz