Monat: Oktober 2025

All Eyes on Hamburg!

„Klimaschutz wird endlich bezahlbar“, hieß es vor dem Volksentscheid zur Klimaneutralität in Hamburg. Jetzt ist von 60 Milliarden Euro die Rede. Hafen, Airbus, Mieten und Co. – jetzt zeigt sich der ganze Wahnsinn des Klimaentscheids.

Ach, Hamburg, Perle des Nordens, Du herbe Schöne. Was haben sie nicht alles über Dich geschrieben: Dass Du die Seele eines Pfeffersacks besäßest, dass Krämergeist und Pfennigfuchserei Dich regieren würden. „Wahr ist es ein verludertes Kaufmannsnest hier. Huren genug, aber keine Musen“, schrieb Heinrich Heine, der undankbare Reimeschmied, bevor es ihn ins lotterhafte Paris zog.

Und nun? Nun bist Du das Leuchtfeuer der Klimabewegten, Hoffnung aller Niedergedrückten und Verzweifelten, die eben noch in Erwartung des nahen Klimatods ihr Dasein fristeten.

Was für ein machtvolles Signal, das von der Hansestadt ausgeht, welches Zeichen der Ermutigung für die Welt. Alles, wofür die Klimabewegung auf die Straße gegangen war, schien zu Staub zerfallen, das 1,5-Grad-Ziel fernes Echo besserer Zeiten. Und jetzt: Der Rollback ist gestoppt, die CDU und mit ihr alle Neinsager beschämt. All Eyes on Hamburg!

Kein Wunder, dass sie bei den Grünen vor Glück ganz aus dem Häuschen sind. „Wir haben Geschichte geschrieben, eine Mehrheit der Hamburger:innen hat beim Volksentscheid für ein neues Klimagesetz gestimmt“, triumphierte Luisa Neubauer. „Nach mehr als zweieinhalb Jahren Arbeit, unzähligen Flyern und Haustürgesprächen hat Hamburg nun das ambitionierteste und sozialverträglichste Klimaschutzgesetz in ganz Deutschland“, jubilierte Fridays for Future über den „wahnsinnig großen Erfolg für die Zivilgesellschaft“.

Nun gut, die Mehrheit der Hamburger ist am Wahltag streng genommen zu Hause geblieben. Von den Wahlberechtigten haben tatsächlich lediglich 23,2 Prozent für mehr Klimaschutz gestimmt. Die Sache wird auch nicht ganz billig. Zwischen 60 und 80 Milliarden wird die Operation kosten, wie man jetzt lesen kann. Das klingt zugeben etwas anders als das Versprechen, das auf den Plakaten prangte. „Klimaschutz wird endlich bezahlbar“, stand da. Aber mei, so ist das halt, wenn man fürs große Ganze streitet, da kann man nicht in jedem Detail sattelfest sein.

Die Ungläubigen haben auch am Brexit gezweifelt. „Take back control“, hieß der Slogan auf der englischen Seite des Kanals. Ströme von Geld würde der Bruch mit Europa in die britische Staatskasse spülen, so hatten es die Befürworter dieses Volksentscheids versprochen. Die Sanierung des maroden Gesundheitssystems? Ein Klacks, den man aus den gesparten EU-Milliarden wie nebenbei bezahlen werde.

Okay, auch beim Brexit sind noch ein paar Anfangsschwierigkeiten zu überwinden. Aber der echte Brexiteer weiß: Das gelobte Land kommt – wenn nicht heute, dann morgen. Da können die Kleingläubigen noch so viel daran herumkritteln und herummäkeln.

Für alle Zweifler und Zyniker sieht auch der Volksentscheid in Hamburg nach einem Stück aus dem Tollhaus aus. Wir reden immerhin von der größten Industriestadt Deutschlands und einem der wenigen Nettozahler im Länderfinanzausgleich. Wenn Hamburg ausfällt, bleiben neben dem notorisch prosperierenden Bayern nur noch Baden-Württemberg und Hessen.

Airbus kann sich schon mal nach einem neuen Standort umsehen. Flugzeuge wird man auch in 15 Jahren nicht klimaneutral produzieren können. Für das Aluminium und Kupfer verarbeitende Gewerbe heißt es ebenfalls arrivederci. Der berühmte Hamburger Hafen, neben Rotterdam Powerhouse des Nordens und wichtigster Geldbringer der Stadt, muss sich leider auf Schrumpfung einstellen.

Man kann auch mit E-Fuels und Wasserstoff Containerschiffe betreiben. Aber beide Varianten stehen bislang nicht einmal als Prototyp zur Verfügung. Und dass sich die Chinesen entscheiden werden, vom Diesel Abschied zu nehmen, damit sie in Zukunft weiter Hamburg ansteuern dürfen, ist eher unwahrscheinlich.

Auch das Versprechen des sozialverträglichsten Klimaschutzgesetzes in ganz Deutschland steht auf tönernen Füßen. Allein bei der städtischen Saga, mit 140.000 Wohnungen das größte Immobilienunternehmen der Stadt, stehen jetzt Investitionen von 1,5 Milliarden Euro ins Haus. Fachleute schätzten, dass die Miete für eine durchschnittliche Wohnung um 350 Euro im Monat steigen wird, und da haben wir noch nicht von der Umrüstung des Fuhrparks gesprochen.

Die Krankenschwester mit dem Drei-Liter-Lupo kann sich schon mal einen Termin zur Stilllegung buchen. Da die Anschaffung eines E-Autos trotz Kaufprämie für sie eher nicht infrage kommt, bleibt der Umstieg aufs Fahrrad. Aber man soll ja eh mehr an die frische Luft.

Langsam dämmert auch den Politikern in Hamburg, dass die Nummer etwas groß geraten ist für den Stadtsäckel. „Allein werden wir es nicht packen“, erklärte die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank nach dem Wahlausgang und erbat umgehend Hilfe aus Berlin. Das klang nicht mehr nach „Klimaschutz wird endlich bezahlbar“, sondern eher wie der verzweifelte Aufschrei einer Mittvierzigerin, die sich im Überschwang der Gefühle in den Fummel geschmissen hat, um mit dem Latin Lover durchzubrennen, und dann am Morgen verkatert aufwacht und feststellt, dass der Beau mit den Ersparnissen durchgebrannt ist.

Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass viele Hamburger für den Klimaentscheid gestimmt haben, damit sie endlich mal als cool gelten. Verstehen Sie mich nicht falsch, Hamburg ist eine wunderbare Stadt. Ich habe dort die ersten 25 Jahre meines Lebens verbracht. Aber verglichen mit anderen Großstädten ist es doch eher verschlafen. Selbst München ist dagegen eine Partyhochburg, von Berlin gar nicht zu reden.

Wenn der Hamburger einen draufmacht, trinkt er einen Aperol Spritz mehr, als ihm guttut, und ist dann ganz erschrocken, wenn er aus der Rolle fällt. Seine Vorstellung vom wilden Leben beschränkt sich darauf, dem Fahrradhändler 50 Euro zuzustecken, damit der den Motor beim Lastenfahrrad so pimpt, dass er mehr als 25 Stundenkilometer schafft.

Dank der Klimawahl wissen wir jetzt auch, wo die Zivilgesellschaft wohnt. Am Morgen nach der Abstimmung postete der Finanzsenator Andreas Dressel ein Schaubild der Mehrheitsverhältnisse. Die Viertel, in denen die Zustimmung über 50 Prozent gelegen hatte, waren hellblau markiert, die Gegenden, in denen die Mehrheit anderes für wichtiger hielt, dunkelblau.

Die Grenze zwischen Zustimmung (hellblau) und Desinteresse (dunkelblau) verlief dabei ziemlich genau zwischen Innenstadt und Außenbezirk. Zur Ehrenrettung des Finanzsenators muss man sagen, dass er zu den wenigen gehört hatte, die vor einem Ja zum Klimaentscheid gewarnt hatten.

Dass die Auseinandersetzung ums Klima auch eine Klassenfrage ist, hat man schon bei den Protesten der „Letzten Generation“ sehen können. Die Aktivisten, die sich auf der Straße anklebten, waren bereits am Vornamen als Angehörige der höheren Schichten zu erkennen.

Niemand in Hamburg-Harburg oder Hamburg-Billstedt nennt seine Kinder Yannik oder Annika. Umgekehrt sind Vanessa, Justin und Jason im Kader von Fridays for Future eher selten vertreten.

Man darf gespannt sein, wie das Experiment weitergeht. Ich erwarte jetzt ein strenges Südfrüchte-Verbot für alle Innenstadtlagen und Flüge nach Mallorca nur noch auf Bezugsschein. Steckrübe und Kohl sind im Winter ebenfalls sehr bekömmlich. Und man will ja schließlich mit gutem Beispiel vorangehen, nicht wahr? All Eyes on Hamburg!

Im Schattenreich

Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Es sei denn, Sie sind bei einer linken NGO beschäftigt. Dann dürfen Sie mit staatlicher Unterstützung sogar dafür werben, missliebigen Journalisten mal so richtig auf die Tasten zu hauen.

Ende September veranstaltete die Linkspartei im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick ein Treffen, auf dem es darum ging, wie man die Redaktion der Online-Plattform „Apollo News“ aus ihren Redaktionsräumen vertreiben könne. „Apollo News“ ist eine der journalistischen Neugründungen, die parallel zum Aufstieg der AfD entstanden sind.

Es gibt keine Verbindung zur Partei, die Redaktion finanziert sich ausschließlich aus privaten Quellen. Aber die Themenauswahl richtet sich, wie bei „Nius“ oder „Tichys Einblick“, auch an Menschen, die mit der AfD sympathisieren.

Zu der Veranstaltung, die unter dem Motto „Apollo News: die rechte Redaktion in unserem Kiez“ stand, waren 50 Zuhörer gekommen. Zum Auftakt wurden Flyer verteilt, in denen festgehalten wurde, dass Alt-Treptow ein bunter Kiez sei, in dem „braune Medien“ nichts zu suchen hätten. Dass man es nicht beim guten Zureden bewenden lassen wollte, war schon an der Wortwahl erkennbar.

„Den Rechten auf die Tasten treten“ lautete die Überschrift über dem Aufruf. An anderer Stelle war davon die Rede, dass man es den Redakteuren im Stadtteil „ungemütlich“ machen müsse. Dazu wurden die Adresse sowie ein Foto des Redaktionsgebäudes herumgereicht.

Der Bezirksvorsitzende der Linken hatte sich für den Abend Verstärkung geholt. Zu den Experten, die eingeladen waren, um gemeinsam zu überlegen, wie man einer weiteren Berichterstattung des Presseorgans „einen Riegel vorschieben könne“, zählte Kira Ayyadi, Mitarbeiterin der Berliner Amadeu Antonio Stiftung.

Wie man einem Protokoll der Sitzung entnehmen kann, rief Frau Ayyadi dazu auf, sich gegen die Redaktion zu „wehren“. Sie wiederholte die Forderung, wonach man es „Apollo News“ in Alt-Treptow ungemütlich machen müsse. Dass Pressefreiheit grundgesetzlich geschützt ist, schien der Expertin in dem Moment entfallen zu sein.

An dieser Stelle braucht es vielleicht den Hinweis, dass es sich bei der Amadeu Antonio Stiftung nicht um irgendeine Stiftung handelt, sondern um das größte Hätschelkind der deutschen Politik. Keine Nichtregierungsorganisation, wie diese Vereine im Fachjargon heißen, erhielt in den vergangenen Jahren so viel Geld wie die NGO aus Berlin-Mitte.

Allein 2023, dem letzten Jahr, zu dem es verlässliche Zahlen gibt, belief sich die Förderung auf über sechs Millionen Euro. Damit dürfte die Amadeu Antonio Stiftung als die erste Nichtregierungsorganisation gelten, deren Personaletat komplett von einer Regierung übernommen wird.

Steuergeld für eine Veranstaltung, in der zur Einschränkung der Pressefreiheit aufgerufen wird? Das ist selbst in der für ihre Parteilichkeit bekannten NGO-Szene nicht alltäglich. Wer allerdings in den rot-grünen Leitmedien nach einer Meldung suchte, musste den Eindruck gewinnen, das Treffen habe nie stattgefunden. Im Schattenreich des NGO-Staates hält man zusammen.

„Demokratie leben“ heißt das Programm, unter das auch die Amadeu Antonio Stiftung fällt. Um große Worte ist man hier nie verlegen. Und wo die Demokratie verteidigt wird, ist selbstverständlich auch kein Einsatz zu groß und keine Förderung zu großzügig. Man darf halt nur nicht so genau hinschauen – weder beim Geld noch bei den Selbsterklärungen.

Tatsächlich fürchten die Beteiligten nichts so sehr wie Nachfragen. Als die CDU nach der Bundestagswahl einen Fragenkatalog im Bundestag einbrachte, in dem sie Aufklärung über die Finanzierung verlangte, drohte die SPD mit Abbruch der Koalitionsverhandlungen. Wenn die Union die Anfrage nicht sofort zurückziehe, werde es keine Gespräche geben, erklärte SPD-Chef Lars Klingbeil. Seitdem hat man von den Fragen auch nie wieder etwas gehört.

Vor ein paar Monaten hat der PR-Berater Hasso Mansfeld mit ein paar Gleichgesinnten aus dem liberalen Umfeld einen neuen Anlauf unternommen. Initiative Transparente Demokratie heißt der Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Licht in den Förderdschungel zu bringen. Hätte er es lieber gelassen!

LobbyControl bezichtigte die Aufklärer, mit der Frage nach der Vergabe der Gelder das Geschäft „rechtspopulistischer bis extrem rechter Medien und Kanäle“ zu betreiben. Transparency International veröffentlichte eine Erklärung, indem sie den Vereinszweck in die Nähe von „Verschwörungsmythen“ rückte:

„Mit Sorge betrachten wir eine Argumentation, die geeignet ist, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen pauschal unter Verdacht zu stellen und das Vertrauen in demokratische Institutionen zu untergraben.“ Wohlgemerkt, LobbyControl und Transparency International wurden ins Leben gerufen, um verdeckte Geldflüsse aufzuspüren. Darauf gründet bis heute ihr Ruf.

Anderseits: Was ist die Gründung einer NGO gegen den Unterhalt einer Parteistiftung? Wenn es so etwas wie einen heiligen Gral der verdeckten Politfinanzierung gibt, dann sind es die Stiftungen der im Bundestag vertretenen Parteien. Die Summen, die hier zusammenlaufen, erreichen noch einmal eine ganz andere Dimension. 687 Millionen Euro waren es allein im vergangenen Jahr, dagegen verblasst jedes Demokratie-leben-Programm.

Die Parteistiftung ist die Mutter aller NGOs. Wer anderweitig nicht mehr unterzubringen ist, darf hier auf eine letzte Sinekure hoffen. Praktischerweise unterhalten die großen Stiftungen ein ausgedehntes Netz an Auslandsvertretungen, sodass man als verdienter Parteiarbeiter dann gegebenenfalls auch unter Palmen an der Festigung der Demokratie arbeiten kann.

Eine besondere Rolle kommt der Quersubventionierung des politischen Vorfeldes zu. Vor allem die grüne Heinrich-Böll-Stiftung sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linkspartei haben es zu wahrer Meisterschaft gebracht. Berlin ist für Alteingesessene immer noch ein vergleichsweise günstiges Pflaster. Aber so günstig, dass man mit den Honoraren der „taz“ und einem gelegentlichen Engagement beim „Deutschlandfunk“ über die Runden kommt, ist es auch nicht mehr.

Erst die Mischkalkulation aus Honoraren, sporadischen Preisgeldern und Stiftungsauftritten macht ein Überleben als linke Ich-AG möglich. So geben sich bei Podiumsdiskussionen und Seminaren immer die gleichen Leute die Klinke in die Hand. Da diskutiert dann die Feministin Teresa Bücker mit der Autorin Mithu Sanyal über „Menschenrechte und Schutzbedarf“ beziehungsweise die Feministin Sanyal mit der Autorin Bücker über Schutzbedarfe und Menschenrechte.

Das Einzige, was den Frieden stören könnte, ist die erwartete Zahlung an die AfD. Nach Lage der Dinge steht der Erasmus-Desiderius-Stiftung ein ordentlicher Geldsegen ins Haus. Die Rede ist von 18 Millionen Euro pro Jahr, dagegen kommt dann keine Demo gegen rechts mehr an. Deshalb wird um die Auszahlung auch so hart gerungen.

Die Amadeu Antonio Stiftung hat sich jetzt übrigens ebenfalls zu Wort gemeldet. Den Aufruf, rechten Medien auf die Tasten zu treten, müsse man als Metapher verstehen, die sich ganz eindeutig nicht gegen Menschen richte, heißt es in einer Erklärung – die Kritik daran sei „ein kalkulierter Angriff auf die Zivilgesellschaft“.

Selbst die Deutsche Journalisten-Union, auf die links der Mitte normalerweise immer Verlass ist, hatte von einem Angriff auf die Pressefreiheit gesprochen. Aber was soll’s? Solange man Teil des großen NGO-Reichs ist, kommt man mit allem durch, auch mit der Einschüchterung von Journalisten, die einem nicht passen.

© Michael Szyszka

Wann sind Frauen wirklich glücklich?

Warum bleiben auch gut gebildete Frauen zu Hause oder begeben sich freiwillig in die sogenannte Teilzeitfalle? Die SPD sagt, weil das Steuerrecht sie dazu ermuntert. Aber was, wenn Frauen einfach cleverer sind als Männer?

Die SPD will gegen überholte Rollenbilder vorgehen, so hat es die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Wiebke Esdar, angekündigt. Als überholt gilt der SPD eine Familie, in der ein Elternteil zu Hause bleibt, um sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. Nur die Familie, in der beide Ehepartner voll arbeiten, lebt auf der Höhe der Zeit und damit konform mit den Werten der Sozialdemokratie, so muss man Frau Esdar verstehen.

Woran es liegt, dass die Ehe bei vielen Deutschen in der Vormoderne stecken geblieben ist? Auch darauf hat die SPD eine Antwort. Ihre Experten sagen, dass das Ehegattensplitting an der misslichen Lage schuld sei, weil es alte Rollenbilder zementiere. Wegen des Steuervorteils lohne es für Frauen oft nicht, mehr zu arbeiten. Weg mit dem Ehegattensplitting, lautet deshalb die Forderung der Stunde.

Um allen Verdächtigungen gleich die Spitze zu nehmen: Was die Zementierung überholter Rollenbilder angeht, habe ich mir ausnahmsweise nichts vorzuwerfen. Bei der häuslichen Verteilung der sogenannten Care-Arbeit bin ich klar in Führung.

Ich bin der Erste, der aufsteht, um das Frühstück für die Kinder zu machen. Ich setze sie in den Bus und hole sie von der Schule ab. Selbstverständlich liegen auch Arzttermine und die Fahrten zum Nachmittagssport in meiner Verantwortung. Meine Frau hasst es, wenn ich auf dem Thema herumreite. Sie sitzt, anders als ich, die meiste Zeit des Tages im Büro. An dieser Stelle muss ich allerdings aus Selbstschutz sagen, wie es ist.

Aber wer weiß, vielleicht sind sie bei der SPD längst weiter. Was heute noch à jour war, kann morgen schon überholt sein. Ich habe deshalb in Erfahrung zu bringen versucht, was man vom SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil als Rollenvorbild lernen kann. Es ist gar nicht so einfach zu sagen. Er macht ein großes Geheimnis um sein Privatleben. Im vergangenen Jahr ist er Vater geworden, das immerhin lässt sich in Erfahrung bringen.

Ich mag komplett falschliegen, aber wenn ich mir die Termine des SPD-Chefs anschaue, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Mann zu Hause seinen gerechten Anteil an der Care-Arbeit leistet. Ich wäre der Letzte, ihm das zum Vorwurf zu machen. Was die persönliche Lebensgestaltung angeht, bin ich ultraliberal. Aber sollte man nicht etwas bescheidener auftreten, wenn man so deutlich die Latte reißt? Just asking.

Lassen wir für einen Moment die Frage beiseite, ob die Regierung nicht schon genug damit zu tun hat, gegen den wirtschaftlichen Niedergang zu kämpfen. Das beste Rollenbild taugt nichts, wenn es niemanden mehr gibt, der die Familie ernähren kann. Dann müssen beide zu Hause bleiben, das ist dann doppelt veraltet. Oder kommt es nur darauf an, dass nicht einer mehr arbeitet als der andere? Dann würde auch die geteilte Arbeitslosigkeit als vorbildlich gelten, weil in dem Fall alle daheim sind. Man müsste mal Frau Esdar dazu befragen.

Die „Spiegel“-Redakteurin Laura Backes hat vor ein paar Wochen ausführlich mit Tradwives gesprochen, eine Wortschöpfung aus „traditionell“ und „Ehefrau“. Es handelt sich dabei um einen Trend aus den Vereinigten Staaten, der jetzt auch nach Deutschland schwappt. Genau genommen ist es eine uralte Sache: Die Frau kümmert sich um den Haushalt, der Mann schafft das Geld ran. Weil aber die Tradwives ihr Leben auf Instagram ausstellen, gilt die Sache als hip.

Was mich bei der Lektüre überrascht hat: wie unentschieden die Autorin war. Ich hatte einen Verriss erwartet, eine harte Philippika gegen die Verräterinnen, die alles mit Füßen treten, wofür die Frauenbewegung auf die Straße gegangen ist. Aber nichts da. Zwischen den Zeilen schimmerte ein merkwürdiges Verständnis für die Rückkehr zum traditionellen Lebensstil durch. Man konnte geradezu eine Sehnsucht herauslesen, mal auszusteigen und den ganzen Büroalltag einfach hinter sich zu lassen.

Warum bleiben auch gut gebildete Frauen zu Hause oder begeben sich freiwillig in die Teilzeitfalle, wie das andere Lebensmodell heißt, das die SPD ablehnt? An mangelnden Bildungsabschlüssen kann es nicht liegen. Wir können eine Feminisierung ganzer Berufszweige beobachten. Die Mehrzahl der Mediziner, die die Uni verlassen, sind heute Frauen, auch die Mehrheit der Juraabgänger ist weiblich. Da sie in der Regel außerdem über die besseren Abschlüsse verfügen als ihre männlichen Mitbewerber, stehen ihnen alle Türen offen.

Ich glaube, viele Frauen treten beruflich kürzer, weil sie es wollen. Ich habe mich neulich mit einem Chefarzt einer Klinik in Essen unterhalten. Der Mann suchte händeringend nach Bewerberinnen für zwei offene Oberarztstellen. Aber niemand will den Job machen. Die meisten, die er anspricht, arbeiten gerne als Ärztin, wie sie sagen, aber eben nicht 40 oder 50 Stunden. Und die Verantwortung für eine Station, die wollen sie erst recht nicht.

Die Sache hat eine gesellschaftliche Dimension, nur ganz anders, als die SPD sich das vorstellt. Wenn ein Gutteil der Ärzte beschließt, nur noch 50 Prozent zu arbeiten, hat das unmittelbare Konsequenzen für die Gesundheitsversorgung. Wäre ich bei der SPD, würde ich darüber mal nachdenken, schon unter dem Gerechtigkeitsgesichtspunkt. Das Medizinstudium ist ein relativ teures Studium, vom Steuerzahler mit überschlägig 200 000 Euro pro Studienplatz finanziert. Da muss die Frage erlaubt sein, was er dafür zurückbekommt.

Warum verspüren eher Frauen als Männer den Drang, es ruhiger angehen zu lassen? Möglicherweise sind Frauen
einfach schlauer. Ein Blick auf die Lebenserwartung zeigt, dass ihre Entscheidung der Gesundheit jedenfalls nicht abträglich ist. Fast fünf Jahre
mehr Lebenszeit als Männer – das ist ein halbes Jahrzehnt.

Der Soziologe Martin Schröder hat vor zwei Jahren unter dem Titel „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ die Ergebnisse der Forschung vorgestellt. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass viele Frauen sich ungerecht behandelt fühlen, zeigen die Befunde das Gegenteil. Was die Lebenszufriedenheit angeht, lagen Männer zuletzt bei 7,43 von 10 möglichen Punkten, Frauen bei 7,48.

Auch mit dem viel beschriebenen Pay-Gap hadern Frauen weniger, als man vermuten sollte. Ausweislich der Umfragen sahen Frauen beruflichen Erfolg als weniger wichtiger an, was den Gehaltsunterschied erklärt. Wer sich mehr reinhängt, verdient in der Regel auch mehr.

Ich glaube, der Effekt von Steueranreizen wird grundsätzlich überschätzt. Wo Steueranreize funktionieren, sind Abschreibungen. Die Bauherrenmodelle, die Leute eingingen, weil irgendein Steuerberater ihnen das aufgeschwatzt hatte, sind Legion. Aber dass Leute ihre Familienplanung danach ausrichten, ob der Staat einem steuerliche Vorteile gewährt? Da habe ich doch Zweifel.

Wir können ja den Versuch machen. Wir streichen probeweise alle Vergünstigungen und schauen, was passiert. Ich gehe jede Wette ein, dass kaum jemand deshalb darüber nachdenkt, sich an die Werkbank zu stellen, weil die Steuerklasse 5 entfällt. Auf so eine Idee können nur Politiker kommen, die alles für käuflich halten.

© Silke Werzinger

Gebt den Palis die Provence!

Alle reden von der Anerkennung Palästinas. Warum nicht Gaza nach Südfrankreich verlegen, mit Greta Thunberg als Präsidentin? Der Vorschlag ist nicht so absurd, wie er klingt. Betrachtet man die Idee vorurteilsfrei, zeigen sich viele Vorteile

Vor zwanzig Jahren hat mein Kollege Henryk M. Broder einen ebenso genialen wie simplen Vorschlag zur Lösung des Nahostkonflikts gemacht: Warum nicht Israel nach Deutschland verlegen? „Gebt den Juden Schleswig-Holstein!“, hieß der Text, in dem er seine Idee einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Copyright beim damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad lag. Statt weiter darauf zu bestehen, Israel von der Landkarte zu tilgen, hatte er eine Umsiedlung des „zionistischen Gebildes“ angeregt. Aber wie Broder zu Recht anmerkte: Nur weil ein Feind Israels den richtigen Einfall hat, muss man ihn nicht gleich verwerfen. Betrachte man die Idee vorurteilsfrei, zeige sich eine Reihe von Vorteilen.

Die Israelis würden nicht mehr ins Meer gejagt, sondern nur noch über das Meer geschickt, vom humanitären Standpunkt ein klarer Fortschritt. Die historische Bodenreform wäre die Rückkehr zum Verursacherprinzip – schließlich waren es die Deutschen, die mit der „Endlösung der Judenfrage“ die Schaffung eines eigenen Judenstaates wieder auf die internationale Tagesordnung setzten. Und mit einem Schlag wäre das größte Problem gelöst: die Sicherheit Israels. Kein arabisches Land würde es wagen, Deutschland anzugreifen.

Wie alle guten Ideen wurde auch diese zerredet und kleingeschrieben. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte den Vorschlag „vollkommen inakzeptabel“, was im Blick auf die weitere Entwicklung zumindest voreilig war. Ein paar Jahre später fand sie sich umstandslos bereit, eine Million Syrer in Deutschland anzusiedeln. Ich mag mich irren, aber mit der Verlegung Israels wären wir, glaube ich, besser gefahren.

Ich musste unwillkürlich an Broder und seinen Vorschlag denken, als ich die Bilder aus der UN-Vollversammlung in New York sah, wo sich Politgrößen wie der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer zur Schaffung eines Palästinenserstaates bekannten. Anerkennung jetzt, lautet der Ruf der Zeit, dem sich umgehend auch moralische Leuchttürme wie Luxemburg, Malta und Monaco anschlossen.

Verglichen mit der Anerkennung Palästinas als eigenständigem Staat ist die Broder-Ahmadinedschad-Initiative von geradezu bestechender Vernunft. Was immer man von Israel halten mag: Es verfügt immerhin über ein Parlament und eine Regierung. Bei dem künftigen Palästina ist nicht einmal klar, wo die Grenze des Staatsgebiets verlaufen soll oder wer die Staatsgewalt innehätte.

Die europäische Außenpolitik hat zur politischen Esoterik gefunden. Vielleicht bin ich zu altmodisch, aber ich halte es für bedenklich, wenn zwei der wichtigsten Wortführer Europas jeden Realitätssinn vermissen lassen. Was immer sie im Élysée-Palast oder in der Downing Street an bewusstseinserweiternden Drogen nehmen, man sollte diese schnellstens wieder unter Verschluss nehmen.Genauso gut könnte man Lummerland anerkennen. Oder La La Land. Der Kampf des kurdischen Volkes währt seit 40 Jahren. Die Kurden haben eine eigene Sprache, eine eigene Identität und im Irak sogar eine Art Staatsgebiet samt Hauptstadt. Warum Kurdistan verweigern, was man den Palästinensern gewährt? Auch die Katalanen träumen von einem eigenständigen Staat, und natürlich die Basken und Korsen.

Funfact: Wussten Sie, dass es in Taipeh, der Hauptstadt von Taiwan, bis heute weder eine diplomatische Vertretung Frankreichs noch Großbritanniens gibt? Wenn Sie googeln, werden Sie feststellen, dass Taiwan von lediglich zwölf Staaten anerkannt wurde, darunter Tuvalu und der Heilige Stuhl. In dem Fall müsste
man sich ja mit dem großen China anlegen statt mit dem kleinen Israel. Aber dazu haben weder Macron noch Starmer den Mut, da sind sie mit einem Mal ganz unterwürfig.

Ich bin grundsätzlich gegen Geschäfte auf Kosten anderer Leute. Warum sollen die Israelis ausbaden, was die Siegermächte verschlampt haben, als sie das britische Mandatsgebiet 1948 zwischen Juden und Arabern teilten? Wenn schon Anerkennung, dann richtig! Gebt den Palis die Provence, wäre meine Forderung.

Ich weiß, das wirkt auf den ersten Blick absurd. Aber wenn man länger darüber nachdenkt, liegen die Vorteile auf der Hand. Die Sicherheitsfrage wäre sofort gelöst. Die Mittelmeerlage garantiert einen ertragreichen Zitrusfruchtanbau, womit eine bescheidene, aber solide Ernährungsgrundlage gelegt wäre. Und Hand aufs Herz: Heißt es nicht immer, der Klimawandel werde weite Teile des Mittelmeerraums in eine Wüstenregion verwandeln? Wenn sich jemand mit Wüste auskennt, dann die Palästinenser.

Geld wäre ebenfalls genug da. Die grundgütige Frau von der Leyen hat bereits die Schaffung eines Palästina-Aufbaufonds in Aussicht gestellt. Statt das Geld nach Gaza zu schicken, wo es nur wieder in den Bau neuer Tunnelanlagen fließt, könnte man wunderbare Siedlungen am Mont Ventoux finanzieren.

Man müsste einige Vorkehrungen treffen, sicher. Nach Norden und Westen wäre ein ordentlicher Zaun vonnöten, um den Befürchtungen der Anrainer Rechnung zu tragen. Dass man Tür an Tür wohnt – so haben sie sich das im Auswärtigen Amt mit der Zweistaatenlösung selbstverständlich nicht vorgestellt. Ich sehe die Schlagzeilen in Deutschland vor mir: „Nachbar Hamas – kommt jetzt der Terror zu uns?“ Da muss man gegensteuern.

Ich hätte auch schon eine Idee, wer das neue Palästina führen könnte. Im Augenblick ist der ehemalige britische Premierminister Tony Blair für eine Art Übergangsregierung im Gespräch. Nichts gegen Blair und die Briten. Mit der Verwaltung ausländischer Protektorate kennt man sich in Großbritannien aus.

Aber ich finde, es ist an der Zeit, die Verwaltung in die Hand der Unterstützer zu legen. Deshalb mein Vorschlag: Greta Thunberg als Präsidentin, das hat sie sich verdient. Meine Wahl als Premierministerin wäre die UN-Chanteuse Francesca Albanese, die uns der „Spiegel“ als „Populistin der Herzen“ vorstellte (oder war es „Populistin der Menschenrechte“? Egal). Als deutscher Beitrag bieten sich Sawsan Chebli für das Außenministerium an und als Kulturstaatsministerin die Schauspielerin Enissa Amani, die gerade mit der Global Sumud Flotilla auf dem Weg nach Gaza ist.

Wie man lesen konnte, ist es in der Flotilla zu Unstimmigkeiten zwischen den Gaza-Fahrern gekommen. Eine Reihe palästinensischer Aktivisten hat den Ausschluss aller Schwulen und Lesben gefordert. Schwule würden die Werte der Gesellschaft antasten und Kinder in Situationen bringen, die jeder Palästinenser ablehne, erklärte eine Sprecherin. Die Anwesenheit von queeren Personen würde die heiligste Sache entweihen, schrieb ein anderer.

Auch hier hätte ich eine Lösung anzubieten. Solange die Sache nicht ausgestanden ist, legen wir den Kampf für ein freies Palästina komplett in westliche Hände. Dass bei den Feierlichkeiten zur Anerkennung aus Freude über die Entscheidung mehrere Gefangene mit Kopfschuss erledigt wurden, war der Sache nicht hilfreich. Dem Palästinenser fließt schnell das Herz über, man kann es verstehen. Aber im Westen gibt es halt gewisse Empfindlichkeiten, auf die man Rücksicht nehmen muss.

© Silke Werzinger