Der Zwergenkanzler

Er wäre so gerne ein Großer. Manchmal steht Olaf Scholz vor dem Spiegel und übt heimlich Helmut-Schmidt-Gesten. Aber er ist nicht mal ein Schmidtchen, wie die vergangenen Tage gezeigt haben

Der unglücklichste Kanzler war Ludwig Erhard. Als er das Amt übernahm, hielt er sich für den richtigen Mann am richtigen Platz. Der Aufstieg Deutschlands vom niedergebombten Ruinenstaat zum bewunderten Wirtschaftsriesen verband sich mit seinem Namen. „Vater des Wirtschaftswunders“ nannten sie ihn.

Aber kaum im Kanzleramt eingezogen, wendete sich das Schicksal. Erhard war zu freundlich und zu konziliant für das Amt. Die Menschen machten Witze über ihn und den Bonner Kanzlerbungalow, das „Palais Schaumbad“ mit dem Mini-Schwimmbecken in der Mitte. Wofür, fragten die Zeitgenossen, braucht ein Nichtschwimmer einen Pool? Dazu kam der Spott des Erst- und Altkanzlers Konrad Adenauer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Nachfolger mit fiesen Kommentaren zu piesacken.

An zweiter Stelle der gescheiterten Kanzler steht Kurt Georg Kiesinger. Ein feinsinniger Mann, der nachts, wenn ihn die Schlafstörung heimsuchte, gerne im Badezimmer Gedichte las. Aber auch er war ein Mann des Übergangs. Kiesinger gilt heute als eher mediokre Gestalt. Am ehesten ist noch die Ohrfeige in Erinnerung, die ihm die Journalistin Beate Klarsfeld aus Empörung über seine NSDAP-Mitgliedschaft verpasste.

Wo steht Olaf Scholz, wo sieht er sich selbst? Dass es für die erste Reihe nicht reicht, dämmert ihm möglicherweise selbst, auch wenn er sich grundsätzlich für den Klügsten und Weitsichtigsten im Raum hält. Adenauer, Brandt, Kohl – das sind Namen aus einer anderen Liga. Wer es mit ihm sehr gut meint, wird ihm einen Platz im Mittelfeld zuweisen, neben Angela Merkel und Gerhard Schröder.

Die Historiker dürften weitaus ungnädiger urteilen. Wenn Scholz nicht noch auf den allerletzten Meter ein Husarenstück gelingt, wird er als glücklosester Kanzler aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Ein Zwergenkanzler, der vor der Wirklichkeit die Augen verschloss und die Dinge treiben ließ – und dann Führung beweisen wollte, als es zu spät war.

Mich verbindet mit der SPD eine lange, sentimentale Geschichte. Ich hielt sie immer für eine im Kern anständige Partei, glücklos mitunter, sicher, in ihren Ansprüchen nicht selten vermessen, ja hochtrabend, aber am Ende, wenn es darauf ankam, doch verlässlich.

Auch davon muss ich mich trennen. Der Kanzler erweist sich als rachsüchtiger Kleingeist, der ein Temperament erst entdeckt, wenn es um ihn selbst geht. Alles hat er an sich abperlen lassen: die Nöte des deutschen Mittelstands; die desaströsen Lageberichte des deutschen Heeres; die zunehmend verzweifelten Hilferufe der Ukraine, deren Jugend im Kampf für die Freiheit Europas verblutet.

Aber als ihm sein Finanzminister die Gefolgschaft aufkündigte, kannte er plötzlich kein Halten mehr. Ein „schlechter Mensch“ sei dieser Lindner, unseriös, egoistisch, skrupellos, ein Politiker, mit dem man nicht einen Tag länger zusammenarbeiten könne. So steigerte er sich in eine Suada der Erregung.

Leider sind die anderen Leute, die in der SPD den Ton angeben, nicht besser. Lars Klingbeil: ein Parteisoldat, der den Parteiegoismus unter seinem jungenhaften Charme verbirgt. Die unvermeidliche Saskia Esken, die noch dann die Lauterkeit der Sozialdemokratie beschwören würde, wenn sie morgen Nord Stream 2 wiedereröffneten. Und natürlich Rolf Mützenich, der Fraktionschef im Hintergrund, ohne den Scholz schon lange nicht mehr Kanzler wäre.

Wer mit falschen Heiligen vertraut ist, kennt den Typus. Wenn Mützenich vor die Presse tritt, dann mit dem gequälten Gesichtsausdruck des am Unrecht der Welt Verzweifelnden. Jede Entscheidung trägt er im sorgenvollen Tonfall eines Mannes vor, der sich wahrlich nichts leicht gemacht hat, auch wenn’s nur um den schnöden Machterhalt geht.

Bei Sonnenschein und mäßigem Wind lässt sich leicht regieren. Dazu braucht es nicht viel Könnerschaft. Der wahre Charakter zeigt sich im Sturm. So gesehen war der Überfall auf die Ukraine ein Glücksfall. Und zunächst sah es so aus, als wolle Scholz die Gelegenheit beim Schopf greifen und endlich Führungskraft zeigen. Die „Zeitenwende“, die er ausrief, sollte auch eine Wende in eigener Sache sein. Aber leider folgte dem nichts.

Die Bilanz nach drei Jahren fällt entsprechend düster aus. Die Sozialpolitik? Auf Pump finanziert, und in Teilen deshalb schon wieder notabgewickelt. Die Außenpolitik? Ein Trümmerfeld. In nur drei Jahren gelang es, nicht nur das Verhältnis zu Frankreich zu ruinieren, sondern das zu Polen gleich mit. Die Wirtschaftspolitik? Ein einziges Trauerspiel.

Im ARD-Presseclub erinnerte der „Wirtschaftswoche”-Chefredakteur Horst von Buttlar daran, dass derselbe Kanzler, der die Wirtschaft im Sommer dafür verspottete, dass sie ihm ihre Klagen vortrug, dem Land noch vor einem Jahr ein grünes Wirtschaftswunder in Aussicht gestellt hatte, mit Wachstumsraten von drei Prozent. Nun sind wir schon froh, wenn wir nicht Jahr um Jahr ärmer werden.

Scholz wäre so gerne ein Großer. Sein heimliches Vorbild ist Helmut Schmidt, der Mann mit der Lotsenmütze, Inbegriff des hanseatischen Krisenmanagers. Manchmal steht er vor dem Spiegel und übt heimlich Schmidt-Gesten.

Auch der Bruch der Koalition wurde als Wiederholung inszeniert. Bis in die Wortwahl glich die Begründung der Rede, mit der der berühmte Lotse 1982 das Ende seiner Regierung verkündete. Auch damals war vom hinterhältigen Anschlag der FDP die Rede. Der Unterschied ist: In Olaf Scholz sieht niemand einen Helmut Schmidt. Er ist nicht mal ein Schmidtchen.

So gleicht das Stück, dass die SPD aufführt, nicht der Tragödie, die sie so gerne auf dem Spielplan sehen würden, sondern bis in die Nebenrollen nur einer unfreiwilligen Komödie. Wer immer auf die Idee gekommen ist, dem FDP-Mann Wissing zusätzlich zum Verkehrsministerium auch noch das Justizministerium anzutragen, hat einen Sinn für abgründigen Humor. Jetzt darf der arme Mann bis Februar so tun, als sei er ein zweiter Karl Schiller, ein Superminister, auf dessen Wort ganz Deutschland hört. Das Lachen darüber hört man bis nach München.

Zwergenkanzler verzwergen auch das Land, dem sie vorstehen. Am Wochenende hieß es, es mangele an ausreichend Papier, deswegen könnten die Deutschen nicht schon im Januar oder Februar wählen. Das ist der Grund, den die Bundeswahlleiterin Ruth Brand nannte, um vor zu frühen Neuwahlen zu warnen.

Erst war es die Instabilität, die man Deutschland in so schwerer Zeit nicht zumuten könne, weshalb es besser sei, bis März eine Minderheitsregierung im Amt zu belassen. Dann war es die Erinnerung an die Nazis, derentwegen sich eine schnelle Vertrauensfrage des Kanzlers verbiete.

Kein Scherz, so sagte es der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese im Bundestag: Schon die Nationalsozialisten hätten die Republik in die Regierungsunfähigkeit zu manövrieren versucht, indem sie Zweifel an den Institutionen des Staates schürten. Dann, Ultima Ratio, die Papierknappheit.

Anderseits: Das passt zu einem Land, in dem führende Regierungsvertreter die Bürger vor dem Betreten von Brücken warnen, weil man deren Tragfähigkeit nicht länger gewährleisten könne, und jede Bahnfahrt zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang wird. Man fragt sich gelegentlich, wie es uns jemals gelingen konnte, die besten Flugzeuge und Autos der Welt zu bauen. Aber diese Errungenschaft stammt ja auch aus einer Zeit, als man sich noch nicht vor einem Wahltermin fürchtete.

Viel ist von dem Bild die Rede, das Deutschland im Ausland abgibt. Bei jedem Prozentpunkt mehr für die AfD wird warnend der Zeigefinger gehoben, welche abschreckende Wirkung der Erfolg der Rechten auf die Fachkräfte habe, die wir dringend bräuchten.

Ich gelange immer mehr zur Überzeugung, dass der größte Abschreckungseffekt von der Dysfunktionalität Deutschlands ausgeht. Wie attraktiv ist ein Land, in dem sich die Bahn im Postkutschentempo bewegt, das Internet auf dem Niveau von Burkina Faso liegt und man sich schon von einem außerplanmäßigen Wahlgang überfordert zeigt? Dann geht man doch lieber dahin, wo wenigstens die Steuern und Abgaben entsprechend niedrig sind.

Auch das spricht ganz klar gegen Deutschland: Nix hinbekommen – aber dafür die Bürger so zur Kasse bitten wie kein anderes Land in Europa.

© Sören Kunz

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