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Wenn Rechte weinen

Schwingen sie vielleicht bei der AfD auch deshalb so wilde Reden, damit nicht auffällt, wie soft sie in Wahrheit sind? Nix mit soldatischen Tugenden: Wenn es um Russland oder die Hamas geht, setzt man ganz auf Ökumene und das gute Gespräch

Ich muss mich bei Tino Chrupalla entschuldigen, dem Chef der AfD. Ich habe ihn wegen seiner Physiognomie als SA-Gesicht verspottet. Ich habe mich dazu verleiten lassen, vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Das war voreilig und falsch. Man soll Menschen an ihren Worten und Taten messen und nicht am Aussehen.

Tino Chrupalla hat mit einem Faschisten so viel zu tun wie der Duce mit einem Haschbruder. Wenn es eine Person gibt, an der sich der AfD-Vorsitzende außenpolitisch orientiert, dann ist es Margot Käßmann, die Frau, die Beten mit den Taliban empfahl. Das ist sein Vorbild, nicht der Führer.

Vor drei Wochen wurde der AfD-Vorsitzende gefragt, wie er zu Waffenlieferungen an Israel stehe. Die AfD sei strikt gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete, lautete seine Antwort. Man müsse stattdessen ins Gespräch kommen. Diplomatische Beziehungen suchen, damit der Nahe Osten endlich zur Ruhe komme, das war seine Empfehlung.

Auf die Nachfrage, wie er sich diplomatische Beziehungen zu einer Terrororganisation wie der Hamas vorstelle, antwortete Chrupalla ganz im Sinne des Käßmann’schen Evangeliums, wonach man auch dem Islamisten mit ausgestreckter Hand und offenem Herzen begegnen sollte. Man dürfe nicht vergessen, dass auch 40000 Zivilisten in Gaza gestorben seien, sagte er: „Für mich ist Mensch Mensch, das sage ich ganz ehrlich.“ Schöner hätte es die ehemalige Ratsvorsitzende nicht ausdrücken können.

Nicht einmal Rechte reden, wenn’s um Krieg und Frieden geht, noch wie Rechte. Früher hätte die Lösung auf der Hand gelegen. Da hätte man die Mordbuben so lange unter Feuer genommen, bis sie nicht mehr in der Lage gewesen wären, größeres Unheil anzurichten. Das ist ziemlich genau der israelische Ansatz, aber die Juden haben ja auch nicht das Neue Testament. AfD-Politiker wie Chrupalla hingegen setzen ganz auf Ökumene. Niemals Waffen in Spannungsgebiete, da Waffen die Sache nur schlimmer machen, wie jeder weiß, der Chamberlain für eine Sektmarke hält und D-Day für eine Netflix-Serie.

Leider war in dem Interview, in dem Chrupalla seine Friedenspläne vorstellte, nicht mehr Zeit für eine Nachfrage, wie genau er sich das Zusammenleben mit Leuten vorstellt, die Babys erwürgen und Partys auf Kindersärgen veranstalten. Mir fehlt die Fantasie, wie man mit solchen Menschen friedlich Tür an Tür leben soll. Dass ausgerechnet eine Partei gute Nachbarschaft mit der Hamas empfiehlt, die sonst bei jedem Muslim den Krummdolch im Gewand wittert, gehört zu den Mysterien des politischen Lebens.

Aber so ist das in der AfD-Welt. Sobald der Muslim vor der Haustür aufkreuzt, werden alle hysterisch. Wenn es um internationale Konflikte geht, herrscht hingegen jesusartiges Vergeben und Vergessen. Da schaut man sich tief in die Augen, auf dass aller Hass erlösche. Diplomatische Lösung statt Säbelrasseln, heißt der Zaubersatz. Das ist bekanntlich auch der Ansatz im Umgang mit dem Weltbösewicht Russland.

Ich gebe zu, es ist ein wenig verwirrend. Es waren doch immer die Linken, die auf Parteitagen die Kraft der Sonnenblume beschworen und Friedenslieder anstimmten, wonach das weiche Wasser den Stein bricht. Und nun reden sie bei den Grünen der Aufrüstung das Wort und in der AfD bekommen sie schon weiche Knie, wenn der Russe nur einmal „Atombombe“ sagt.

Rückbesinnung auf die Männlichkeit? Wiederkehr soldatischer Tugenden? Härte gegen sich selbst? Alles Käse. Einen seiner bekanntesten Auftritte verdankt der AfD-Abgeordnete Maximilian Krah dem Loblied auf mehr maskuline Energie. Nur rechte Männer seien echte Männer, wer das beherzige, bei dem klappe es auch wieder mit den Frauen. Ich fürchte, in Wahrheit ist das Einzige, was bei diesen Leuten aufrecht steht, der Hals der Weinflasche, den sie auf dem Weg zum Sofa umklammern.

Wenn der Historiker Herfried Münkler mit seinem Befund recht hat, dass wir in einer postheroischen Gesellschaft leben, dann ist die AfD der beste Beweis. Von der Linkspartei erwarte ich nichts anderes, die waren schon immer auf dem Anti-Bundeswehr-Trip. Das macht sie ja auch zur idealen Partei für Leute, die über „Work-Life-Balance“ reden können, ohne dabei zu lachen, und Sabbatical für den Normalzustand zwischen zwei Praktika halten. Aber rechts der Mitte?

Ich gebe zu, mich haben schon beim Anblick der Krah-Videos Zweifel beschlichen. Wenn jemand so gar nicht nach Pick-up-Artist aussieht, dann Maximilian Krah. Ich würde sagen: eher Abteilung Thekenschwafler, der immer bis zum Schluss bleibt, weil er sich so gerne reden hört.

Krah ist vermutlich auch der Typ, der beim Sex die Socken anlässt. Immerhin, er hat acht Kinder gezeugt, mag jetzt der eine oder andere einwenden. Aber das ist kein echtes Gegenargument. Wie man weiß, bekommen das selbst die Amish hin. Und die machen vorher das Licht aus und lassen nicht nur die Socken an.

Mir kommt das alles seltsam bekannt vor. Ich gehöre zu einer Generation, die noch einer sogenannten Gewissensprüfung unterzogen wurde, wenn sie den Wehrdienst verweigern wollte. Zum angesetzten Termin musste ich mich im Kreiswehrersatzamt in Hamburg-Uhlenhorst einfinden, wo mich drei Bundeswehroffiziere befragten, was ich denn zu tun gedächte, wenn der Russe gegen ein Krankenhaus anrücken würde, in dem ich mich mit Kindern und Frauen befände. Würde ich dann die Waffe aufnehmen – oder die Hilfsbedürftigen ihrem Schicksal überlassen?

Ich habe mich auf eine Art Befehlsnotstand herauszureden versucht. Was auch immer ich täte, meine Seele würde schaden nehmen, erklärte ich, worauf mir einer der beiden Offiziere entgegenschleuderte, ob ich damit sagen wollte, dass jeder Soldat ein seelischer Krüppel sei? Dass ich heute Tino Chrupalla in dem 18-jährigen Wehrdienstverweigerer von damals wiederbegegnen würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

In dem Krankenhaus-Beispiel ist gleichwohl eine Kalamität des Pazifismus beschrieben: Auch wer nicht zur Waffe greift, macht sich schuldig, in dem Fall am Tod von Frauen und Kindern, die er mit Waffengewalt hätte schützen können. Leider gibt es Menschen, die sich durch das demonstrative Zeichen von Schwäche nicht besänftigen lassen, sondern im Gegenteil ermuntert fühlen. Wenn man denen den Hals hinhält, beißen sie erst recht zu. Deshalb sind die Nazis auch nicht durch Zureden in die Knie gezwungen worden, sondern durch Waffengewalt.

Vielleicht sind die AfD-Pazifisten am Ende nur devote Charaktere, die einen Kerl wollen, der sie mal richtig rannimmt. Das wäre die individualpsychologische Deutung. Als ich mich neulich über die neue Russland-Liebe des amerikanischen Präsidenten lustig machte, bekam ich einen Tweet des stellvertretenden Vorsitzenden der NRW-AfD Sven Tritschler in meine Timeline gespült: „Ach Gott, Fleischhauer. Irgendwann ist ein Bild von Dir im Lexikon neben dem Begriff ‚Cuck‘“, schrieb er.

Ich musste das Wort „Cuck“ erst einmal googeln. Es erfreut sich in der rechten Szene außerordentlicher Beliebtheit, wie ich bei der Gelegenheit gelernt habe, und meint einen verweichlichten Mann, der liberalen Ideen anhängt. Na ja, kann ich nur sagen.

Möglicherweise schwingen sie ja deshalb bei der AfD ständig so wilde Reden, damit nicht auffällt, wie soft sie in Wahrheit sind. Die Vorliebe für Tracht und Jagd, die Begeisterung für Leni Riefenstahl, Runenschrift und schwarzes Leder: alles Gemache, alles Show. Ich sehe das Profilbild von Sven Tritschler, und ich sehe die Ledermaus, die auch noch auf der Bondage-Party ungeküsst bleibt, weil niemand Interesse hat, ihr den Hosenboden zu versohlen.

Insofern hat Margot Käßmann vielleicht doch recht: Ein bisschen mehr Liebe, und vieles würde sich von selbst erledigen.

© Michael Szyszka

Horrido zur Nazijagd

Woran erkennt man einen Nazi? An seinem Tesla. An Dackel und Polohemd (sagt die „SZ“). Und an seinem Wunsch nach sicheren Grenzen. „Keine Zusammenarbeit mit Nazis. Seit 1863“, lautet die Antwort der SPD auf Friedrich Merz

Ich kenne zwei Kollegen, die Tesla fahren. Ich werde ihre Namen nicht nennen. Man soll andere nicht ohne Not bloßstellen. Aber nachdem sie mit ihrem Kauf schon die Kampagne zur Wiederwahl von Donald Trump unterstützt haben, stellt sich nun die Frage, ob das Fahren eines Teslas nicht dem Zeigen eines verfassungsfeindlichen Symbols entspricht.

Eine Woche wogte der Streit, ob Tesla-Chef Elon Musk bei der Amtseinführung von Donald Trump einen Hitlergruß zeigte. Für Musks Unschuld sprachen: die Anti-Defamation League, der Historiker Niall Ferguson sowie diverse Kenner des Dritten Reichs.

Aber spätestens, nachdem der „Spiegel“ die „studierte Politologin“ Kira Ayyadi von der Amadeu-Antonio-Stiftung als Gruß-Koryphäe aufbot („Das war definitiv ein Hitlergruß“), darf die Sache in Deutschland als entschieden gelten: Wer in ein S-Modell steigt, kann auch gleich mit einem Hakenkreuz spazieren fahren.

Es reicht weniger als ein Tesla, um als Nazi identifiziert zu werden. Dackel, Polohemd und Sneaker sind ebenfalls verlässliche Anzeichen für eine braune Gesinnung. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das stand neulich in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ über „moderne Fascho-Fashion“.

Wenn alle Stricke reißen: Der Kampf gegen den Nationalismus geht immer. Auch retrograd, also rückwärts in der Geschichte. „Keine Zusammenarbeit mit Nazis. Seit 1863“, hat der SPD-Parteivorstand als Antwort auf die Migrationspläne von Friedrich Merz gepostet.

Vor 162 Jahren war Adolf Hitler noch nicht einmal geboren. Außerdem haben eine ganze Reihe ehemaliger Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus erfolgreich in der SPD Karriere gemacht, die können schon mal nicht gemeint sein. Aber egal, mit einem fröhlichen Horrido zur Nazijagd liegt man nie falsch.

Mal sehen, ob es auch als Argument für die Bundestagswahl reicht. Ich habe da meine Zweifel. In der grünen Blase kommt das wunderbar an, klar. Da ist der Kampf gegen Rechts das, was man ein Feelgood-Thema nennt. Deshalb sah man am Wochenende auch nur gut gelaunte Gesichter bei der großen Antifa-Demo am Brandenburger Tor.

Viele fanden es unangemessen, dass die grüne Parteispitze bei der ersten Kundgebung nach dem Kindermord von Aschaffenburg die Gelegenheit für fröhliche Selfies nutzte. Aber das verkennt die Funktion solcher Aufmärsche. Niemand, der dort aufläuft, glaubt daran, dass sich eine nennenswerte Zahl von Nazis von dem Motto „Magie ist stärker als Hass“ beeindrucken lässt. Solche Events dienen der Selbstvergewisserung. Endlich mal wieder das Gefühl haben, auf der richtigen Seite zu stehen – darum geht’s.

Die Grünen waren zuletzt arg geplagt von den sozialpolitischen Eskapaden ihres Kandidaten, dazu kommt die leidige Gelbhaar-Geschichte. Auch bei den Sozialdemokraten herrschte wahlkampfmäßig eher tote Hose. Der Antifaeinsatz wirkt in einer solchen Situation wie politisches Viagra. Aber darüber hinaus? Ich glaube, viele Wähler sehen das Treiben mit Befremden. Die meisten denken sich: Sicher, man kann nicht wachsam genug sein. Aber dass jetzt ausgerechnet Friedrich Merz die Tür zu einem neuen tausendjährigen Reich aufstößt, wie der SPD-Fraktionsvorsitzende behauptet: Das erscheint dann doch etwas weit hergeholt, da haben wir gerade drängendere Probleme.

Ich bin auch dagegen, dass die CDU sich mit der AfD einlässt. Aber darum geht es bei der sogenannten Brandmauer nur noch am Rande. In Wahrheit ist sie so etwas wie ein Dauerticket auf Regierungsbeteiligung ohne parlamentarische Mehrheit.

Egal, was sie sich im Adenauer-Haus einfallen lassen: Erst muss die CDU im Bundesvorstand der Grünen und im Willy-Brandt-Haus nachfragen, ob sie es dort ähnlich sehen. Nur wenn es dort ein Okay gibt, kann’s weitergehen. Das ist die genialste politische Erfindung seit Entdeckung der Wahlurne.

Der grüne Kandidat hat die Funktionsweise der Brandmauer sehr schön auf den Punkt gebracht, als er gefragt wurde, ob Parteien ihre Anträge stoppen sollten, wenn die Falschen zustimmen könnten. „So ist es“, sagte er in dankenswerter Klarheit. Kein Wunder, dass sie bei den Grünen trotz aller Rückschläge so gute Laune haben.

Ich kenne das Argument. Es heißt „Beifall von der falschen Seite“. Wenn ich den Eindruck habe, dass sich unter meinen Beiträgen zu viele Menschen sammeln, die von allen guten Geistern verlassen sind, steuere ich gegen. Oft reicht ein Post, indem man Annalena Baerbock lobt, und diese Follower zerstreuen sich in alle Winde.

Aber ich würde nie meine Positionen danach ausrichten, ob mir die falschen Leute zustimmen. Wenn man damit anfängt, kommt man in Teufels Küche. Das ist wie Opportunismus andersherum: Zu behaupten, dass eins und eins nicht zwei sind, weil das angeblich den falschen Leuten nutzt, führt direkt ins Verderben.

Wenn man die Position von Grünen und SPD zusammenfassen sollte, lautet die: Alles nicht schön, aber uns sind die Hände gebunden. Die SPD hat zwei Seiten veröffentlicht, weshalb alle Vorschläge der CDU, die Situation an der Grenze unter Kontrolle zu bekommen, nicht gehen.

Auch in den Talkshows wird eine Phalanx von Experten aufgeboten, die vor allem sagen können, was alles nicht möglich ist: also keine Zurückweisung an den Grenzen, keine Inhaftierung von ausreisepflichtigen Asylbewerbern, keine Aussetzung des Familiennachzugs.

Mich erinnert das an das Jahr 2015, als Angela Merkel sich zu Anne Will in die Talkshow setzte und unter dem schafsköpfigen Nicken der Moderatorin erklärte, dass man die deutsche Grenze leider nicht schützen könne. Das war damals so falsch wie heute. Es ist diese Schicksalsergebenheit, die Menschen an der Politik verzweifeln lässt.

Es muss alles so bleiben, wie es ist? Nein, sagt eine deutliche Mehrheit der Wähler, das wollen wir so nicht akzeptieren. Und sie haben aus meiner Sicht absolut recht. Genau das ist doch die Aufgabe von Politik: Auf Unsinniges oder Gefährliches zu reagieren, indem man es ändert.

Auch Europarecht ist nicht in Stein gemeißelt. Nennen Sie mich meinetwegen einen heillosen Chauvinisten, aber wenn der größte Nettozahler der EU damit droht, wegen Überforderung seine Zahlungen zu stunden, werden sich die Nachbarn überlegen, was ihnen wichtiger ist: deutsches Geld oder das Beharren auf offenkundig widersinnigen Regelungen.

Zumal unsere Nachbarn es mit den europäischen Verträgen ja auch nicht so genau nehmen. Würden sie es genau nehmen, würden bei uns nicht Tausende anklopfen, die über Italien oder Bulgarien oder einen anderen Dublin-Staat eingereist sind.

Es gibt jetzt sogar eine antifaschistische Wirtschaftspolitik. Der Begriff stammt von der in rot-grünen Kreisen hochgeschätzten Ökonomin Isabella Weber. Um Menschen davon abzuhalten, sich in die Arme rechtsextremer Parteien zu begeben, sollten die anderen Parteien in Deutschland umgehend die Schuldenbremse aufheben, empfiehlt sie. Die Schuldenbremse sei eine Gefahr für die Demokratie, da sie Verteilungskämpfe befördere.

Zur Verteidigung von Frau Weber muss man vielleicht hinzufügen, dass sie mit den politischen Verhältnissen in Deutschland etwa so vertraut ist wie Elon Musk. Sie sitzt zwar nicht in Texas, sondern im beschaulichen Amherst, einem der wokesten Colleges der USA. Aber auch von dort hat man einen eher eingeschränkten Blick auf den Rest der Welt.

Mit dem Wirtschaftsprogramm der AfD scheint sich die Professorin jedenfalls nicht näher beschäftigt zu haben. In Wahrheit ist es noch neoliberaler als das der FDP. Weshalb ausgerechnet eine Ausweitung des Sozialstaats die Anhänger der AfD von ihrer Wahlentscheidung abbringen soll, bleibt das Geheimnis von Frau Weber. Aber wenn es gegen rechts geht, ist alles egal, auch die Logik.

Annähernd 70 Prozent der Deutschen denken in der Migrationspolitik so ähnlich wie Friedrich Merz. Angeblich finden seine Vorschläge sogar unter sozialdemokratischen Anhängern eine Mehrheit. Für mich klingt das nach einem ziemlich starken Argument.

Man kann gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen die ganze Zeit regieren. Man kann gegen die Mehrheit eine Zeit lang regieren. Aber man kann gegen die Mehrheit nicht die ganze Zeit regieren.

© Michael Szyszka

Das wird man ja wohl wieder sagen dürfen

Warum fühlen sich so viele Menschen zur AfD hingezogen? Weil sie Probleme anspricht, die andere nicht anzusprechen wagen? Auch das. Aber der wahre Reiz ist die Enthemmung: Sich keinen Zwang mehr antun müssen, das ist der Kick

Der wahre Charakter zeigt sich in der Niederlage, heißt es. Manchmal zeigt er sich auch in der Stunde des Triumphs.

Erinnern Sie sich noch, als Angela Merkel dem damaligen CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe nach der Bundestagswahl 2013 die Deutschlandfahne aus der Hand nahm? Der arme Tropf hatte sich auf der Siegesfeier das Fähnchen geschnappt und lief damit fröhlich singend über die Bühne im Adenauerhaus. Erst fing er sich einen missbilligenden Blick seiner Chefin ein, dann nahm sie ihm das Fähnchen aus der Hand und gab es einem Mitarbeiter zur Entsorgung.

Das war Merkel in a Nutshell, wie man so schön sagt: Immer darauf bedacht, bloß kein Aufsehen zu erregen. Wann immer in den nächsten Jahren ihr Verhältnis zu Volk und Nation zur Sprache kam, war dieser Clip nicht weit.

Die AfD in Brandenburg konnte vor zwei Wochen ebenfalls einen großen Sieg feiern. Fast 30 Prozent der Stimmen, so viel wie noch nie. Freudetrunken lagen sich die Anhänger in den Armen und sangen zu dem Partysong „Wir feiern die ganze Nacht”: „Hey das geht ab, wir schieben sie alle ab, sie alle ab.“ Ein Partygast hielt ein Schild mit der Aufschrift „Millionenfach abschieben“ hoch. Was einem bei der AfD halt so als Erstes in den Sinn kommt, wenn alle Anspannung des Wahlkampfs von einem abgefallen ist.

Millionenfach? Hat sich die Partei nicht gerade vehement gegen die Vermutung gewehrt, bei ihren Remigrationsplänen seien mehr als die Ausreisepflichtigen gemeint? Nach Stand der Lage wären das 44000 Menschen. In Brandenburg sieht man das offenbar nicht so eng. Da wäre man gerne alle los, die anders heißen und anders aussehen als Franz und Anna von der Jungen Alternativen.

So ist es immer bei der AfD. Jemand krakeelt eine wüste Parole oder macht eine anzügliche Geste: klar nicht schön, heißt es anschließend, aber man dürfe doch vom Einzelfall nicht aufs Ganze schließen. Nie schreitet jemand ein und unterbindet den Spuk. Schuld durch Unterlassung würde man das im Strafrecht nennen.

Es ist eigenartig, die meisten Rechtsparteien in Europa gehen den Weg der Verbürgerlichung. Nur die AfD treibt es immer weiter an den Rand. Ihr Spitzenpersonal möchte ums Verrecken gerne bürgerlich wirken, nur, so ist es nicht. In keiner Partei ist die Anzahl der Perlenketten und Einstecktücher höher. Gäbe es in der Politik einen Krawatten-Index, die AfD würde mühelos gewinnen.

Aber niemand scheint den Leuten an der Spitze gesagt zu haben, dass zum bürgerlichen Habitus auch gehört, dass man nicht einfach herausplärrt, was einem so durch den Kopf schießt. Nicht wildes Gehabe und Getobe, sondern Contenance und Selbstbeherrschung gehören traditionell zu den bürgerlichen Werten.

Warum fühlen sich so viele Menschen zur AfD hingezogen: Weil sie Probleme anspricht, die andere sich nicht anzusprechen trauen? Auch das. Aber ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass der eigentliche Grund für eine große Zahl von Anhängern die Enthemmung ist. Sich keinen Zwang mehr antun müssen, darin liegt der große Reiz.

„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, stand auf den Plakaten, mit denen der PEN Berlin für eine Veranstaltungsreihe im Osten warb. Es wurde dann auch gesagt, was man noch alles sagen darf, das war das Gute. Ich konnte mich im Staatstheater Cottbus davon überzeugen, wo ich zwei Wochen vor der Brandenburg-Wahl mit der Bestseller-Autorin Jana Hensel über die Grenzen der Meinungsfreiheit debattierte.

Bei der AfD lautet der Satz hingegen: „Das wird man ja wohl wieder sagen dürfen.“ Das hat sie allen anderen voraus. Man darf zum Beispiel sagen, dass Reinhard Heydrich, der Mann, der als „Schlächter von Prag“ in die Geschichte einging, eine kluge Politik in der damaligen Tschechoslowakei gemacht habe. Man darf Gesetze loben, die es Schwulen untersagen, ihre Zuneigung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Man darf SA-Parolen verkünden, beim Besuch von Konzentrationslagern demonstrativ Kleidung mit Nazi-Symbolen tragen und dem Juden Michel Friedman eine baldige Abreise aus Deutschland empfehlen. Man darf sich sogar einen weiteren Holocaust wünschen, dieses Mal für die Ausländer, die ins Land kommen.

All das und vieles mehr ist in der AfD möglich. Es existieren inzwischen lange Listen mit besonders auffälligen Zitaten. Nicht alle Sätze lassen sich eindeutig zuordnen, manches ist verkürzt oder fehlerhaft wiedergeben. Aber das meiste stimmt. Wenn selbst Marine Le Pen auf Distanz geht, dann weiß man, dass man wirklich ganz weit außen angekommen ist.

Von dem amerikanischen Psychologen Arthur Janov stammt das Konzept der sogenannten Urschrei-Therapie. In der Therapiesitzung lernen die Patienten, sich von frühkindlichen Verletzungen und Traumata zu befreien, indem sie sich die Frustration von der Seele brüllen. AfD ist wie politischer Urschrei. Einfach mal die Sau rauslassen, vielleicht fühlt man sich anschließend ja besser.

Wo wollen sie bei der AfD damit hin? Alle rätseln jetzt, welchen Plan Björn Höcke hat. Aber hat er überhaupt einen? Am Wochenende konnte man in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ lesen, dass er hin und hergerissen ist zwischen dem Verbleib in Thüringen und dem Wechsel nach Berlin. Er sei müde und ausgelaugt, hieß es in dem Text, Weggefährten sprechen von Schwermutsanfällen, die ihn lähmen würden. Das klingt nicht nach einem Plan.

Man kann sich auch zu Tode siegen. Wer sich so aufführt wie die AfD, fällt als Koalitionspartner aus. Da braucht es gar keine Brandmauer, das sagt einem der politische Verstand. Der einzige Weg an die Macht führt für die AfD über eine eigene Mehrheit. Aber bis es so weit ist, vergeht selbst im Osten noch einige Zeit. Vier von fünf Wahlberechtigten haben in Brandenburg nicht für die AfD gestimmt, wie der unnachahmlich nüchterne Forsa-Chef Manfred Güllner vorgerechnet hat. Das sollte man bei aller Aufregung nicht vergessen.

Die Deutschen sehnen sich nach Stabilität. Umsturz ist nicht ihre Sache, da könnte ja der Vorgarten Schaden nehmen. Bevor er einen Bahnhof stürme, löse der Deutsche erst einmal eine Bahnsteigkarte, spottete Lenin. Einmal haben sie das anders gesehen, und einen zum Führer gemacht, der dann dafür sorgte, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Das möchte man nicht noch mal erleben.

Der Witz ist, dass nicht einmal die AfD-Anhänger wollen, dass die Leute, die sie wählen, dann auch regieren. Es geht darum, Rabatz zu machen. Das muss man sich allerdings leisten können. Solange das Land einigermaßen stabil ist, kann man auch für Politiker stimmen, die mit allem abrechnen wollen. Es kostet ja nix. Mal sehen, ob das noch funktioniert, wenn sich die ökonomische Lage eintrübt.

Zwei Dinge haben mich überrascht. Ich dachte immer, das Landleben habe eine beruhigende Wirkung. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Im sogenannten ländlichen Raum ist die AfD im Osten inzwischen so dominant, dass man kilometerweise kein anderes Plakat sieht.

Eine andere Auffälligkeit: Wer einmal den Schritt zur AfD gemacht hat, kommt nicht mehr zurück. Alle Parteien haben an die Konkurrenz Stimmen abgegeben, wie die Schaubilder zur Wählerwanderung zeigen. Die einzige Partei, an die die AfD Stimmen verloren hat, ist das Bündnis Sahra Wagenknecht. Ansonsten: keine Verluste, nichts.

Das lässt den Schluss zu, dass der Wechsel zur AfD wie ein Schritt auf die andere Seite ist. Was die Aussicht angeht, Wähler zurückzugewinnen, bin ich deshalb eher skeptisch. Was den etablierten Parteien gelingen kann: Dass sie nicht noch mehr verlieren. Vielleicht sinken Leute, die von der AfD enttäuscht sind, auch irgendwann ins Lager der Nichtwähler zurück. Aber dass sich eine nennenswerte Zahl wieder von CDU, SPD oder Grünen begeistern lässt, halte ich für nahezu ausgeschlossen.

Das ist wie bei Alkoholikern: Wer einmal drauf ist, der ist drauf. Dem hilft auch kein Zureden. Er kann es schaffen, trocken zur werden, aber Alkoholiker bleibt er. Deshalb lautet ja auch mein Rat: Halte Dich von den Drogen fern.

© Sören Kunz

Jetzt wird’s gefährlich

Wie will man verhindern, dass die AfD Zeit- schriften verbietet, sobald sie den ersten Innenminister stellt? Ausgerechnet die SPD hat vorgemacht, wie es geht, und damit für alle Nachahmer einen Präzedenzfall geschaffen

Manchmal ist es eine empfehlenswerte Übung, sich die Tragweite einer Entscheidung vor Augen zu führen, indem man sie mit verkehrten Rollen noch einmal durchspielt. Wir neigen dazu, unsere Maßstäbe davon abhängig zu machen, ob uns das Ergebnis gefällt. Dann sagen wir: Es hat ja die Richtigen getroffen.

Nehmen wir an, die neue Innenministerin von der AfD hätte sich vor die Kameras gestellt und mit triumphierendem Lächeln erklärt: „Ich habe heute die linksradikale Berliner Tageszeitung ‚taz‘ verboten.“ Die „taz“ sei eine Brutstätte gefährlichen Gedankentums. Auf ihren Seiten würden Polizisten zu Müll erklärt. Die Redakteure zeigten Verständnis für linksautonome, anarchistische und andere staatszersetzende Positionen. Deutschland würde regelmäßig von Autoren als Ort beschrieben, den man abschaffen müsse.

Wie wohl in dem Fall die Reaktionen ausfallen würden? Ich bin sicher, Mediendeutschland stünde kopf. Es wäre von einem Anschlag auf die Pressefreiheit die Rede, der an fins-terste Zeiten erinnere. Überall fänden sich flammende Leitartikel, die Soli-darität mit den bedrängten Kollegen forderten – auch in Medien, die keinerlei Sympathie für das politische Programm der „taz“ hegen.

Vor anderthalb Wochen hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser zum Schlag gegen die rechtsextreme Zeitschrift „Compact“ ausgeholt. Sie hat die Redaktionsräume von einer Hundertschaft Polizei durchsuchen lassen. Der Chefredakteur wurde in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt und im Bademantel den Kamerateams vorgeführt, die am Gartenzaun warteten. Anschließend ließ die Ministerin die Konten beschlagnahmen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, abtransportieren – Computer, Schreibtische, sogar Bürostühle.

Genau genommen hatte die Innenministerin gar nicht das Recht dazu. Presserecht ist Ländersache. Presseerzeugnisse unterliegen außerdem einem besonderen Schutz, das gilt auch für Zeitschriften, die wie „Compact“ anti-semitische Verschwörungstheorien verbreiten. Die Obrig- keit kann gegen einzelne Ausgaben vorgehen, indem sie die Auslieferung stoppt oder die Schwärzung bestimmter Passagen verlangt. Das Verbot eines Presseorgans ist im Presserecht nicht vorgesehen.

Aber weil sie nun einmal beweisen wollte, wie knallhart sie sein kann, bediente sich Nancy Faeser eines Tricks: Sie stülpte das Vereinsrecht dem Presserecht über, indem sie offiziell gegen die Gesellschaft hinter der Zeitschrift vor-ging. Wobei, selbst hier musste sie sich die Dinge zurechtbiegen. Hinter „Compact“ steht gar kein Verein, sondern eine GmbH. Wie heißt es so schön: legal, illegal, scheißegal. Der alte Sponti-Spruch zieht noch immer, wie man sieht.

Die „taz“ ist nicht „Compact“. Darauf können wir uns sofort einigen. Die „taz“ ruft weder zum Sturz des Systems auf, noch verbreitet sie politische Wahnvorstellungen. Aber ob eine Innenministerin der AfD das auch so sehen würde? Das ist ja das Tückische, wenn man es als Demokrat mit Recht und Gesetz nicht so genau nimmt: Die von der Gegenseite merken sich das. Präzedenzfälle schaffen ein Vorbild, dem dann auch Leute nacheifern können, die noch viel weiter zu gehen bereit sind als man selbst. Das ist die Nebenwirkung des Präzedenzfalls.

Was reitet Frau Faeser, weshalb dieses Verbot? Niemand kann annehmen, dass eine Zeitschrift, deren Auflage bei 40000 Exemplaren liegt, so staatsgefährdend ist, dass man sie aus dem Verkehr ziehen muss. In Wahrheit ist der Adressat der Aktion auch nicht so sehr die rechte Szene, es ist vielmehr die eigene Anhängerschaft. Wenn es noch so etwas wie einen Kitt gibt, der die Sozialdemokraten zusammenhält, dann der Kampf gegen Rechts. Dem wird alles untergeordnet, auch die Verfassung. Woran man sieht: Eine große Partei, die den Abgrund vor Augen hat, kann mindestens so gefährlich sein wie eine Splitterpartei, die plötzlich zu viel Macht bekommt.

Es heißt jetzt, der Chefredakteur könne ja gegen die Entscheidung der Ministerin klagen. Nach Lage der Dinge stehen seine Chancen, vor Gericht recht zu behalten, nicht schlecht. Aber was nützt ihm das? Auch so kann man ein Presseorgan erledigen: Man macht den Laden einfach dicht und verweist auf den Rechtsweg. Wenn die Gerichte dann Monate später zu einer Entscheidung kommen, ist nichts mehr übrig, was zu retten sich lohnen würde.

Als Franz Josef Strauß den „Spiegel“ zu erledigen versuchte, indem er die Chefredaktion wegsperren ließ, war genau das die Frage: Kann man weiter ausliefern oder nicht? Dass nicht eine Ausgabe in der Druckerei hängen blieb, sicherte dem Blatt das Überleben. Schon eine verpasste Nummer hätte einen existenzgefährdenden Zahlungsausfall bedeutet, ein zeitweiliger Stillstand der Druckpressen das Aus. Auch das lässt sich auf das „taz“-Beispiel übertragen: Egal wie die Beleglage ist, durch ein Verbot schafft man Tatsachen, die anschließend kein Gericht mehr rückgängig machen kann.

Der Nachteil der Meinungsfreiheit ist, dass sie auch Leute für sich in Anspruch nehmen, deren Meinung man abscheulich findet. Ist „Compact“ ein Drecksblatt? Das ist es. Muss man an der Zurechnungsfähigkeit seiner Redakteure zweifeln? Man muss, unbedingt. Aber auch falsche, hetzerische und sogar offen feindselige Aussagen sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das Bundesverfassungsgericht ging in einer Grundsatzentscheidung sogar so weit, selbst für die Verbreitung rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gedankenguts ein allgemeines Verbot auszuschließen.

Welchen Stellenwert der Pressefreiheit zukommt, kann man auch daran sehen, dass Journalisten mit dem Zeugnisverweigerungsrecht ein Privileg eingeräumt wird, dass ansonsten nur Ärzten, Anwälten und Geistlichen zusteht. Wer sich Journalisten anvertraut, soll sicher sein können, dass sein Name nicht bekannt wird. Das Redaktionsgeheimnis ist so etwas wie der Heilige Gral des Journalismus. Jeder Versuch, daran zu rühren, stieß bislang auf erbitterten Widerstand.

Und nun? Nun wurde bei der Durchsuchung der Räume der „Compact“-Redaktion auch dieses Geheimnis ausgehebelt. Das Vereinsrecht ist ein wunderbares Instrument, um alles zu schleifen, was eben noch als sakrosankt galt. Wäre ich Anwalt oder Arzt würde ich mir darüber Gedanken machen, ob ich wichtige Akten nicht beizeiten in Sicherheit bringen sollte.

Dass die Ministerin ein gesichert autoritäres Staatsverständnis hat, wie es im Verfassungsschutzdeutsch heißen würde, zeigt auch ein anderes Detail. Immer, wenn sich Frau Faeser als Verfassungsschützerin in Szene setzt, ist ein Pulk vor Fotografen und Kameraleuten vor Ort, um Livebilder vom Geschehen zu liefern. Das war so bei der angeblich streng geheimen Razzia gegen den Reichsbürger-Prinzen und seine Mitstreiter, so war es jetzt auch beim morgendlichen Besuch beim „Compact“-Chef.

„Perp Walk“ nennt man in den USA die öffentliche Vorführung des Verdächtigen. Es ist eine Prozedur, die allein dem Zweck der Demütigung des Beschuldigten dient. Auf dem Weg vom Gerichtssaal zum Auto wird der Presse Gelegenheit gegeben, den Verdächtigen abzulichten. Da die wenigstens Menschen vorteilhaft aussehen, wenn sie Handschellen tragen oder anderweitig in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, entstehen in der Regel Bilder zu ihrem Nachteil. Genau das ist intendiert.

Was immer am Ende von ihren Entscheidungen übrig bleiben wird: Frau Faeser kann sich rühmen, den Perp Walk in Deutschland verankert zu haben. Dieses Verdienst bleibt. Selbstverständlich kann sich auch die Ministerin nicht erklären, weshalb die Fotografen jedes Mal rechtzeitig ihre Stative in Position gebracht haben, wenn die Polizei auftaucht. Entsprechende Anfragen an das Ministerium wurden dahin gehend beantwortet, man stehe ebenfalls vor einem Rätsel.

Woran man sieht: Es sind nicht nur die besonders Schlauen und Gewieften, vor denen man sich in Acht nehmen muss, sondern mitunter auch die Biederen und Einfältigen. Oh Gott, habe ich etwa gerade über die Innenministerin gesagt, dass ich sie nicht für die hellste Kerze auf der Torte halte? Ich nehme das sofort zurück! Nicht dass morgens um sechs Uhr in der Früh meine beiden Chefredakteure aus dem Bett geklingelt werden, um sie wegen Herabwürdigung des Staates und ihrer Repräsentanten zu belangen.

© Silke Werzinger

Punk!

Die Grünen sind arg gebeutelt, überall Ärger und Rückschläge. Und nun noch das: Ausgerechnet in der Generation Z, auf der alle Hoffnungen ruhten, legt die AfD am stärksten zu. Was ist bloß mit der deutschen Jugend los?

Neulich saß ich neben Joschka Fischer. Ich war mit meinem Freund Jakob Augstein im Baba Angora in Berlin-Charlottenburg zum Mittagessen verabredet. Am Nebentisch: unser ehemaliger Außenminister. Er gab die folgenden 90 Minuten nicht zu erkennen, ob er uns wahrgenommen hatte, aber beim Herausgehen nickte er uns kurz zu. Schwer zu sagen, was sein Nicken bedeuten sollte: „Ach, Ihr Arschgeigen auch hier.“ Oder: „Die Zeit tilgt alle Sünden.“

Wir haben uns nichts geschenkt, so viel kann man sagen. Ich kann mich an keinen Minister erinnern, der Journalisten so unflätig behandelt hat wie Fischer. Dafür haben wir es ihm mit der Visa-Affäre heimgezahlt. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen: Ein „Spiegel“-Titel plus Untersuchungsausschuss, weil an der Deutschen Botschaft in Kiew ein paar Tausend Visa zu leichthändig vergeben worden waren.

Aber auch das nahm Fischer sportlich. Er stellte sich vors Außenministerium und sagte mit der typischen Fischer- Arroganz: „Schreiben Sie einfach: Fischer ist schuld.” Was soll man da noch sagen? Manche Affären erledigen sich, indem man die Nerven behält – eine Lehre, die heute insbesondere bei Liberalen komplett in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

Es tut mir weh, das konzedieren zu müssen: Aber Fischer hatte eine Coolness, die nach ihm kaum ein Politiker mehr erreicht hat. Er war ein Kotzbrocken und Egomane, der seine Herkunft als Frankfurter Straßenschläger nie ganz verheimlichen konnte (und auch nicht wollte). Wer einmal mit ihm zu Abend gegessen hat, wird diesen Abend schon wegen der verheerenden Manieren nie vergessen.

Aber besser Straßenschläger als Gouvernante, muss man im Nachhinein sagen. Den Unsinn, den seine Nachfolgerin vom Stapel lässt, wäre ihm nie über die Lippen gekommen.

Außerdem war auf ihn Verlass, wenn es ernst wurde. Fischer war schon gegen den Antisemitismus bei den Linken, als alle noch dachten, den gäbe es nur rechts. Als ein deutsches Terrorkommando im Juli 1976 bei dem Versuch, die palästinensischen Kameraden mit der Geiselnahme von Juden zu beeindrucken, erschossen wurde, lautete sein Kommentar: „Das geschieht denen recht”. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was er als Außenminister dazu gesagt hätte, dass mit deutschem Steuergeld Terrorunterstützerorganisationen wie die UN querfinanziert werden.

Heute stehen an der Spitze der Grünen lauter wahnsinnig bemühte, unendlich brave Menschen, die selbstverständlich nie auf die Idee kämen, Journalisten als Fünf-Mark-Nutten zu beschimpfen oder einen Bundestagsvizepräsidenten als Arschloch. Aber vielleicht ist das ja genau das Problem.

Die Grünen sind der alte weiße Mann der Politik. Keine Partei hat bei den Europawahlen unter jungen Menschen einen solchen Absturz hingelegt. Minus 23 Prozent, das hat nicht mal die SPD hinbekommen. Und die hat sich nun wirklich alle Mühe gegeben, jeden Minusrekord zu brechen.

Ich glaube, der Absturz ist in seiner Bedeutung noch nicht richtig verstanden. Man kann kaum überschätzen, was es für eine Bewegung, die sich auf ihre Jugendlichkeit so enorm viel einbildet, heißt, wenn ihr die Jugend die kalte Schulter zeigt. Wenn es etwas gab, dass die Grünen allen anderen voraushatten, dann den Schulterschluss mit den Jungwählern. Wie oft saß ich in Talkshows neben Grünen-Vertretern, die unwidersprochen ihre Agenda herunterbeten durften, weil sie ja angeblich Stimme und Gewissen der Generation 16 plus waren.

Jeder soziologisch bewanderte Mensch wusste schon vor dem Wahlsonntag, dass das nicht stimmen konnte. Ein Besuch bei Lidl reicht aus, um zu erkennen, dass Fridays for Future nicht die deutsche Jugend repräsentiert. Franziska Zimmerer schreibt sich in der „Welt“ die Finger wund, weshalb die Generation Z nicht so einheitlich und schon gar nicht so politisch ist, wie sie es in den Redaktionen gerne hätten. Aber es passte halt so schön ins Narrativ, wie man dazu sagt. Da lässt man sich auch von einer 31-jährigen Journalistin, die schon altersmäßig besser Bescheid weiß als jeder klimabewegte „Zeit”-Großessayist, nichts sagen.

Deshalb jetzt: Entsetzen. Was ist bloß mit der Generation Z los? 16 Prozent für die AfD, fast gleichauf mit der Union. Das hat auch Yaël Meier, die „Erklärerin der Generation Z”, nicht vorausgesehen.

Eben noch galten die Gen-Zler als Vorbildgeneration, die die herkömmlichen Machtstrukturen in Frage stellt und für eine neue Work-Life-Balance streitet. Und nun wählen sie zu einem nicht unerheblichen Teil eine Partei, deren Spitzenkandidat an seine Wähler appelliert, den „echten Mann” in sich zu entdecken, statt „lieb, soft, schwach und links” zu sein.

Zu viel Internet und TikTok – so lautet die Erklärung. Weil sie die ganze Zeit am Handy hängen würden und ständig Videos schauten, seien sie halt leicht manipulierbar. Merke: Genau das, was eben noch Bewunderung hervorrief (Digital Natives), kann morgen schon ein Manko sein. Ach, was sage ich: Manko! Eine Charakterschwäche, die die Frage nahelegt, ob man das Wahlalter nicht sofort auf 21 Jahre hochsetzen sollte.

War es nicht immer das Privileg der Jugend, aufmüpfig zu sein, sich gegen die Autoritäten und das Autoritäre aufzulehnen? Auch so bricht man Jugendprotest das Genick: Indem man die Kinder zur Demo fährt und dann an der Straße steht und applaudiert, wenn Finn und Annika für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels demonstrieren.

Das Protestangebot von Leuten wie Katrin Göring-Eckardt und Ricarda Lang lautet: Seid einfach noch grüner als wir selbst. Also noch nachhaltiger, noch ökologischer und noch umsichtiger. Sicher, auch das grüne Engagement lässt sich so weit auf die Spitze treiben, dass es zur Provokation taugt. Das ist der Weg der Klimakleber, die so radikal auftreten, dass selbst Luisa Neubauer findet, sie sollten einen Gang runterschalten, um die gesellschaftliche Zustimmung nicht zu gefährden. Aber als Protestform für die breite Masse ist der Sekundenkleber doch eher ungeeignet. Dann lieber sein Kreuz an der Stelle machen, an der es die Eltern besonders schmerzt.

Für die AfD stimmen ist der Punk von heute. Früher hat man sich den Kopf kahl geschoren und Sicherheitsnadeln in die Backe gerammt, heute steckt man der Gesellschaft den Zeigefinger entgegen, in dem man rechts wählt. Ich weiß, ich weiß, die AfD steht für lauter schlimme Sachen. Aber Hand aufs Herz: Mit Sid Vicious als Kanzler wären wir nicht viel besser gefahren als mit Alice Weidel.

Dazu kommt: Wenn man jung ist, ist man näher dran, auch an den gesellschaftlichen Verwerfungen. Wer im Villenviertel wohnt, ist weit weg von der Härte der Straße. Wer hingegen jeden Tag mit der S-Bahn oder dem Bus zur Schule fährt, weiß, was es bedeutet, auf Gleichaltrige zu stoßen, die zu Hause ganz andere Konfliktlösungsstrategien gelernt haben als man selbst.

Niemand hat es gern, wenn ihm das Alter vor Augen geführt wird. Anderseits kann einem jeder Familientherapeut sagen, dass die Abnabelung vom Elternhaus Teil des Erwachsenwerdens ist. Wenn Eltern davon sprechen, dass sie die Freunde ihrer Kinder sein wollen, liegt etwas im Argen. Eltern sind alles Mögliche – Aufsichtspersonen, Kummerkasten, Gegenspieler – aber Freunde sind sie mit Sicherheit nicht. Und wenn sie es sind (oder zu sein glauben), haben sie etwas falsch gemacht.

Insofern ist es möglicherweise ganz heilsam, dass die Grünen endlich die Rolle im deutschen Parteiensystem annehmen, die sie ohnehin längst innehaben: die der Super-Nanny, die dafür sorgt, dass niemand zu sehr über die Stränge schlägt. Das ist zugegebenermaßen nicht besonders cool und nicht besonders hip. Aber wie jeder weiß: Einer muss den Job machen. Wenn alle anderen Party feiern, braucht es jemand Nüchternen, der anschließend wieder das Licht anstellt und zum Aufbruch mahnt.

Außerdem: Buntgefärbte Haare und flippige Kleidung, um jünger zu wirken – das war schon immer ein wenig lächerlich. In Würde altern, auch das kann für eine Partei ein erstrebenswertes Ziel sein.

© Sören Kunz

Mit Leuten wie Höcke reden? Viele Journalisten halten die Bürger offenbar für blöd

Man dürfe den Rechten nicht die Stichworte liefern, heißt es. Dahinter steht die Vorstellung, man müsse bestimmte Themen nur aus den Medien heraushalten und schon würde nicht mehr darüber geredet.

Die AfDdurfte nicht zum Bundespresseball. Seit die Partei im Bundestag sitzt, also seit 2017, standen auch die Abgeordneten der AfD auf der Einladungsliste. Dieses Mal nicht. „Die Partei passt nicht zu uns, mit denen kann man kaum die Demokratie verteidigen“, sagte Mathis Feldhoff, der Vorsitzende des Vereins der Bundespressekonferenz, der den Ball ausrichtet, der Nachrichtenagentur „dpa“.

.Der Ball stand unter dem Motto: „Für die Pressefreiheit. Demokratie schützen.“ Wer denkt sich so etwas aus? Klar, irgendwie sind wir alle für Demokratie. Ist ja auch eine super Sache. Aber muss man deswegen gleich im Takt dazu tanzen? Ich dachte, es gehe bei einem Ball darum, sich einen hinter die Binde zu gießen und ansonsten den lieben Gott eine gute Person sein zu lassen. Aber was verstehe ich schon von Pressebällen.

Eine Freundin fragte, ob ich sie begleiten würde, sie habe noch eine Karte übrig. Ich weiß, warum ich dankend ablehnte. Ich hätte den Demokratietest nie und nimmer bestanden. Wenn ich höre, ich solle mich zur Verteidigung höherer Dinge einfinden, bin ich weg.

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen: Ich habe es nicht anders gelernt. Als ich zur Journalistenschule ging, stand alles Mögliche auf dem Lehrplan: Nachricht, Recherche, Kommentar, die Feinheiten der deutschen Sprache. Demokratieverteidigung war nicht dabei.

Leider schreiben viele in meinem Gewerbe inzwischen auch so, als wollten sie einen Demokratieförderpreis gewinnen. Keine schlechten Scherze mehr, keine fiesen Witze, natürlich auch nichts Schräges oder Anarchisches, woraus man einem einen Strick drehen könnte. Dafür lange Riemen, wie man den Staat vor seinen Feinden schützt.

Ich halte die AfD für ein ergiebiges Thema. Mich würde zum Beispiel brennend interessieren, wie es bei Alice Weidel zu Hause aussieht. Wie bringt sie das zusammen: das Leben als lesbische Mutter und den Vorsitz einer Partei, die Lesben für Frauen hält, die einfach noch nicht den richtigen Mann gefunden haben?

Auch ein Hausbesuch bei Björn Höcke erschiene mir vielversprechend. Ich wüsste zu gerne, ob er im Keller wirklich eine Surround-Anlage eingerichtet hat, um Goebbels Reden in Dolby Atmos zu hören.

Schon physiognomisch ist Höcke eine fantastische Figur. Ich konnte während des „Welt“-Duells mit dem CDU-Mann Mario Voigt den Blick nicht von ihm wenden. Minutenlang verharrte er mit der Hand am Kinn, als sei er direkt einem Disney-Film über die deutsche Romantik entsprungen. Dazu diese Sprache, die immer einen Überschuss Luise Rinser enthält („mir brennt der Mund“). Tolles Material, nach dem sich jeder Journalist die Finger leckt, sollte man meinen.

Stattdessen werden uns lange Elogen geliefert, weshalb man am besten gar nicht mit diesen Leuten redet. Weil: Wer mit ihnen redet, bietet ihnen eine Bühne.

Man dürfe den Rechten keine Bühne bieten, heißt es. Ich halte diesen Satz für den Gipfel der Anmaßung. Journalisten sollten Politikern nie eine Bühne bieten, und zwar egal welcher Couleur. Außerdem ist es nicht die Aufgabe von Medien, Parteien groß oder klein zu schreiben. Dass sich die politische Konkurrenz den Kopf zerbricht, wie sie der AfD den Weg verlegen kann, das erwarte ich von ihr. Aber Journalisten sind keine Politiker. Sie sollten auch nicht versuchen es zu sein.

Man dürfe den Rechten nicht die Stichworte liefern, lautet eine andere Formulierung. Dahinter steht die Vorstellung, man müsse bestimmte Themen nur aus der Zeitung oder dem Fernsehen heraushalten und schon würde nicht mehr darüber geredet. Offenbar halten viele der im Journalismus Tätigen die Bürger für blöd.

Man kann selbstverständlich solange die Kriminalitätsstatistik kleinreden, bis nur noch Touristen übrig sind, um den hohen Anteil von Ausländern unter den Tatverdächtigen zu erklären. Aber das Einzige, was man mit diesen Verrenkungen erreicht, ist, dass die Leute den Journalisten noch mehr misstrauen, als sie es ohnehin tun. Nicht mal in der DDR hat der Versuch funktioniert, die Menschen von Informationen fernzuhalten, die man für schädlich hielt.

Dennoch ist der Reflex erst einmal: Am besten gar nicht dran rühren. Unter diesen Umständen ist es fast eine Sensation, wenn der „Presseclub“ 45 Minuten über die Frage diskutieren lässt, ob steigende Kriminalität eine Sache der Herkunft sei. Ich bin sicher, es gab beim WDR nicht wenige, die fanden, man hätte etwas ganz anderes senden sollen. Am besten wieder was zum Klimawandel. Oder zu Rassismus. Das geht immer.

Man sieht die Folge dieser Wirklichkeitsabgewandtheit auch in den sinkenden Auflagen. Anders als die Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kann man Leser ja nicht zum Abschluss eines Abonnements verpflichten.

Der Rückgang wird zum Naturgesetz erklärt, aber das ist er nicht. Der „Spiegel” zum Beispiel hat trotz Internet Jahr für Jahr zugelegt, bis die Redaktion in ihrer Weisheit auf die Idee kam, nach Stefan Aust eine Reihe von Chefredakteuren zu installieren, die vor allem darüber nachdachten, wie man die eigenen Redakteure glücklich macht.

Schon die Frage, was den Leser interessiert, gilt in manchen Redaktionen als Häresie. Entscheidend ist bei der Themensuche vielmehr, was ihn interessieren sollte. Wenn er sich uneinsichtig zeigt, wird er so lange traktiert, bis er sich in sein Schicksal fügt – oder die Segel streicht.

Dass die mediale Wirklichkeit und die Wirklichkeit, die viele Menschen als Normalität empfinden, auseinanderfallen, ist kein ganz neues Phänomen. Auch zur Zeit von Helmut Kohl waren veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung nicht immer deckungsgleich. Was die Beurteilung seiner Person angeht, fielen sie erkennbar auseinander. Aber es gab wenigstens noch den Versuch, die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, und sei es aus Eigennutz.

Inzwischen gelten sinkende Auflagen als notwendiges Übel. Wenn auf dem Weg der Erneuerung alte Abonnenten verloren gehen, dann sei’s drum. Jung, weiblich und divers – so wünscht sich die moderne Chefredaktion ihre Leserschaft. Wer nicht einsehen will, dass die neue Zeit auch neue Schwerpunkte verlangt, muss sich halt eine andere publizistische Heimat suchen.

Es hat sich eingebürgert, von Haltungsjournalismus zu sprechen. Aber das ist eigentlich das falsche Wort. Gegen Haltung ist nichts zu sagen. Auch ich habe zu vielen Dingen eine klare Haltung, wie die Leser meiner Kolumne aus leidvoller Erfahrung wissen. Vielleicht müsste man eher von Wirklichkeitsnachbesserungsjournalismus reden. Wichtiger, als zu sagen, was ist, erscheint es den Vertretern desselben zu sagen, wie es sein sollte.

Da sich die Lebensrealität oft als sperriger erweist als gedacht, tut sich zwischen den Erwartungen und den Ergebnissen der hochherzigen Bemühungen eine Lücke auf. Das ist wie in der Politik. Aber das heißt mitnichten, dass man klein beigibt. Statt die Ansprüche anzupassen, werden die Anstrengungen einfach verdoppelt.

Mein Kollege Harald Martenstein hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass das Wort „Deportation“ bei der berühmten Veranstaltung in Potsdam bekanntermaßen nicht gefallen ist. Dennoch ist bis heute in vielen Medien von einer Tagung die Rede, bei der Deportationen beredet und geplant worden seien. Das habe er in dieser Drastik noch nicht erlebt, sagte Martenstein, dass eine widerlegte Sichtweise einfach eisern durchgehalten werde.

Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich jeden Weltverbesserungsjournalisten dazu verdonnern, sich wieder mehr für das zu interessieren, was ist. Das wäre ein echter Dienst an der Demokratie. Aber vermutlich ist das viel zu simpel gedacht.

© Sören Kunz

Liebe Regierung, wie wär’s mal mit einer ganz irren Idee im Kampf gegen die AfD?

Was hat man im Kampf gegen die AfD nicht alles unternommen: szenische Lesungen, Talkshow-Boykotte, Demonstrationen. Warum es zur Abwechslung nicht mal mit einer anderen Politik versuchen? Klingt verrückt, könnte aber helfen

 In der „Jungen Freiheit“ war vor ein paar Tagen der Fall eines Mannes zu lesen, der sich erdreistet hatte, seiner Lieblingspartei, der AfD, Geld zu überweisen. Parteispenden sind vom Staat gern gesehen. Die Politik hat dafür gesorgt, dass 50 Prozent des gespendeten Betrags direkt von der Steuerschuld abgezogen werden können. Die Parteien erhalten für jede Spendeneinnahme zudem einen staatlichen Zuschuss.

In diesem Fall erreichte den Spender allerdings ein Schreiben seiner Bank, der Sparkasse Mittelfranken-Süd, er möge von weiteren Überweisungen absehen. Wörtlich schrieb ihm die Bank: „Der Zahlungsempfänger hat eine rechtsextremistische Ausrichtung. Stellen Sie bitte im eigenen Interesse solche Zahlungen ein.“

Das wollte der Mann nicht auf sich sitzen lassen und wandte sich an die Zeitung. Als auch andere Medien die Sache aufgriffen, ruderte die Bank zurück. Es habe sich um ein Versehen gehandelt, erklärte ein Sprecher.

Wie umgehen mit der AfD? Das ist eine Frage, die gerade viele Menschen umtreibt. Es ist nicht einfach. Was hat man nicht alles versucht: szenische Lesungen, Talkshow-Boykotte, das Ausrufen und Errichten diverser Brandmauern. Jedes Wochenende versammeln sich Tausende auf der Straße, um ihren Wunsch nach einem AfD-freien Deutschland Gehör zu verschaffen. Bei der Berlinale hielten Filmschaffende ihre Handys in die Luft und riefen: „Es lebe die Demokratie.“

Aber, Gott sei’s geklagt, alles, was man erreicht, sind ein paar Prozentpunkte weniger in den Umfragen. In den Teilen Berlins, wo die Bundestagswahl wiederholt werden musste, legte die Partei im Vergleich zu September 2021 5,6 Prozent zu. Nicht einmal der Umstand, dass eine der Kandidatinnen im Gefängnis saß, konnte die AfD-Fans von ihrer Wahl abhalten.

Was also tun? Ich hätte da eine ganz verrückte Idee. Warum es nicht mal mit einer anderen Politik versuchen? Ich weiß, das ist ein radikaler Vorschlag. Aber außergewöhnliche Zeiten erfordern manchmal außergewöhnliche Maßnahmen.

Was die Mehrheit der Bürger will, ist nicht so schwer zu erraten. Die Leute wissen, dass wir etwas gegen den Klimawandel tun müssen. Aber sie glauben eben nicht, dass dem Klima geholfen ist, wenn wir unsere Industrie abwickeln, während sie in China jedes Jahr neue Kohlekraftwerke ans Netz bringen. Es müsste eine Strategie her, die beides vereint, Sicherung des Wohlstands und Bewahrung der Umwelt.

Die meisten haben auch nichts gegen Ausländer. Dass die Demografie Zuwanderung erfordert, ist vielen klar. Aber wenn man den Leuten verspricht, dass sie etwas davon haben, wenn wir mehr Fremde ins Land lassen, dann sollten die, die kommen, zum Gemeinwohl etwas beitragen, statt den Bürgern auf der Tasche zu liegen. Und warum dann immer die Fleißigen abgeschoben werden, aber nie die Nichtsnutze, ist nur den wenigstens einsichtig.

Die große Mehrheit ist bereit, Rücksicht auf Minderheiten zu nehmen. Wenn man die Politik erklärt, dass ab jetzt jeder sein Geschlecht ändern lassen kann, auf Wunsch auch mehrfach, akzeptieren sie das. Sie denken sich im Stillen: „Warum der Markus jetzt bloß unbedingt Tessa heißen will? Aber mei, wenn’s ihn glücklich macht.“ Nur wenn man ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden versucht, weil sie weiter an zwei Geschlechter glauben, werden sie bockig. Dann haben sie den Eindruck, dass es gar nicht darum geht, das Leben einer Minderheit zu erleichtern, sondern dass das eigentliche Ziel ist, ihnen eine Theorie aufzuquatschen, die allem widerspricht, was sie im Biologie-Unterricht gelernt haben.

Die „Zeit“-Redakteurin Elisabeth Raether hat neulich für eine Erkundung des AfD-Lebensgefühls einen AfD-Wähler getroffen und sich mit ihm über seine Beweggründe unterhalten. Das allein ist schon bemerkenswert, weil Journalisten zwar gerne über die AfD schreiben, allerdings vorzugsweise ohne in näheren Kontakt zu den Wählern zu treten.

Der Mann, „Zeit“-Abonnent seit vielen Jahren, hatte in einem Leserbrief an die Redaktion seine Zweifel an der Wirksamkeit eines AfD-Verbots geäußert. Raether hatte ihm geantwortet und gefragt, ob man sich nicht einmal treffen wolle. Dem Leser geht es gut, soweit sich das sagen lässt. Er unterhält eine einträgliche Steuerkanzlei in Berlin. Das Interview fand auf Mallorca statt, wo er gerne den Winter verbringt.

Immer wieder betonte Raethers Gesprächspartner bei der Begegnung, wie schön das Leben sei. Aber warum dann AfD, fragte die Redakteurin mit Blick auf den Jachthafen von Portals Nous. Damit sich etwas tue, lautete die Antwort. Sein Kalkül gehe so: Wenn die AfD noch größer werde, würden die etablierten Politiker anfangen, nachzudenken. Sie würden mal wieder rausgehen und den Leuten zuhören.

Glaubt man den Soziologen, gibt es unter den Anhängern der AfD die Gruppe der Rechtsextremisten, die sich zur autoritären und rassistischen Position hingezogen fühlen. Es gibt die Abgehängten, die sich an die AfD wie an eine Planke klammern. Und es gibt Leute wie den Steueranwalt der „Zeit“-Journalistin, die wollen, dass sich etwas bewegt. Schwer zu sagen, wie groß die dritte Gruppe ist. Aber selbst, wenn sie nicht das Gros der Anhänger ausmacht, würde es doch lohnen, sich um sie zu bemühen, sollte man meinen.

Die Regierung geht den umgekehrten Weg. Statt rauszugehen und zuzuhören, reiht sie sich bei den Demonstrationen ein und versteht diese anschließend als Bestätigung, dass sie mit ihrer Politik genau richtig liegt. Jetzt erst recht, lautet die Botschaft, die sie aus den Protesten ableitet. Also jetzt erst recht mit der Energiewende fortfahren, der Erhöhung des Bürgergelds und der erleichterten Einbürgerung. Das ist ja auch die Forderung auf vielen Marktplätzen: Nicht klein beigeben, sondern im Gegenteil schon der CDU zeigen, dass man sie für eine AfD light hält.

Auch rhetorisch verschärft die Ampel den Ton. Galt bislang der Staat als Garant einer negativen Freiheit, wonach man denken und sagen kann, was man will, solange man sich keine Rechtsverstöße leistet, wird nun das aktive Bekenntnis verlangt. Demokratie als persönlich forderndes Aufbauprojekt, bei dem man sich nicht durch Abseitsstehen verdächtig machen möchte, wie es Christian Geyer in der „FAZ“ beschrieb: Das kannte man bislang nur aus anderen Teilen der Welt.

Ich kann mich an keine Koalition erinnern, die nach zwei Jahren beim Volk so unten durch war wie diese. Was an Zustimmung fehlt, versucht man nun per Gesetz zu erzwingen. Das sogenannte Demokratiefördergesetz ist der Versuch, auf juristischem Weg die Hegemonie zu sichern, die einem zu entgleiten droht.

Die Demonstrationen sollen ein Zeichen der Stärke sein. In Wahrheit sind sie ein Eingeständnis der Schwäche. Eine Mehrheit, die sich gewiss ist, dass sie das Sagen hat, hat es nicht nötig, sich unterzuhaken. Insofern sind die Proteste auch ein Bekenntnis, dass man sich nicht mehr sicher ist, wo die Mehrheit steht.

Man solle bitte die Demonstrationen nicht kleinreden, hat die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke in mahnendem Ton bei „Markus Lanz“ gesagt. Darauf läuft es hinaus: Bitte jetzt ordentlich zusammenstehen und dafür sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzt. Das ist für eine Partei, die ja aus dem Geist des Dagegen entstanden ist, eine kuriose Position.

Auf kaum etwas war man gerade bei den Grünen immer so stolz wie auf die eigene Widerborstigkeit und Widerständigkeit. Das Widerborstige drückte sich zwar schon seit längerem vor allem in seltsamen Frisuren und schrägen Video-Auftritten aus. Aber es war immerhin noch als Gestus vorhanden. Jetzt bleibt nicht einmal mehr das.

© Michael Szyszka

Einige Anmerkungen zur AfD

Steht Deutschland vor der nächsten Machtübernahme? Droht die Massendeportation von allen, die sich nicht einfügen wollen? Der Irrsinn bei der AfD korrespondiert leider mit der Maßlosigkeit der journalistischen Bewertung

Um es vorwegzuschicken: Ich hege Null Sympathien für die AfD. Wenn die AfD morgen verboten würde, wäre mir das auch recht. Ich halte es für unzutreffend, sie als Nazipartei zu bezeichnen, wie es der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst getan hat. Zutreffend wäre es, sie als Partei zu bezeichnen, in der Leute den Ton angeben, die nicht nur wie Nazis aussehen, sondern auch wie Nazis denken und reden.

Wenn ich mir den Parteivorsitzenden Tino Chrupalla anschaue, erkenne ich eine Physiognomie wieder, die man als deutsches Gesicht bezeichnen kann. Hätte Quentin Tarantino einen Nachfolger des SS-Offiziers Hans Landa zu besetzen, der Malermeister aus Sachsen wäre eine Empfehlung. Wobei, ich muss mich korrigieren. Das ist Unsinn. Über die SA wäre einer wie Chrupalla nie hinausgekommen.

Ist die AfD auch so gefährlich, wie es die historischen Vergleiche vermuten lassen? Das ist die Frage der Stunde. Wer die Zeitungen aufschlägt, muss den Eindruck gewinnen, dass uns nur noch ein Wimpernschlag von der nächsten Machtergreifung trennt, an dem die braunen Horden wieder durchs Brandenburger Tor marschieren.

Ende November traf sich ein Trupp AfD-Sympathisanten in einem Hotel in der Nähe von Potsdam zu einem Geheimtreffen, das dann so geheim war, dass ein Reporterteam den Ort rechtzeitig mit einem halben Dutzend Kameras und Mikrofonen ausgestattet hatte. Ein Vortrag handelte davon, wie man Leute, von denen man meint, dass sie nicht dazugehören, außer Landes schafft. Das gilt als Beweis, dass es fünf vor zwölf ist.

Das Treffen sei ein Weckruf, schrieb die stellvertretende Chefredakteurin des „Spiegel“, Melanie Amann. Hinter der AfD stehe eine brutale, faschistoide Ideologie, deren bürokratische Details die AfD-Leute im Stil der Wannseekonferenz bis ins Einzelne ausgetüftelt hätten.

Einen See weiter steht auch das Haus der Wannseekonferenz. Darauf hinzuweisen hatten schon die Reporter des Recherchenetzwerks „Correctiv“ nicht verzichten können. Sie hatten sogar die Entfernung vermessen (acht Kilometer). Das ist das Problem der deutschen Geschichte: In der Nähe zu nahezu jeder Konferenz findet sich ein böser Ort, das ist unvermeidlich. Wollte man es darauf anlegen, könnte man auch von Redaktionssitzungen des „Spiegel“ im Reichskanzleistil reden, weil zwischen dem Berliner Büro und Hitlers Führungssitz lediglich zwei Kilometer liegen.

Der Irrsinn der Deportationspläne korrespondiert mit der Maßlosigkeit der journalistischen Bewertung. Wissen Journalisten, die vom Wannseekonferenzstil reden, was auf der Wannseekonferenz besprochen wurde? Kennen sie die Liste der Teilnehmer? Ist ihnen bewusst, dass es sich dabei nicht um irgendwelche mediokren Gestalten handelte, deren Namen man sich erst zusammengoogeln musste, sondern um die damals mächtigsten Männer des deutschen Staates?

Ich verstehe die Beweggründe. Man will aufrütteln, Bewusstsein schaffen. Es geht auch darum, eine Rampe für das Verbotsverfahren zu bauen. Aber ich fürchte, man erreicht das Gegenteil von dem, was man erreichen will. Die Leute schauen sich die Hanseln an, die am Lehnitzsee in Potsdam die große Massenverschiffung aller kulturfremden Personen nach Nordafrika planten, und können sich einfach nicht fürchten. Sie haben sich übrigens auch vor dem Putsch-Prinzen in seinem Tweedsakko nicht gefürchtet, obwohl in den Zeitungen stand, die Behörden hätten knapp einen Staatsstreich vereitelt.

Ich wäre sehr dafür, die Gewaltenteilung zu beachten, zumal wenn man sich die Verteidigung der Demokratie auf die Fahne geschrieben hat. Es ist nicht Sache des Verfassungsschutzes, den Regierungsparteien unerwünschte Konkurrenz vom Leibe zu halten. Und Journalisten sind keine Verfassungsschützer. Wir müssen berichten, was wir sehen und hören. Wir sollten das beurteilen und meinetwegen auch verdammen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, Parteien groß oder klein zu schreiben. Genau das aber ist der Anspruch vieler AfD-Beobachter.

Schon der Name „Correctiv“ ist genau besehen eine Anmaßung. Wer oder was soll hier korrigiert werden? Die privaten Medienhäuser, die nach Auffassung der „Correctiv“-Macher nur unzureichend ihrem Job nachkommen? Oder die politische Richtung des Landes, die man für falsch hält?

Unabhängiger zu sein als andere, das ist das Versprechen. Wenn man genauer hinsieht, stellt man allerdings fest, dass zu den Geldgebern in der Vergangenheit neben diversen staatlichen Stellen auch die Bundesregierung gehörte. So gesehen ist es dann vielleicht nur naheliegend, wenn sich eine der Redaktionsleiterinnen artig beim Bundeskanzler dafür bedankt, dass er ihre Recherche wahrgenommen und gelobt hat. Wenn mich der Kanzler für meine Texte loben würde, wäre mein erster Gedanke: Was habe ich falsch gemacht? Die meisten Kollegen, die ich kenne, denken gottlob ähnlich.

Pünktlich zur „Correctiv“-Recherche hat eine Jury das Wort „Remigration“ zum Unwort des Jahres erklärt. Sie wolle die Sprachsensibilität der Bevölkerung fördern, heißt es auf der Webseite der Jury. Aber ich fürchte, es ist wie so oft: Diejenigen, die ohnehin sensibilisiert sind, sind jetzt noch ein wenig sensibler. Die anderen zucken mit den Achseln oder fühlen sich bestätigt. Der Reiz von Begriffen wie „Remigration“ liegt ja gerade darin, dass es links der Mitte als Unwort gilt, deshalb macht der Gebrauch den Rechten solchen Spaß.

Eines der größten Konjunkturprogramme für die AfD sind die aufrechten Kämpfer, für die die Neuauflage der Wannseekonferenz schon mit der Asyldiskussion im Kanzleramt beginnt. Die unvermeidliche Luisa Neubauer brachte es auf den Punkt, als sie den Kanzler per Tweet daran erinnerte, dass bei den Demos gegen die AfD auch gegen ihn und seine Politik demonstriert werde. In der „FAZ“ verstieg sich der Redakteur Patrick Bahners zu der Behauptung, in der Sache ginge das Nordafrika-Konzept nur „ein oder zwei Schritte“ über die migrationspolitischen Planspiele der Ampelkoalition hinaus.

Tatsächlich schwanken die Warner, wie sie die AfD sehen sollen. Einerseits betonen sie, dass die AfD völlig anders sei als andere Parteien, was sie so gefährlich mache. Anderseits sieht man überall Kontinuitäten. Wenn im Prinzip zwischen dem Wunsch des Kanzlers, Ausländer ohne Bleiberecht schneller abzuschieben, und den Deportationsfantasien eines österreichischen Identitären nur noch wenige Schritte liegen, ist die AfD eine ganz normale Partei. Warum sie dann aber verbieten wollen?

Was also soll man tun? Ich will mich da nicht aus der Affäre stehlen. Ich wäre erstens dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Natürlich handelt es sich beim völkischen Nationalstaat, wie ihn sich die AfD erträumt, um eine Reinheitsidee, bei der die Rasse-Reinheit durch Kultur-Reinheit ersetzt wurde – was denn sonst?

Ich habe auch nichts gegen Wählerbeschimpfung. Wer AfD wählt, soll ruhig merken, dass seine Entscheidung bei anderen auf Befremden stößt. Wenn jemand einen Politiker toll findet, der statt der Elvis-Imitation die Goebbels-Imitation zu seinem Markenzeichen gemacht hat, hat er es verdient, dass man ihm einen Vogel zeigt.

Aber wir sollten mit der Hysterie aufhören. Wenn sie in der AfD könnten, wie sie wollten, haben viele nichts mehr zu lachen, Lästermäuler wie ich eingeschlossen, kein Vertun. Nach Lage der Dinge wird allerdings noch eine Zeit vergehen bis zur Machtübernahme.

Selbst wenn Björn Höcke eines Tages Ministerpräsident in Thüringen sein sollte (was den vorliegenden Umfragen zufolge frühestens 2029 geschieht), wird sich am Grundgesetz nichts ändern. Und am Einwanderungsrecht auch nicht. Und an der Gewaltenteilung ebenso wenig.

Im Zweifel streicht man den Länderfinanzausgleich. Wer sind die größten Nutznießer? Berlin, klar. Aber darauf folgen schon Sachsen mit 3,3 Milliarden Euro, Sachsen-Anhalt mit 2 Milliarden und Thüringen mit 1,9 Milliarden. Bringt das die Wähler von ihrer Meinung ab? Nein. Aber man soll die ernüchternde Wirkung des Geldentzugs auch nicht unterschätzen. Am Gelde hängt, zum Gelde drängt am Ende doch alles.

© Silke Werzinger

Schrei nach Liebe: Warum AfD-Anhänger ein Fall für den Therapeuten sind

Viel ist davon die Rede, wie man der AfD entgegentreten sollte. Relativ wenig ist darüber zu lesen, warum so viele die AfD wählen. Was ist der Reiz, für eine Partei zu stimmen, von der alle anderen sagen, dass sie die Demokratie untergrabe?

 Ich habe vor Jahren einen Selbstversuch unternommen. Ich wollte wissen, wie ein überzeugter Rechter auf die Welt sieht. Ich habe mich dazu bei Facebook als AfD-Sympathisant angemeldet.

Das war relativ einfach. Ich habe den Nachnamen meiner Frau angenommen. Als Hintergrundbild wählte ich eine Landschaft von Caspar David Friedrich mit Morgennebel über dem Elbsandsteingebirge. Dann schickte ich zehn Menschen, von denen ich aufgrund ihrer Profile annehmen konnte, dass sie mit der rechten Sache sympathisieren, eine Freundschaftsanfrage.

Es ist erstaunlich, wie sich die Wahrnehmung verdüstert, wenn Facebook einen als AfD-Anhänger identifiziert hat. Man tritt in eine Welt, in die kein Sonnenstrahl mehr fällt.

Die Woche begann mit einem Zusammenschnitt von Filmclips, in denen arabisch aussehende Jugendliche auf Menschen einschlugen, die auf Deutsch laut um Hilfe riefen. Dann las ich die Nachricht, dass in der Stadt Neuss auf Druck der Muslime an einem Kiosk statt Bockwurst nur noch Hühnchenspieße verkauft werden. Später wurden mir Schockbilder von Tierschlachtungen präsentiert, verbunden mit dem Aufruf, mich für einen Bann der Schächtung einzusetzen.

Viel ist in diesen Tagen davon die Rede, wie man der AfD entgegentreten sollte. In den Zeitungen steht, dass alle anderen Parteien jetzt zusammenstehen müssten. Insbesondere die Versuche der CDU, sich stärker von den Grünen abzugrenzen, werden als schädlich angesehen.

Relativ wenig ist darüber zu lesen, warum Leute die AfD wählen. Was ist der Reiz für eine Partei zu stimmen, von der alle anderen sagen, dass sie die Demokratie untergrabe? Eine Erklärung lautet, dass sie von der CDU dazu ermuntert würden. Wer Themen anspreche, die auch die AfD anspreche, betreibe das Geschäft der Rechtspopulisten, heißt es. „Die Leute wählen das Original“, lautet der Satz, der nahezu unweigerlich folgt.

Mich hat diese Argumentation nie überzeugt. Ist damit gemeint, dass die AfD über Dinge redet, die in Wirklichkeit keine große Bedeutung haben? Oder soll es heißen, dass es zwar reale Probleme sind, über die AfD-Politiker reden, man sie aber besser als Sozial- oder Christdemokrat nicht anspricht, weil am Ende die Falschen davon profitieren?

So oder so bleibt nur der Schluss, dass man den Wähler für etwas unterbelichtet hält. Entweder lässt er sich Themen als wichtig einreden, die in Wahrheit nicht wichtig sind (Klimagesetze, Migration, Kriminalität). Oder er vergisst das, was ihm eigentlich wichtig ist, wenn die Politiker in den anderen Parteien nicht mehr darüber sprechen. Wenn dies das Niveau der politischen Analyse ist, muss man sich nicht wundern, dass die AfD in den Umfragen steigt und steigt.

Ich glaube, dass die AfD wieder deutlich zugelegt hat, weil sie einiges im Angebot führt, das mit Ausnahme der Linkspartei so niemand anbietet: die bedingungslose Russland-Liebe, der beinharte Antiamerikanismus, die aggressive Verachtung der muslimischen Welt. Vor allem aber bedient die AfD ein Lebensgefühl, und zwar das Gefühl, nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen, die einem zusteht. Die aus dem Gefühl der Zurücksetzung erwachsene Kränkung ist ein sehr mächtiges Gefühl. Es hat schon ganze Kriege ausgelöst.

Ich habe dieser Tage ein Buch auf den Tisch bekommen, dass das AfD-Gefühl perfekt wiedergibt. Es stammt von meinem ehemaligen Kollegen Matthias Matussek und trägt den bezeichnenden Titel „Armageddon“. Wenn Sie mal so richtig mies drauf kommen wollen, dann empfehle ich unbedingt den Kauf. Ich habe mich nach der Lektüre eines Buches selten so schlecht und ausgelaugt gefühlt.

Die Welt, die Matussek präsentiert, ist eine Welt der Düsternis. Die Politiker sind feige und korrupt. Die Journalisten ein Haufen opportunistischer Jasager, die ihre Leser nach Strich und Faden belügen und betrügen. Die Wirtschaft: eine Bande von Vaterlandsverrätern, die den Ausverkauf Deutschlands betreibt. Mit einem Satz: Alles Scheiße, außer Mutti. Und das Schlimmste ist: Wer aufbegehrt oder widerspricht, wird sofort einen Kopf kürzer gemacht, beziehungsweise für vogelfrei erklärt.

Interessanterweise hat es der Autor persönlich gar nicht so schlecht getroffen. Er wohnt in einem kleinen Ort an der Schlei, also in einer Gegend, von der viele sagen würden, dass er da wohnt, wo andere Urlaub machen. Das Landleben hat ihn allerdings nicht milder oder versöhnlicher gestimmt, im Gegenteil. Wie ich bei Matussek lese, leben wir in einem „neuen Faschismus“. Es würde mich nicht wundern, wenn er im Garten eine Grube für den Bunker hat ausheben lassen.

Olaf Scholz hat die AfD als „Schlechte-Laune-Partei“ bezeichnet. Das trifft es nur unzureichend. Schlechte Laune haben viele in der AfD auch, und das nicht zu knapp, aber was die Anhänger auszeichnet, ist der Blick in den Abgrund. Wenn ich die Bilder aus den brennenden Vororten in Frankreich sehe, denke ich: Gott sei Dank, weit weg. Der AfDler schaut in die Flammen und sieht sie als Menetekel: Was heute in Paris geschieht, passiert morgen in Duisburg und Essen!

Man kann sich nicht nur finanziell abgehängt fühlen, sondern auch kulturell. Rechts der Mitte ist eine vielfältige alternative Medienszene entstanden. Es gibt „Tichys Einblick“, „Publico“, „reitschuster.de“, dazu jede Menge Podcasts. Wer will, findet über die sozialen Medien sofort Gleichgesinnte, mit denen er sich austauschen kann. Aber das reicht den AfD-Anhängern nicht. Sie wollen, dass ihnen auch Leute, die sie eigentlich als Mainstream abgeschrieben haben, zuhören.

Die Gegenkultur der 70er war stolz darauf, ganz anders zu sein als die spießige und muffige Mehrheitskultur. Die jungen Rebellen von damals hätten sich lieber eine Kugel in den Kopf gejagt, als darüber zu jammern, dass die arrivierte Kritik sie nicht richtig beachte. So kann der AfDler nicht denken.

Sein bevorzugter Radiosender heißt Kontrafunk, aber mit einem Auge schielt er immer auf das, was die sogenannte Systempresse macht. Über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk redet er nur im Ton der Verachtung, Anne Will und Maybrit Illner gelten ihm als besonders schlimme Beispiele für Gesinnungsfernsehen. Doch nach jeder Anne-Will-Sendung wird Klage geführt, warum die eigenen Leute nicht eingeladen waren.

Eine Erklärung für diese Widersprüchlichkeit ist, dass viele Vertreter der neuen Rechten aus dem Establishment stammen. Bis heute findet sich in den Reihen der Partei ein hoher Anteil von Professoren, Anwälten und Journalisten. Die AfD war in ihren Führungsrängen nie eine Partei der einfachen Leute, sondern immer eher der Honoratiorenclub, wie man ihn bis zur Ankunft von Angela Merkel von CDU-Empfängen kannte.

Die Tragik des AfD-Anhängers ist, dass er nicht mehr dazugehört, aber von denen, die nach wie vor die Mehrheit bilden, so behandelt werden möchte, als sei er immer noch einer von ihnen. Ja mehr noch: Je stärker er sich abwendet, desto größer sein Wunsch nach Anerkennung. Daher schlägt die Aggressivität auch so schnell ins Weinerliche um. Und um-gekehrt der Jammer ins Aggressive.

Die Zeitungen fragen immer Politologen oder Extremismusexperten, wie man mit der AfD umgehen solle. Ich würde mal einen Therapeuten zurate ziehen. Selbst die eigenen Wähler trauen der Partei nicht zu, die anstehenden Probleme zu lösen, wie man lesen kann. Die Leute sehen Alice Weidel oder Tino Chrupalla an der Spitze und sagen sich offenbar: Mit denen wird das auch nichts. Trotzdem erklären 20Prozent in Umfragen, sie wollten ihnen ihre Stimme geben. Das ist nur noch psychologisch zu erklären.

© Silke Werzinger