Monat: Juni 2025

Sagen, wie es ist

Wir werden regelmäßig über die Gefahr des antimuslimischen Rassismus belehrt. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, wenn jemand einen Migrationshintergrund hat

In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien Mitte Mai ein unerhörter Text, der bis heute erstaunliche Nachwirkungen zeitigt. Vor wenigen Tagen erst musste die Berliner Schulsenatorin bekennen, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Wäre man nicht in Berlin, würde man an der Eignung der Frau zweifeln.

Der Text schildert das Schicksal des Berliner Lehrers Oziel Inácio-Stech, eines besonders engagierten Pädagogen, wie Kollegen bezeugen. Inácio-Stech unterrichtete an der Carl-Bolle-Grundschule im Berliner Bezirk Moabit Kinder mit besonderem Förderbedarf. Die Carl-Bolle-Grundschule gilt als Brennpunktschule, 95 Prozent der Schüler haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Es war der ausdrückliche Wunsch des Lehrers, an dieser Schule zu unterrichten. Er wollte die Welt ein Stück besser machen, wie er sagt.

Nach allem, was man weiß, war Inácio-Stech bei seinen Schülern anerkannt und beliebt. Das änderte sich schlagartig, als in einer Unterrichtsstunde die Frage aufkam, mit wem er denn verheiratet sei, und er wahrheitsgemäß sagte, mit einem Mann. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Inácio-Stech wurde beschimpft und bedroht. Schüler bezeichneten ihn als Schwuchtel. Er sei eine Familienschande und eine Schande für den Islam. Wohlgemerkt, wir reden nicht von 17-Jährigen, die vor Kraft nicht laufen können, sondern von Fünftklässlern.

Der Bericht war auch deshalb unerhört, weil er mit einem Tabu brach. Eine Reportage über einen schwulen Mann, dem muslimische Kinder das Leben zur Hölle machen? Das ist normalerweise nicht das, was man auf den Seiten der „Süddeutschen“ zu lesen bekommt. Wenn Probleme mit Zuwanderern aus Ländern wie dem Libanon oder Afghanistan geschildert werden, dann in der Regel so, dass man anschließend sagt: Nicht schön, aber die haben’s ja auch nicht leicht.

Der Text enthält eine zweite Geschichte, die beinah noch düsterer ist. Diese Geschichte handelt vom Versagen der Schulleitung. Man sollte meinen, dass der bedrängte Pädagoge sofort Hilfe bekam. Mobbing gilt im Schulalltag gemeinhin als schweres Vergehen. Aber nichts da. Tatsächlich wurde Inácio-Stech alleingelassen.

Mehr noch: Die Schulleitung bezichtigte ihn, Grenzen nicht gewahrt zu haben. Die Schule werde „von überdurchschnittlich vielen Kindern aus traditionellen Elternhäusern“ besucht, erklärte der Personalrat. Er möge sein pädagogisches Konzept bitte der „sozialen Ausgangsvoraussetzung“ an der Carl-Bolle-Grundschule anpassen.

Die Schulaufsicht belehrte ihn „vorsorglich“, dass man von ihm einen „professionellen Umgang mit Schülerinnen und Schülern“ erwarte. Dazu gehöre „die Vermittlung einer offenen und nicht diskriminierenden Weltanschauung“. Das klang so, als seien die Schüler belästigt worden, als ihr Lehrer bekannte, schwul zu sein – und nicht der Lehrer durch die Schüler.

Was bringt eine Schulleitung dazu, sich gegen eine Lehrkraft zu stellen, der erkennbar Unrecht geschah? In jedem Mobbing-Seminar würde man von Täter-Opfer-Umkehr sprechen. Der Fall hat inzwischen auch politische Weiterungen. Auf Nachfrage erklärte die Schulsenatorin, von den Vorgängen nichts gewusst zu haben, gleichlautend äußerte sich ihre Behörde. Ende letzter Woche, als diese Version nicht länger haltbar war, teilte sie in einer „persönlichen Erklärung“ mit, doch informiert gewesen zu sein.

Ich musste an den Fall der Grooming-Gangs denken, der in England hohe Wellen schlägt. In einer Reihe von englischen Kleinstädten konnten pakistanische Männer minderjährigen Mädchen über Jahre ungehindert nachstellen. Die Mädchen, oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wurden mit Drogen gefügig
gemacht und zu sexuellen Handlungen gezwungen. Alle Hinweise auf den systematischen Missbrauch versickerten bei den Behörden oder wurden aus Angst, als rassistisch zu gelten, ignoriert.

Wir werden regelmäßig über die Gefahr eines antimuslimischen Rassismus belehrt. Eine eigene Meldestellen-Infrastruktur ist pausenlos damit beschäftigt, offene und verborgene Diskriminierung aufzuspüren. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, weil jemand über einen Migrationshintergrund verfügt.

Ich glaube, die meisten Menschen sind durchaus in der Lage zu differenzieren. Wenn sie vom Fehlverhalten Einzelner hören, folgt daraus nicht automatisch, dass sie alle in Mithaftung nehmen. Das ist übrigens die Definition von Rassismus: vom Verhalten einiger Missetäter auf die gesamte Gruppe zu schließen.

Aber viele Journalisten trauen ihren Lesern dieses Differenzierungsvermögen nicht zu. Deshalb werden große Anstrengungen unternommen, dem Publikum die Herkunft vorzuenthalten. Das trägt mitunter kuriose Züge. Dann ist vage von einer Hochzeitsgesellschaft die Rede, die mit einem Autokorso die A 8 blockiert habe. Was denken sich die Redakteure, die solche Meldungen absetzen? Dass die Leser nicht eins und eins zusammenzählen können? Unter Deutschstämmigen ist der Autokorso als Ausdruck der Begeisterung eher ungebräuchlich.

Die „Spiegel“-Redakteurin Anna Clauß hat im Februar ebenfalls einen unerhörten Text veröffentlicht. „Neulich überkam es mich wieder. Dieses Unbehagen Migranten gegenüber. Gefolgt von einem Schreck über das plötzlich aufgetauchte rechtskonservative Gedankengut in meinem Kopf“, so fängt der Text an.

Clauß schilderte dann, dass der muslimische Freund ihres Sohnes nicht zum Kindergeburtstag erschienen sei. Seine Eltern hätten es auch nicht für nötig befunden abzusagen. Es folgte eine Beobachtung aus der Kita, wo die Leitung Schweinefleisch vom Speiseplan genommen habe, und das Bekenntnis, konservativer zu denken, seit der Sohn mit Paschasprüchen aus der Grundschule nach Hause komme und der Mutter vorhalte, sie sei „ehrlos“.

Weil wir beim „Spiegel“ sind, endete der Text mit einem Loblied auf die Bereicherung durch fremde Kulturen. Auf der nächsten Redaktionskonferenz war trotzdem die Hölle los. Clauß wurde vorgeworfen, Vorurteile gegen Minderheiten zu befördern. Ein besonders aufgeregter Redakteur verstieg sich zu der Anklage, sie würde das Leben von migrantischen Menschen gefährden.

Ein paar Kollegen versicherten ihr später, sie sähen es wie sie, aber die Botschaft war gesetzt: Wer sich öffentlich so äußert wie Clauß, muss damit rechnen, vor versammelter Mannschaft gekielholt zu werden. Deshalb ist auch im „Spiegel“ so selten von Problemen die Rede, die sich nicht mit einem grünen Sozialprogramm aus der Welt schaffen lassen.

Ich bin sicher, dass viele Leser den inkriminierten Text ganz anders gelesen haben. Sie haben ihn als Bestätigung verstanden, dass sie mit ihrem Blick auf die Welt nicht allein stehen. Das Unbehagen, von dem Clauß schrieb, erfüllt viele Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen.

Was ist zu tun? Mein Vorschlag wäre: sagen, wie es ist. Eine Gesellschaft, die es vorzieht, unangenehme Dinge auszublenden, wahrt oberflächlich den Frieden. Aber das endet wie in jeder dysfunktionalen Familie: Irgendwann kommt das Verdrängte hoch, und dann wird es sehr schnell sehr hässlich.

Man trägt jetzt Palituch

Ist Luisa Neubauer eine Antisemitin? Nein, sie hat nichts gegen Juden im Speziellen. Sie ist einfach gerne auf jeder Party dabei. So wie die meisten, die ihre Solidarität mit Gaza erklären und dabei auch Hardcore-Israel-Hasser umarmen

Wie ernst soll jemand mit 26 Jahren genommen werden? Wie verantwortlich ist man in diesem Alter fürs eigene Handeln?

Die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, hat ein kurzes Video aufgenommen, in dem sie ihre Position zum Krieg in Gaza erklärte. Sie stellte dabei die Familien, die am 7. Oktober 2023 auf bestialische Weise ermordet wurden, auf eine Stufe mit den Opfern des Anti-Terror-Krieges in Gaza. Das Massaker an 1200 jüdischen Männern, Frauen und Kindern bezeichnete sie als „Militäroperation“. Dass die Hamas in Teilen der Linken als antikoloniale Widerstandsbewegung gilt, das wusste man. Dass dies offenbar auch für die Spitze der Grünen Jugend gilt, war neu.

Im linken Kosmos hieß es anschließend entschuldigend, Nietzard sei schließlich noch eine junge Frau, die zudem selbst vielfachen Anfeindungen ausgesetzt sei. „Unerträglich ist es, dass sie schon seit Langem als junge Frau von einem rechten Mob zur Zielscheibe gemacht wird. Sie hat unsere Solidarität!“, schrieb ihr Parteifreund Michael Bloss auf X. Möglicherweise habe ich die neueste Wendung der feministischen Theorieentwicklung verschlafen: Auf mich wirkt der Verweis auf Alter und Geschlecht ziemlich altbacken, um nicht zu sagen antifeministisch. Junge Frau plappert, bis der Arzt kommt – aber da sie eine junge Frau ist, darf man das nicht so ernst nehmen?

Ich hatte eine längere Diskussion mit einem Freund, der meint, der Krieg in Gaza sei für viele Menschen ein Kulminationspunkt. Ich bin da nicht so sicher. In den Medien sind sie alle furchtbar besorgt, das schon. Doch darüber hinaus? Die Mehrheit der Deutschen sieht das Vorgehen der israelischen Armee skeptisch. Über 60 Prozent äußern in Umfragen Kritik. Aber dass nun alle mit den Palästinensern fiebern würden, daran glaube ich nicht.

Die Bürger sind ja nicht blöd. Sie sehen die Leute, die bei uns auf der Straße Bambule machen, und denken sich ihren Teil. Zum Beispiel denken sie sich: Wenn diese Krawallbrüder und -schwestern nur einen Bruchteil der Energie in die Ausbildung ihrer Kinder stecken würden, wäre allen geholfen.

Es ist eher erstaunlich, dass nicht noch mehr Leute die Kriegsführung Israels ablehnen. Wer den Fernseher anmacht oder den „Spiegel“ aufschlägt, muss den Eindruck gewinnen, dass eine wild gewordene Soldateska alles daransetzt, Gaza von der Landkarte zu tilgen.

So gut wie nie liest man, dass die Hamas die Verluste in der Zivilbevölkerung zu maximieren versucht, indem sie sich in Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten versteckt. Es ist auch nie davon die Rede, dass viele Palästinenser Hunger leiden, weil die Hamas einen Gutteil der Hilfslieferungen abzweigt, um sie als Machtmittel einzusetzen. Es ist übrigens auch die Hamas, die eine Waffenruhe ablehnt, und es ist auch die Hamas, die angedroht hat, jeden zu erschießen, der von den Israelis Hilfsgüter annimmt.

Unter Promi-Linken ist Gaza-Solidarität das große Ding, so gesehen hat mein Freund recht. Da werden offene Briefe geschrieben, Petitionen verfasst und Schiffe gechartert. Und von Luisa Neubauer über Kurt Krömer bis Greta Thunberg sind alle dabei.

Ich habe mir die Besatzungsmitglieder der „Madleen“ angesehen, die vergangene Woche von Sizilien aus in See stach, um den Belagerungsring um Gaza zu durchbrechen. Auf vielen Fotos posierte Greta Thunberg neben einem jungen Mann mit Bart, der leicht als Thiago Ávila zu identifizieren war, ein brasilianischer Aktivist, der den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei der Trauerfeier als „geliebten Führer“ würdigte.

Deutschland wiederum war an Bord durch Yasemin Acar vertreten. Ich habe Frau Acar das erste Mal wahrgenommen, als sie Videos postete, wie sie in ihrer
Wohnung vor Freude Veitstänze aufführte, als der Iran zum Schlag gegen Israel ausholte und 200 Raketen über die Grenze schickte.

Wenn es gegen Israel geht, gibt es keine Zurückhaltung mehr. Wenige Stunden bevor die israelische Marine das Schiff stoppte und in den Hafen von Aschdod brachte, setzte Lusia Neubauer einen flammenden Appell an die Bundesregierung ab, sich für Acar einzusetzen. „Weltweit verfolgen Menschen die humanitäre Mission der Madleen auf dem Mittelmeer“, schrieb sie. „Das Team rechnet in diesen Stunden mit allem. Somit liegt es akut auch in der Verantwortung der Bundesregierung, für den Schutz der Crew bzw. Yasemin politisch einzustehen.“

Der „Bild“-Redakteur Filipp Piatov fand dazu den treffenden Kommentar: „Es gibt tatsächlich deutsche Staatsbürger in Not. Sie befinden sich seit mehr als 600 Tagen in Geiselhaft der Hamas.“ Fairerweise muss man sagen: Die Geiseln liefern auch nicht so schöne Bilder wie Thunberg und ihre Freunde. Mit einer instagram-tauglichen Segeljacht im Mittelmeer können sie leider nicht dienen.

Gaza-Betroffenheit ist ein politisches Fashion-Item – so wie der Kampf gegen den Klimawandel oder der Einsatz für mehr Transrechte. Letzte Saison haben sich alle die Regenbogenflagge umgelegt, diese Saison trägt man halt Palituch. Es geht darum, sich im Gespräch zu halten.

Ist Luisa Neubauer eine Antisemitin? Ich bin überzeugt, dass sie nichts speziell gegen Juden hat. Sie ist einfach gerne auf jeder Party dabei. Wenn es angesagt ist, seine Solidarität mit Israel zu zeigen, findet man sie bei der „Nie wieder“-Demo. Wenn Pali-Solidarität hoch im Kurs steht, drückt sie eben Hardcore-Israel-Hasser wie Yasemine Acar ans Herz. In einem anderen Leben hätte sie statt Schutz für Yasemine freies Geleit für Ulrike und Andreas gefordert – und noch früher noch etwas ganz anderes.

Ihre Solidarität hat die Halbwertszeit einer Insta-Story. Und wenn sie unglücklicherweise doch einmal auf dem falschen Fuß erwischt werden sollte, setzt sie eine Entschuldigung ab und sagt, dass sie falsch verstanden wurde.

Auch Jette Nietzard hat sich entschuldigt. Ihr habe nichts fernergelegen, als die Hamas hochleben zu lassen. Hat die Entschuldigung sie dazu verleitet innezuhalten, bevor sie den nächsten Post absetzte? Natürlich nicht. Sie hat einfach ihr Gaza-Soli-Video gleich noch einmal hochgeladen, dieses Mal ohne den Verweis auf die „Militäroperation“ am 7. Oktober. An ihrem Engagement für die palästinensische Sache soll schließlich kein Zweifel aufkommen.

Das Foto der Woche ist für mich das Bild von Greta Thunberg, wie sie bei Ankunft in Aschdod ein abgepacktes Brot und eine Wasserflasche erhält, um sie von den Strapazen der Seereise zu erlösen. Das ist das Bild, das am Ende einer langen Bildergalerie steht: das Foto eines israelischen Soldaten, der ihr freundlich ein Sandwich reicht.

Von den 50 Kilogramm Mehl, die die Freedom Flotilla schnell noch im Supermarkt besorgt hatte, um den Belagerten von Gaza ein symbolisches Geschenk überbringen zu können, hat man hingegen nichts mehr gehört.

Wobei, Selbstkorrektur, das ist nicht ganz richtig. „Israel stoppt Schiff mit Hilfsgütern für Gaza“, lautete die Überschrift der Meldung in der„Tagesschau“. Wenn es um Gaza geht, erneuert sich für die „Tagesschau“ sogar das Pfingstwunder: Dann reichen auch 50 Tüten Mehl zur Speisung der 5000.

© Silke Werzinger

Drei Tage in Wien

Das linke Milieu liebt die radikale Geste. Anstößig sein, wild und unangepasst, das ist das Banner, unter dem man sich zusammenfindet. Aber wenn es mal wirklich radikal wird, rennt man schreiend davon

Ich war drei Tage in Wien, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Der Regisseur Milo Rau hatte mich eingeladen, im Rahmen der Wiener Festwochen an einem seiner „Wiener Kongresse“ teilzunehmen. Der Kongress bestand aus einer Art Gerichtsverfahren, bei dem mehrere Fälle sogenannter Cancel-Culture zur Verhandlung kamen. Meine Rolle war es, als Mitglied einer vierköpfigen Jury die geladenen Zeugen zu vernehmen – eine Aufgabe, wie geschaffen für mich.

Schon der Auftakt endete im Eklat. Zunächst zerdepperte die Schauspielerin Mateja Meded in einem Eingangsstatement das Patriarchat, die katholische Kirche und den Kapitalismus gleich mit. Das fanden alle super. Diese Form der Radikalität ist in der linken Kulturwelt eingeübte Praxis.

Dann betrat der Autor und „Welt“-Herausgeber Ulf Poschardt die Bühne und setzte zu einer Verteidigung Israels und des israelischen Militärs an (Kernsatz: „Benjamin Netanjahu ist mir näher als Milo Rau“). Das fanden alle nicht mehr so super.

„Genozidales Schwein“, schrie eine Frau im Parkett. Andere pfiffen laut und buhten, bevor sie unter Protest den Saal verließen. Ich fand’s klasse. Ich hatte mich auf einen eher anstrengenden Abend eingestellt, und nun war gleich Leben in der Bude. Aber so konnte man das bei der Festivalleitung nicht sehen. Dort ließ man bedröppelt die Köpfe hängen, wie ich von meinem Platz auf der Bühne erkennen konnte.

Das ist das Lustige an der Theaterwelt: Man liebt die radikale Geste. Anstößig sein, wild und unangepasst, das ist das Banner, unter dem man sich zusammenfindet. Aber wenn es wirklich mal radikal wird, rennt man schreiend davon.

Wann ist die Linke so auf den Hund gekommen? Früher hätte man zur Widerrede angesetzt. Oder die Bühne gestürmt, um selbst wilde Parolen zu schmettern. Heute verzieht man sich durch den Nebeneingang, wenn’s brenzlig wird. Da ist jedes bürgerliche Premierenpublikum in Hamburg oder München härter im Nehmen. Dem kann man Bäche von Blut und Sperma vor die Füße kippen, und es verzieht nicht einmal die Mundwinkel.

Cancel-Culture ist in Wahrheit der verzweifelte Versuch, das Wenige zu retten, was noch zu retten ist. Wer nicht mehr auf die Kraft des eigenen Wortes vertrauen kann, greift zu Verboten und Ausschlüssen, um sich oben zu halten. Dann wird nicht diskutiert, sondern befohlen, was als richtig und was als falsch zu gelten hat.

Am Samstag stand der Fall Ulrike Guérot auf der Tagesordnung. Die ehemalige Professorin der Universität Bonn hat sich einen Namen als rabiate Verteidigerin der russischen Aggressionspolitik gemacht. Vorher war sie als Kritikerin der Corona-Politik aufgefallen.

Nach einem Fernsehauftritt kündigte ihr die Universität, allerdings nicht wegen des Auftritts, dazu war man zu feige. Stattdessen wurden Plagiatsvorwürfe ins Feld geführt. Sie habe abgeschrieben und damit die Uni getäuscht, machte die Hochschulleitung geltend.

Der Absturz macht etwas mit den Menschen. Cancel-Culture ist ja mehr als nur der Verlust von Auftrittsmöglichkeiten. Oft geht damit ein Reputationsschaden oder, wie im Fall Guérot, sogar der Verlust des Arbeitsplatzes einher. In jedem Fall markiert der Angriff einen tiefen Einschnitt, von dem sich manche nicht mehr erholen.

Frau Guérot macht es einem nicht leicht. Bevor sie mit ihrer Zeugenaussage dran war, stürmte sie auf mich zu, um mich mit ihren Thesen in Beschlag zu nehmen. Ich zog mich mit der Ausrede aus der Affäre, dass es den Mitgliedern der Jury verboten sei, vor der Verhandlung mit den Zeugen zu sprechen.

Sie ist jetzt die Ikone einer Bewegung, die davon überzeugt ist, dass die Regierung die Menschen hinters Licht führt und jeden mundtot macht, der die Wahrheit sagt. Wichtige Gespräche führt sie im Wald, damit sie nicht abgehört werden kann. So scheint die weitere Entwicklung im Nachhinein allen recht zu geben, die sie loswerden wollten. Aber das ist post ante gedacht. Wer weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn die Uni ihr nicht gekündigt hätte. Eine Festanstellung ist immer auch ein Halteseil in die normale Welt. Wenn man es kappt, führen die Gravitationskräfte Menschen an den Rand.

Im Zuge der Zeugenvernehmungen trat auch der Anführer des Studentenparlaments auf, der mit seiner Resolution das Kündigungsverfahren in Gang gesetzt hatte. Auf meine Nachfrage, was sich Frau Guérot denn aus
seiner Sicht habe zu Schulden kommen lassen, antwortete er, sie habe mit ihren Auftritten den Boden der Wissenschaft verlassen. Ein Studentenparlament, das darüber befindet, ob eine Politikwissenschaftlerin sich mit öffentlichen Äußerungen im Rahmen ihrer Expertise bewegt: Früher hätte man das als Anmaßung verlacht – heute ist das Uni-Alltag.

Es ist die Feigheit der Institutionen, die der Cancel-Culture die Türen öffnet. Irgendwo taucht eine Anschuldigung auf, bei Guérot war es ein Artikel in der „FAZ“, sie habe sich zu freizügig bei Zitaten bedient. Dann machen irgendwelche Studenten mobil. Am Ende heißt es, die Professorin sei untragbar. Ob jemand von der Universitätsleitung vor der Kündigung mal das Gespräch mit ihr gesucht habe, lautete eine Frage an sie. Nicht einmal, antwortete Guérot. Das ist die Spitze der Feigheit.

Handelt es sich um einen Einzelfall? Eher nicht. Zu den eindrucksvollsten Stellungnahmen des dreitägigen Kongresses in Wien gehörte die von Heike Egner, einer Professorin für Humangeografie. Egner hat systematisch Fälle von Professoren zusammengetragen, die entlassen oder degradiert wurden. „Wer stört, muss weg!“ lautet der Titel des Buchs, in dem sie ihre Erkenntnisse versammelt hat.

Ich ging bislang davon aus, dass Professoren besonders geschützt seien. Aber dem scheint nicht so zu sein. Neben angeblichem Fehlverhalten gegenüber Studenten sind es vor allem ideologische Unbotmäßigkeiten, die zum Ausschluss führen. Dass ein Professor heute aufgrund einer Meinungsäußerung mit dem Verlust seines Amtes sanktioniert werden könne, sei eine wirklich besorgniserregende Entwicklung, stellte Egner nüchtern fest. Und sie wies darauf hin, dass es Professoren rechts wie links gleichermaßen treffen kann.

Auch das wird oft übersehen: Cancel-Culture mag in der modernen Form des Ausschlusses eine Erfindung der Linken sein. Aber die andere Seite erweist sich als durchaus lernfähig.

Hinter allem steht als treibende Kraft die Angst. Die Angst, anzuecken oder in dem Milieu, in dem man sich bewegt, scheel angesehen zu werden. Deshalb sah sich auch der Regisseur Milo Rau veranlasst, Poschardt mit 14 Stunden Verspätung in die Schranken zu weisen.

Bevor es am Samstag endlich mit der Verhandlung losgehen konnte, verlas er ein außerplanmäßiges Statement, in dem er das Publikum um Entschuldigung bat. „Gestern hat einer unserer Redner Dinge gesagt, für die wir uns bei Ihnen entschuldigen wollen. Wir haben diesen Menschen nicht unterbrochen oder des Saales verwiesen, weil er in jenem Moment offensichtlich verwirrt war.“

Das ist vielleicht das Traurigste an der Cancel-Culture: Sie macht auch Leute, von denen man ein wenig Größe erwarten sollte, ganz klein.

© Michael Szyszka