Die Mutter des Autors wurde am 26. April mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingewiesen. Seitdem ringen er und sein Bruder mit den Lockdown-Regeln, die jeden Kontakt verbieten
Eine Frau steht in der Küche und füttert die Katze. Es ist 10 Uhr morgens. Am Mittag wird sie ihren Mantel überziehen und sich auf den Weg in die kleine Stadt machen, um wie jeden Tag beim Italiener ihr Mittagessen abzuholen. Sie ist 84 Jahre alt. Sie hat Mühe, sich an Dinge zu erinnern, die man ihr erst vor Kurzem erzählt hat. Manchmal wird sie dann ärgerlich. Aber wenn man sie fragen würde, wie es ihr geht, würde sie sagen, dass sie sich nicht beklagen könne.
Plötzlich wird ihr unwohl, so als ziehe eine Wolke im Kopf auf. Das Telefon klingelt, einer der Söhne ist am Apparat. Du redest so komisch, Mama, sagt er, was ist los?
Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in einem Krankenzimmer. Fremde Menschen treten an ihr Bett und machen sich an ihr zu schaffen. Sie fragt nach ihrem Zuhause, ihren Kindern. Die werde sie leider für längere Zeit nicht sehen können, sagt man ihr.
Die ältere Frau ist meine Mutter. Sie hat am 26. April einen Schlaganfall erlitten. Ich habe es in meiner letzten Kolumne erwähnt, als ich über die Unerbittlichkeit der Corona-Regeln schrieb. Wenn davon die Rede ist, dass man nicht voreilig öffnen dürfe, wird oft so getan, als gehe es darum, dass die Geburtstagsfeier pünktlich stattfinden kann oder der Jogger nach 22 Uhr wieder auf die Straße darf. Ich glaube, viele machen sich nicht bewusst, welche dramatischen Einschränkungen mit dem Lockdown verbunden sind, der nach wie vor in weiten Teilen Deutschlands gilt.
Ich dachte, das Kontaktverbot in der Klinik wäre temporär. Irgendjemand werde schon ein Einsehen haben, dass dies für eine alte Frau, die plötzlich aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurde, ein untragbarer Zustand ist. Aber es hatte niemand ein Einsehen. Alles, was wir zu hören bekamen, war, dass die Corona-Regeln grundsätzlich keine Besuche von Angehörigen erlauben würden. Ob man die Mutter nicht im Rollstuhl vor die Tür schieben könne, fragte mein Bruder. Nicht möglich, sagt die Stationsärztin. Sie wissen, die Ansteckungsgefahr! Aber die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken, tendiert draußen doch gegen null. Es tut uns leid, keine Ausnahme möglich.
Mein Bruder ist einmal geimpft, meine Mutter hat bereits ebenfalls eine erste Impfung erhalten. Spielt keine Rolle. Könnte man die Mutter nicht ein zweites Mal impfen, damit sie in die Gruppe derjenigen aufrückt, für die gelockerte Regeln gelten? Für Impfungen ist das Krankenhaus nicht zuständig. Außerdem gibt es auch bei vollständig Geimpften ein Restrisiko. Daher weiterhin: strenges Besuchsverbot.
Wir versuchen, uns aus den Bruchstücken an Informationen, die wir erhalten, ein Bild zu machen. Erst heißt es: ein leichter Schlag, man müsse sich keine Sorgen machen. Dann ist plötzlich von Lähmungserscheinungen die Rede. Ach, das hat Ihnen niemand gesagt? Ja, Lähmung der rechten Seite, das Sprachzentrum ist ebenfalls betroffen. Damit entfällt auch die Möglichkeit zum Telefonat. Später heißt es, meine Mutter habe im Krankenhaus eine Hirnblutung erlitten, Folge einer dort erfolgten medikamentösen Behandlung.
Das ist also die Lage: eine 84-jährige Frau, mutmaßlich verwirrt und geschockt, ohne Aussicht auf ein tröstendes Gespräch oder die Chance, sich mit jemandem, den sie kennt, über die Risiken einer Behandlung zu beraten. Angeblich hat man ihr empfohlen, einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen, da man Herzrhythmusstörungen festgestellt hat. Es heißt, sie habe die Operation abgelehnt. Ob sie wusste, was sie ablehnt?
Ich erzähle das nicht, weil ich Mitleid schinden will. Es gibt Menschen, die es noch schlimmer getroffen hat. Meine Schwägerin berichtet am Telefon von einer Freundin, die beide Eltern verloren hat, ohne dass sie Abschied hat nehmen können. Sie liege nachts manchmal wach und frage sich, wie die letzten Momente ihrer Eltern ausgesehen haben mögen, in der Isolation, ohne Gelegenheit, noch einmal die Hand eines vertrauten Menschen zu spüren.
Inzwischen sind immerhin die Palliativpatienten vom Kontaktverbot ausgenommen. So gesehen hat man Pech, wenn man zu langsam oder zu schnell stirbt. Was in den Krankenhäusern passiere, sei furchtbar, sagt die Schwägerin, und sie ist kein sentimentaler Mensch. Sie ist selbst Ärztin.
Ich erzähle das, weil ich es leid bin, dass so getan wird, als habe der Lockdown keine Opfer zur Folge. Ich bin immer wieder sprachlos, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen, die niemanden an die Pandemie verloren haben, im Namen der Corona-Opfer sprechen.
Ich habe in der erwähnten Kolumne beschrieben, was passiert, wenn man von der Berichterstattung in den Kampagnenmodus wechselt. Ich erwähnte dabei auch den „Spiegel“, der mit einer Reihe von Prognosen spektakulär danebenlag. Am Nachmittag der Veröffentlichung meldete sich der Ressortleiter der Wissenschaftsredaktion, Olaf Stampf, auf Twitter. „Wenn 70000 Tote seit Oktober keine furchtbare Zahl ist, weiß ich auch nicht“, schrieb er. Hat Olaf Stampf einen Angehörigen verloren, fragte ich mich, als ich das las. Weiß er, wie es sich anfühlt, wenn erst der Vater stirbt und dann die Mutter?
Mein Vater ist im April letzten Jahres gestorben. Er lebte in einem Pflegeheim. Er hat sich furchtbar gegen den Umzug gewehrt, wie viele alte Menschen, die wissen, dass der Schritt unumkehrbar ist. Fast ein Jahr lang hat er gebettelt, dass man ihn wieder nach Hause lasse. Irgendwann hat er sich gefügt. Was ihn aufrecht hielt, waren die Besuche meiner Mutter. Morgens um 10 Uhr kam sie, um ihm beim Frühstück zu helfen. Sie saß neben ihm, wenn er in der Zeitung las, und auch, wenn er in seinem Rollstuhl döste.
Als die erste Welle Deutschland heimsuchte, hieß es, niemand außer dem Pflegepersonal dürfe das Heim betreten. Man kann der Heimleitung keinen Vorwurf machen, sie hat alles getan, was in ihrer Macht stand. Als meine Mutter wieder zu meinem Vater durfte, gab es den Mann, den sie verlassen hatte, nicht mehr. Wäre ich pathetisch, würde ich sagen: Das Virus hat ihn ausgelöscht, wie eine Kerze, der man den Sauerstoff entzieht. Zehn Tage später war mein Vater tot.
Ist er ein Corona-Opfer? Gehört er zu denen, die der bayerische Ministerpräsident als die „wahren Opfer“ der Krise bezeichnet hat? Was ist das überhaupt, ein wahres Opfer?
Der Gesundheitsminister hat einen Intensivpfleger in die Bundespressekonferenz eingeladen, damit er aus seinem Alltag berichtet. Das Video des Auftritts wurde tausendfach geteilt. Ich bewundere Leute, die Leben retten. Andererseits: Ist es nicht die Aufgabe eines Intensivpflegers, schwer kranke Menschen zu versorgen, unabhängig von der Art der Erkrankung?
Man könnte sich auch fragen: Warum lädt Jens Spahn nicht einen Kinder- und Jugendpsychiater ein, der Auskunft geben könnte, wie es auf seiner Station aufgrund des Lockdowns aussieht? Oder einen Seelsorger, der berichtet, wie es ist, wenn die Menschen einsam sterben, weil die Regeln es so verlangen? Weil man dann plötzlich einen anderen Blick auf die verhängten Maßnahmen bekäme?
Ich fürchte, wenn ich noch einmal höre, dass den Leuten, die für Lockerungen sind, Menschenleben egal seien, muss ich speien. „80000 Menschen tot“, brüllte der ZDF-Moderator Jan Böhmermann im Streit um die Videos, mit denen eine Reihe von Schauspielern gegen die Corona-Maßnahmen protestierte, ins Netz. Nur das: „80000 Menschen tot“. So, als sei die Zahl der Menschen, die seit dem Beginn des Lockdowns an Covid gestorben sind, ein Argument, gegen das sich jeder Einwand erübrige.
Hat Jan Böhmermann einen geliebten Menschen verloren? Trauert er um den Verlust? Oder ist sein Auftritt nur ein Stunt, eine der Aktionen, mit denen er sich im Gespräch hält? Ein Ressortleiter des Redaktionsnetzwerkes RND schrieb, die Schauspieler würden die Angehörigen verhöhnen. Ich weiß nicht, welche Angehörigen der Mann kennt. Ich fühlte mich nicht verhöhnt.
Am Dienstag durfte mein Bruder meine Mutter nach 16 Tagen sehen. Die Oberärztin sagte, ihr Zustand sei so traurig, dass er nahe an dem einer Palliativpatientin sei, da könne man eine Ausnahme machen. Er durfte eine Stunde lang ihre Hand halten. Bei der Verabschiedung erinnerte man ihn daran, dass dies wirklich eine einmalige Ausnahme gewesen sei.
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