Die Regierung sagt, sie folge bei ihren Entscheidungen zum Ausnahmezustand der Zahl der Neuinfektionen. Das klingt wissenschaftlich und rational. Leider weiß nur niemand, wie viele Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infiziert sind
Es sei zu früh, über eine Lockerung des Ausnahmezustands nachzudenken, hat die Bundeskanzlerin gesagt. Ist es zu früh? Und wann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen? Angela Merkel hat einen Hinweis gegeben, was sie für opportun hält. Sie hat gesagt, dass man über eine schrittweise Rückgabe der Freiheitsrechte an den Bürger nachdenken könne, wenn sich die Zahl der Neuinfektionen nur noch alle zwölf Tage verdoppeln würde. Besser sei im Abstand von 14 Tagen. Vor drei Wochen, als die Regierung den Ausnahmezustand über Deutschland verhängte, lag die Verdoppelungsrate bei vier Tagen. Anfang der Woche war man bei zehn angekommen.
Zwölf Tage klingt nach einem Wert, an dem man sich orientieren kann, etwas Greifbarem, woran sich Erfolg oder Misserfolg der angeordneten Maßnahmen messen lassen. Die Zahl nimmt den Entscheidungen der Regierung die Willkürlichkeit, deshalb hat sie Kanzleramtschef Helge Braun noch einmal ausdrücklich wiederholt. Seht her, soll das heißen: Wir handeln streng rational und im Einklang mit dem, was die Forschung uns sagt.
Das klingt beruhigend. Man sollte nur nicht den Fehler machen, genauer nachzufragen, wie die Zahlen, auf denen die Entscheidungen der Regierung basieren, zustande kommen. Ich lese fast alles, was man zu dem Thema finden kann. Ich sehe mir jeden Tag die Reproduktionsraten des Virus an. Ich will alles wissen und verstehen. Aber je mehr ich lese, desto mehr Fragen stellen sich mir. Man sollte meinen, dass die Wissenschaft den Verlauf der Pandemie mit jedem Tag genauer einschätzen kann, aber selbst über Grundsätzliches herrscht nach wie vor Unklarheit. Die Wahrheit ist: Je näher man herantritt, desto uneinheitlicher wird die Stimme der Forschung.
Nehmen wir die Fallzahl, die man im Kanzleramt zur entscheidenden Größe erkoren hat. Als ich diese Zeilen schreibe, haben sich knapp 100 000 Menschen in Deutschland am Corona-Virus angesteckt. Das ist d er Wert, den das Robert Koch-Institut nennt. Das Exakte erweckt immer Vertrauen. Mathematik ist immun gegen Meinungen, Vorlieben o der Interessen, das macht sie so überzeugend. Doch das, was uns als Zahl der Infizierten genannt wird, ist nicht die Zahl derjenigen, die sich mit dem Virus angesteckt haben. Es sind die Infizierten, von denen man weiß, dass sie infiziert sind. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Tatsächlich lässt sich aus der Tatsache, dass die Zahl der Infizierten steigt, noch nicht einmal ein Rückschluss auf die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus ziehen. Es spricht einiges dafür, dass sich die Geschwindigkeit beschleunigt, wenn die Zahl der erkannten Virusträger stark zunimmt. Aber genau weiß man es nicht, weil ständig die Bezugsgrößen geändert werden. Oder man die Kontrolle verschärft.
Mitte März vervierfachte sich binnen zwei Wochen die Zahl der vom Covid-19-Virus Befallenen. In derselben Zeit hatten allerdings die Gesundheitsämter ihre Testkapazitäten deutlich ausgeweitet, wie aus einer dieser Tage veröffentlichten Auswertung hervorgeht. Außerdem war man dazu übergegangen, den Kreis der Getesteten noch stärker auf Leute zu beschränken, bei denen es ein en begründeten Verdacht gab, dass sie sich mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Beides hat einen erheblichen Einfluss auf die Fallzahlen. Es ist wie mit der Kriminalitätsstatistik: Je mehr Polizei man auf die Straße schickt, desto mehr Kriminalität findet man. Das ist nahezu unweigerlich so.
Ein Kollege berichtet mir von seinem Bruder, der in Süddeutschland einen großen Handwerksbetrieb unterhält. Der Bruder hat 15 Angestellte. Fünf sind erkrankt, vermutlich an Corona. Alle zeigen die typischen Symptome, aber wirklich weiß man es nicht. Der Bruder hat sich testen lassen, nachdem er nichts mehr roch. Er hatte Chlorreiniger bestellt, um seine Werkstatt zu säubern, und dachte erst, sie hätten ihn beschwindelt und ihm Wasser verkauft, bis er darauf kam, dass der Geruchsverlust ein Symptom der neuen Krankheit sein könnte.
Ebenfalls positiv getestet: ein Mitarbeiter, den es so heftig erwischt hat, dass er ins Krankenhaus musste. Für die andern gilt: Selbstdiagnose und Selbstquarantäne. Auch die Familienangehörigen, die vermutlich ebenfalls infiziert sind, haben nie einen Arzt gesehen. Das heißt, in diesem Fall haben wir: zwei positiv Getestete sowie mutmaßlich zehn bis zwölf Menschen, die sich mit Covid-19 angesteckt haben, die aber nie in einer Statistik auftauchen werden, schon gar nicht in der des Robert Koch-Instituts.
Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten deutlich unterschätzt wird. Aus Dänemark kam Anfang der Woche die Nachricht, dass man in 27 von 1000 Blutproben, die man einer Stichprobe unterzog, Antikörper entdeckt hat. Die Stichprobe gilt als repräsentativ genug, um daraus einen Rückschluss auf den Durchseuchungsgrad der dänischen Bevölkerung zu ziehen.
Rechnet man die Zahl auf Deutschland hoch, würde das bedeuten, dass in Wahrheit bereits über zwei Millionen Bürger infiziert sind. Das wäre dann das 22-Fache der offiziell ausgewiesenen Zahl. Da beide Länder beim Verlauf der Pandemie nicht weit auseinanderliegen, ist die Annahme nicht so unplausibel. Man weiß, dass gut die Hälfte der Infizierten keine Symptome zeigt und den Virus deshalb unwissentlich weiterträgt. Das macht Sars- CoV-2, wie das Virus korrekt heißt, ja auch so flink.
Was bedeutet das für die Sterberate? Enorm viel. Es bedeutet zum Beispiel, dass die Letalität des Virus möglicherweise deutlich geringer ist als von vielen Experten vermutet. Auch wenn die Zahl derjenigen, die am Virus sterben, der Zahl der Neuinfektionen deutlich hinterherhinkt, läge die Todesrate eben nicht, wie derzeit von der WHO angegeben, bei 3,4 Prozent, sondern eher zwischen 0,1 und 0,5 Prozent.
Einer der Epidemiologen, die schon lange vermuten, dass das Virus weniger tödlich verläuft als angenommen, ist John Ioannidis von der Stanford University. Ioannidis verweist auf zwei Beispiele, die seine Argumentation stützen. Das eine ist die „Diamond Princess“, die im Februar wegen eines Corona- Ausbruchs zwei Wochen lang vor der Küste Japans festlag. Das Kreuzfahrtschiff ist ein nahezu perfektes Studienmodell, da hier eine geschlossene Gesellschaft dem Virus ausgesetzt war.
Von den insgesamt 3711 Passagieren erkrankten 697, was einer Infektionsrate von 20 Prozent entspricht. Sieben starben an den Folgen der Infektion, die Mortalität lag damit bei einem Prozent. Stellt man in Rechnung, dass die „Diamond Princess“ sehr viele ältere Passagiere an Bord hatte, und unterstellt stattdessen die normale Altersstruktur einer Gesellschaft wie den USA, sinkt die Letalitätsrate der Rechnung des Stanford-Virologen weiter, und zwar auf einen Wert zwischen 0,025 und 0,625 Prozent.
Ein anderes Beispiel, das Ioannidis anführt, ist Island, wo sich die Bevölkerung einem freiwilligen Test unterzog, der nahe an eine zufallsbasierte Stichprobe herankommt. Aus den Daten geht hervor, dass sich zum Erhebungstag 3500 Isländer, also rund ein Prozent der Bevölkerung, mit dem Virus angesteckt hatten. Bis zum 30. März war, neben einem Touristen, eine Isländerin an Covid-19 gestorben. Inzwischen sind, ausweislich der weltweiten Statistik der Johns-Hopkins-Universität, vier Tote hinzugekommen. Auch hier liegt die Sterblichkeitsrate also nicht dramatisch viel höher als bei einer schweren Grippewelle.
Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, ich wüsste es besser als die Virologen des Robert Koch-Instituts. Ich habe Philosophie und Literaturgeschichte studiert, nicht Medizin. Ich will Sie nur dafür sensibilisieren, dass die aus Berlin kommenden Zahlen eine Gewissheit ausstrahlen, die keine ist.
Der einzige Weg, sich über die Tödlichkeit des Coronavirus Klarheit zu verschaffen, führt über Stichproben. In regelmäßigen Abständen wird eine repräsentative Gruppe von Menschen untersucht, ob sie sich angesteckt hat. Dann vergleicht man das Ergebnis mit den bereits vorliegenden Zahlen. Nur so lassen sich einigermaßen verlässliche Prognosen treffen.
In München ist jetzt erstmals ein solcher Feldversuch initiiert worden. Mit ersten Ergebnissen wird im Mai gerechnet, deutlich nach den Osterferien.