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Gebt den Palis die Provence!

Alle reden von der Anerkennung Palästinas. Warum nicht Gaza nach Südfrankreich verlegen, mit Greta Thunberg als Präsidentin? Der Vorschlag ist nicht so absurd, wie er klingt. Betrachtet man die Idee vorurteilsfrei, zeigen sich viele Vorteile

Vor zwanzig Jahren hat mein Kollege Henryk M. Broder einen ebenso genialen wie simplen Vorschlag zur Lösung des Nahostkonflikts gemacht: Warum nicht Israel nach Deutschland verlegen? „Gebt den Juden Schleswig-Holstein!“, hieß der Text, in dem er seine Idee einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Copyright beim damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad lag. Statt weiter darauf zu bestehen, Israel von der Landkarte zu tilgen, hatte er eine Umsiedlung des „zionistischen Gebildes“ angeregt. Aber wie Broder zu Recht anmerkte: Nur weil ein Feind Israels den richtigen Einfall hat, muss man ihn nicht gleich verwerfen. Betrachte man die Idee vorurteilsfrei, zeige sich eine Reihe von Vorteilen.

Die Israelis würden nicht mehr ins Meer gejagt, sondern nur noch über das Meer geschickt, vom humanitären Standpunkt ein klarer Fortschritt. Die historische Bodenreform wäre die Rückkehr zum Verursacherprinzip – schließlich waren es die Deutschen, die mit der „Endlösung der Judenfrage“ die Schaffung eines eigenen Judenstaates wieder auf die internationale Tagesordnung setzten. Und mit einem Schlag wäre das größte Problem gelöst: die Sicherheit Israels. Kein arabisches Land würde es wagen, Deutschland anzugreifen.

Wie alle guten Ideen wurde auch diese zerredet und kleingeschrieben. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte den Vorschlag „vollkommen inakzeptabel“, was im Blick auf die weitere Entwicklung zumindest voreilig war. Ein paar Jahre später fand sie sich umstandslos bereit, eine Million Syrer in Deutschland anzusiedeln. Ich mag mich irren, aber mit der Verlegung Israels wären wir, glaube ich, besser gefahren.

Ich musste unwillkürlich an Broder und seinen Vorschlag denken, als ich die Bilder aus der UN-Vollversammlung in New York sah, wo sich Politgrößen wie der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer zur Schaffung eines Palästinenserstaates bekannten. Anerkennung jetzt, lautet der Ruf der Zeit, dem sich umgehend auch moralische Leuchttürme wie Luxemburg, Malta und Monaco anschlossen.

Verglichen mit der Anerkennung Palästinas als eigenständigem Staat ist die Broder-Ahmadinedschad-Initiative von geradezu bestechender Vernunft. Was immer man von Israel halten mag: Es verfügt immerhin über ein Parlament und eine Regierung. Bei dem künftigen Palästina ist nicht einmal klar, wo die Grenze des Staatsgebiets verlaufen soll oder wer die Staatsgewalt innehätte.

Die europäische Außenpolitik hat zur politischen Esoterik gefunden. Vielleicht bin ich zu altmodisch, aber ich halte es für bedenklich, wenn zwei der wichtigsten Wortführer Europas jeden Realitätssinn vermissen lassen. Was immer sie im Élysée-Palast oder in der Downing Street an bewusstseinserweiternden Drogen nehmen, man sollte diese schnellstens wieder unter Verschluss nehmen.Genauso gut könnte man Lummerland anerkennen. Oder La La Land. Der Kampf des kurdischen Volkes währt seit 40 Jahren. Die Kurden haben eine eigene Sprache, eine eigene Identität und im Irak sogar eine Art Staatsgebiet samt Hauptstadt. Warum Kurdistan verweigern, was man den Palästinensern gewährt? Auch die Katalanen träumen von einem eigenständigen Staat, und natürlich die Basken und Korsen.

Funfact: Wussten Sie, dass es in Taipeh, der Hauptstadt von Taiwan, bis heute weder eine diplomatische Vertretung Frankreichs noch Großbritanniens gibt? Wenn Sie googeln, werden Sie feststellen, dass Taiwan von lediglich zwölf Staaten anerkannt wurde, darunter Tuvalu und der Heilige Stuhl. In dem Fall müsste
man sich ja mit dem großen China anlegen statt mit dem kleinen Israel. Aber dazu haben weder Macron noch Starmer den Mut, da sind sie mit einem Mal ganz unterwürfig.

Ich bin grundsätzlich gegen Geschäfte auf Kosten anderer Leute. Warum sollen die Israelis ausbaden, was die Siegermächte verschlampt haben, als sie das britische Mandatsgebiet 1948 zwischen Juden und Arabern teilten? Wenn schon Anerkennung, dann richtig! Gebt den Palis die Provence, wäre meine Forderung.

Ich weiß, das wirkt auf den ersten Blick absurd. Aber wenn man länger darüber nachdenkt, liegen die Vorteile auf der Hand. Die Sicherheitsfrage wäre sofort gelöst. Die Mittelmeerlage garantiert einen ertragreichen Zitrusfruchtanbau, womit eine bescheidene, aber solide Ernährungsgrundlage gelegt wäre. Und Hand aufs Herz: Heißt es nicht immer, der Klimawandel werde weite Teile des Mittelmeerraums in eine Wüstenregion verwandeln? Wenn sich jemand mit Wüste auskennt, dann die Palästinenser.

Geld wäre ebenfalls genug da. Die grundgütige Frau von der Leyen hat bereits die Schaffung eines Palästina-Aufbaufonds in Aussicht gestellt. Statt das Geld nach Gaza zu schicken, wo es nur wieder in den Bau neuer Tunnelanlagen fließt, könnte man wunderbare Siedlungen am Mont Ventoux finanzieren.

Man müsste einige Vorkehrungen treffen, sicher. Nach Norden und Westen wäre ein ordentlicher Zaun vonnöten, um den Befürchtungen der Anrainer Rechnung zu tragen. Dass man Tür an Tür wohnt – so haben sie sich das im Auswärtigen Amt mit der Zweistaatenlösung selbstverständlich nicht vorgestellt. Ich sehe die Schlagzeilen in Deutschland vor mir: „Nachbar Hamas – kommt jetzt der Terror zu uns?“ Da muss man gegensteuern.

Ich hätte auch schon eine Idee, wer das neue Palästina führen könnte. Im Augenblick ist der ehemalige britische Premierminister Tony Blair für eine Art Übergangsregierung im Gespräch. Nichts gegen Blair und die Briten. Mit der Verwaltung ausländischer Protektorate kennt man sich in Großbritannien aus.

Aber ich finde, es ist an der Zeit, die Verwaltung in die Hand der Unterstützer zu legen. Deshalb mein Vorschlag: Greta Thunberg als Präsidentin, das hat sie sich verdient. Meine Wahl als Premierministerin wäre die UN-Chanteuse Francesca Albanese, die uns der „Spiegel“ als „Populistin der Herzen“ vorstellte (oder war es „Populistin der Menschenrechte“? Egal). Als deutscher Beitrag bieten sich Sawsan Chebli für das Außenministerium an und als Kulturstaatsministerin die Schauspielerin Enissa Amani, die gerade mit der Global Sumud Flotilla auf dem Weg nach Gaza ist.

Wie man lesen konnte, ist es in der Flotilla zu Unstimmigkeiten zwischen den Gaza-Fahrern gekommen. Eine Reihe palästinensischer Aktivisten hat den Ausschluss aller Schwulen und Lesben gefordert. Schwule würden die Werte der Gesellschaft antasten und Kinder in Situationen bringen, die jeder Palästinenser ablehne, erklärte eine Sprecherin. Die Anwesenheit von queeren Personen würde die heiligste Sache entweihen, schrieb ein anderer.

Auch hier hätte ich eine Lösung anzubieten. Solange die Sache nicht ausgestanden ist, legen wir den Kampf für ein freies Palästina komplett in westliche Hände. Dass bei den Feierlichkeiten zur Anerkennung aus Freude über die Entscheidung mehrere Gefangene mit Kopfschuss erledigt wurden, war der Sache nicht hilfreich. Dem Palästinenser fließt schnell das Herz über, man kann es verstehen. Aber im Westen gibt es halt gewisse Empfindlichkeiten, auf die man Rücksicht nehmen muss.

© Silke Werzinger

Worüber reden sie?

Olaf Scholz ruft laufend bei Wladimir Putin an, um ihm zu sagen, wie isoliert er doch sei. In der Psychologie nennt man das paradoxe Kommunikation: Das, was man tut, widerlegt das, was man sagt

Vor zwei Wochen hat Olaf Scholz wieder mit Wladimir Putin telefoniert. 80 Minuten dauerte das Gespräch. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron war ebenfalls zugeschaltet. Neuauflage des Normandie-Formats, mit dem schon Frank-Walter Steinmeier die Russen vom Frieden überzeugen wollte – diesmal als Teams-Meeting.

Wie redet man mit einem Kriegsverbrecher? Geht man zusammen den Frontverlauf durch? Unterrichtet man ihn über die neuesten Waffenlieferungen, damit er davon nicht erst aus dem Fernsehen erfährt? Wechselt man zum Small Talk, wenn der Gesprächsfluss zu stocken droht? 80 Minuten sind eine lange Zeit. Viele Paare sprechen in einer Woche nicht so viel miteinander.

Der Kreml hat anschließend eine Zusammenfassung der für die russische Seite wichtigsten Punkte veröffentlicht. Danach hat Putin die Gelegenheit genutzt, seine beiden Gesprächspartner mit neuen Drohungen zu überziehen. Im Drohen hat er inzwischen eine gewisse Übung. Wenn der Westen nicht die Sanktionen beende, werde Russland alle Getreidelieferungen blockieren. Hunger als Waffe, das gab es schon bei Stalin. Hat damals vier Millionen Menschen das Leben gekostet. Die gute Nachricht aus deutscher Sicht: Anders als die Atombombe trifft ein Getreideboykott nur die Dritte Welt.

Es heißt, solange man miteinander rede, werde nicht geschossen. Putin zeigt, dass beides mühelos gleichzeitig geht. Während er mit Scholz und Macron redet, lässt er seine Soldateska morden, vergewaltigen und brandschatzen. Vielleicht stachelt es ihn sogar an, dass die beiden ihn ständig anrufen. Es soll Menschen geben, die einen perversen Reiz empfinden, anderen ihre Macht zu demonstrieren, während sie gleichzeitig Höflichkeiten austauschen.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat vor wenigen Tagen eine bemerkenswerte Erklärung für die Telefondiplomatie geliefert. Die Gespräche dienten dazu, Putin deutlich zu machen, wie isoliert er sei. Inzwischen sei man dabei ein gutes Stück vorangekommen. Klingbeil wertet die Telefonate daher als Erfolg.

Das ist eine Begründung, über die es sich nachzudenken lohnt. Der deutsche Bundeskanzler sucht also regelmäßig den Kontakt zu einem Mann, der sich aus allen völkerrechtlichen Bindungen gelöst hat, um ihm zu sagen, dass niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben will? In der Psychologie nennt man das paradoxe Kommunikation: Das, was man tut, widerlegt das, was man sagt.

Bei kleinen Kindern ist es der sicherste Wege, sie in eine Psychose zu treiben. Auch bei Erwachsenen kann dieses Verhalten Verhaltensstörungen auslösen. Ich vermute allerdings, dass Putin über den Punkt hinaus ist, an dem man ihn noch mit Psychotricks in die Enge treiben kann. Wer die Kreml-Diplomatie durchlaufen hat, der übersteht auch 80 Minuten mit dem Scholzomat. Das ist einer der Vorteile, wenn man im KGB aufgewachsen ist.

Putin hält den Westen für zu weich, zu dekadent, zu verwöhnt. Wenn man einem Bericht in der „Washington Post“ glauben darf, der sich auf Quellen im russischen Machtapparat beruft, dann ist der Kreml-Chef davon überzeugt, dass die Zeit für ihn arbeitet. Je länger sich der Krieg hinzieht, so sein Kalkül, desto größer die Chance, das Kriegsglück zugunsten Russlands zu wenden.

Demokratische Gesellschaften haben einen strukturellen Nachteil gegenüber Diktaturen: Sie müssen auf die Meinung der Öffentlichkeit Rücksicht nehmen. Und die Öffentlichkeit ist wankelmütig. Das war in Vietnam so. Es hat sich in Afghanistan wiederholt. Es könnte auch in der Ukraine so kommen.

Welches Signal vernimmt Putin daher, wenn Scholz um einen Telefontermin bittet? Ein Signal der Entschlossenheit und Stärke, dass man im Westen nicht zurückweichen werde? Oder eher einen Hinweis auf steigende Nervosität im Lager der Gegner? Ich bin kein Kreml-Experte, aber ich tippe auf Letzteres.

Man müsse das Fenster für Verhandlungen offen halten, heißt es. Am Ende könne der Konflikt nur auf diplomatischem Wege gelöst werden. Oder wie SPD-Chef Lars Klingbeil sagt: „Der Krieg wird am Verhandlungstisch entschieden.“

Klingt super. Wer ist schon gegen Diplomatie? Es gibt allerdings ein Problem, das sich auch nicht mit der geduldigsten Dauertelefonie aus dem Weg räumen lässt: Alle diplomatischen Bemühungen setzten voraus, dass derjenige, mit dem man verhandelt, sich anschließend an das Verhandlungsergebnis gebunden fühlt. Wenn Wladimir Putin die Welt eines gelehrt hat, dann dass er keine Vereinbarung als verbindlich betrachtet, auch nicht die, die seine eigene Unterschrift trägt. Jeder Vertrag, den er schließt, ist nur so lange etwas wert, wie er meint, dass es ihm nutzt.

Man ist nicht auf Vermutungen angewiesen, was Putin vorhat, sollte es ihm gelingen, die Ukraine zu unterwerfen. Anfang April erschien bei der staatlichen Nachrichtenagentur „Ria Novosti“ ein Text mit der Überschrift „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“. Darin wird im Detail das Programm für die Zeit nach dem Endsieg ausgebreitet. Von ethnischen Säuberungen ist die Rede, von Deportationen und Massenerschießungen. Nicht nur die Führungsschicht gilt in Moskau als Nazibrut, die eliminiert gehört, sondern alle Ukrainer, die eine Waffe in die Hand genommen haben.

Wer denkt, Putin habe sich nur in der Wortwahl vergriffen, als er davon sprach, Feinde des Volkes wie Fliegen zu vernichten, glaubt auch noch an den kleinen Häwelmann. „Die Gegner des Buchstaben Z müssen verstehen, dass sie nicht verschont bleiben. Es ist ernst: Konzentrationslager, Umerziehung, Sterilisation“, sagt der Kreml-Propagandist Karen Georgijewitsch Schachnasarow zur besten Sendezeit im Staatsfernsehen. Die Gastgeberin einer beliebten Talkshow bevorzugt die Idee, gefangen genommene Ukrainer auf Marktplätzen auszustellen, wo man dann mit ihnen anstellen darf, „was immer man will“.

Man müsse Putin einen gesichtswahrenden Ausweg bieten, sagt Emmanuel Macron. Doch wie sollte der aussehen? Jeden Waffenstillstand würde die russische Seite nutzen, um sich so weit zu reorganisieren, dass sie mit frischer Kraft vollenden kann, was sie angefangen hat. Realistischer scheint mir der amerikanische Ansatz, Russland so weit zu schwächen, dass es für die nächsten vier, fünf Jahre nicht in der Lage sein wird, einen Nachbarn zu überfallen. Das wäre allerdings genau die Demütigung, die der französische Präsident unbedingt vermeiden will.

Es hat seinen Grund, warum Psychologen dazu raten, ab einem bestimmten Punkt jeden Kontakt zu einem Gewalttäter abzubrechen. Wer weiter die Hand ausstreckt, trotz schockierendster Grenzüberschreitungen, zeigt damit, dass er es mit den angekündigten Strafen nicht wirklich ernst meint. Aber vielleicht geht es ja genau darum: Putin zu signalisieren, dass man sich schon irgendwie einig wird, wenn er an den Verhandlungstisch zurückkehrt.

Ein Satz des Bundeskanzlers ist mir in Erinnerung geblieben. „Wo Putin den Konflikt sucht, stößt er auf unseren Konsens“, erklärte er im April im Bundestag. „Konsens“ hat mehrere Bedeutungen, die gebräuchlichste ist „Einverständnis“, „Entgegenkommen“. So war es vermutlich nicht gemeint, aber manchmal verrät sich der Wunsch im Versprecher.

©Michael Szyszka