Die Länder des Westens haben 600 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe versprochen, um die Allianz gegen Russland zu stärken. Wie wäre es mit dem Gegenteil: Kein Geld für Staaten, die zu Putin halten?
Das Gute an Putin und seinen Satrapen ist, dass sie einen über ihre Absichten selten im Unklaren lassen. Sie reden über die Verheerungen, die sie über die Welt zu bringen gedenken, so selbstverständlich wie andere über das Wetter.
Vor drei Wochen saß die Kreml-Propagandistin Margarita Simonyan auf einer Bühne in St. Petersburg und verbreitete sich lächelnd über Hunger als Waffe. „Unsere Hoffnung ist jetzt der Hunger“, sagte sie. „Kommt der Hunger, kommt der Westen zur Vernunft.“ Er werde seine Sanktionen lockern und wieder freundschaftliche Beziehungen mit Russland pflegen, da es für ihn keine andere Wahl gebe.
An dem Auftritt war neben der blendenden Laune, mit der Frau Simonyan das Hungerprogramm bekannt gab, die Offenheit bemerkenswert, in der sie Mitleid zur Schwäche erklärte. Der Russe kennt kein Mitleid, musste man ihren Ausführungen entnehmen. Er ist nicht so weich wie der Bewohner des Westens, der dem Leid nicht zusehen kann, ohne irgendwann einzulenken.
Steigende Lebensmittelpreise setzen auch Menschen in Deutschland zu. Aber es ist eine Sache, ob man sich einschränken muss, und etwas ganz anderes, seine Familie nicht mehr ernähren zu können, weil der Preis für Brot oder Sonnenblumenöl durch die Decke geht. Bis der Westen Hunger leidet, muss der Krieg in der Ukraine noch sehr, sehr lange dauern.
Man sollte also denken, dass die Anführer der Dritten Welt sich im Zorn auf Putin einig sind. Wenn die Hungerwaffe des Kreml Menschen trifft, dann die Armen in Afrika und Asien. Aber so denken sie nicht, ganz im Gegenteil. Kein Land aus Afrika ist bei den Sanktionen gegen Russland dabei. Kein Land in Lateinamerika. In Asien machen lediglich Japan, Südkorea und Taiwan mit. Wenn die Russen Getreidesilos plündern und Häfen verminen, ist daran nicht Putin schuld, sondern, logisch, der Westen. Dass der Westen schuld ist, darauf kann man sich im Rest der Welt immer verständigen.
„In Deutschland glauben viele, die meisten Länder stünden aufseiten der Ukraine. In Wahrheit entsteht ein antiwestlicher Block, so mächtig, wie es ihn in der Geschichte noch nie gegeben hat“, bilanzierte der „Welt“-Herausgeber Stefan Aust anlässlich des BRICS-Gipfels, bei dem sich China, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika auf Einladung des chinesischen Staatspräsidenten zum Gedankenaustausch trafen.
Auch wir haben gerade einen Gipfel hinter uns. Die G7-Staaten trafen sich vor malerischer Bergkulisse im bayrischen Elmau. Anders als 2015, als man sich das erste Mal in Elmau einfand, waren dieses Mal auch eine Reihe von Ländern des „globalen Südens“ zu Gast, wie Entwicklungsländer heute heißen – Indien, Südafrika, Senegal. Dass viele dieser Staaten weiter mit Moskau im Geschäft sind, allen Appellen zum Trotz, ist auch den Regierungschefs der freien Welt nicht verborgen geblieben.
Deshalb jetzt der „Outreach“, also die Umarmung von Staatschefs, von denen man im Westen annimmt, dass sie unsere Werte teilen. Man wolle China und Russland nicht mehr allein das Feld überlassen, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz in Elmau. Und wo man schon mal dabei war, wurde gleich ein finanzielles „Outreach“-Programm mitbeschlossen: 600 Milliarden Euro an zusätzlicher Entwicklungshilfe.
Typisch westlicher Ansatz, würde ich sagen. Wir erhöhen das Entwicklungsgeld und hoffen, dass sie in Afrika dann einsehen, dass es besser ist, nicht auf autokratische Systeme zu setzen, sondern auf die Stimme der Freiheit, also auf uns.
Ich war mehrfach in Afrika, auch in Ländern, die nicht auf der touristischen To-do-Liste stehen. Uganda zum Beispiel. Oder Mauretanien. In Mauretanien war ich mit Bundespräsident Horst Köhler. Wir hatten dort einen sehr schönen Empfang durch die amtierende Regierung. Zwei Wochen nachdem wir zurück in Deutschland waren, las ich, dass es einen Putsch gegeben hatte und alle, die uns eben noch die Hand gegeben hatten, einen Kopf kürzer gemacht worden waren. Die politischen Wetterwechsel können in Afrika sehr abrupt sein.
Eines ist mir bei allen Besuchen aufgefallen: Wir sind zwar vorbildlich, was die Hilfsbereitschaft angeht, aber die Kontakte zu den Mächtigen knüpfen die anderen. Egal, wohin man in Afrika seinen Fuß setzt, die Chinesen sind schon da. Die Chinesen kämen nie auf die Idee, einen Scheck zu schreiben und zu sagen: Macht was Ordentliches damit. Sie kaufen sich für ihre Entwicklungshilfe Minen und Schürfrechte. Oder gleich ganze Regionen. Alles, was wir im Westen als Neokolonialismus ablehnen.
Ich habe eine Ahnung, wie es kommen wird. Die Beschenkten nehmen dankend die 600 Milliarden Euro und sind dennoch nicht bei unseren Sanktionen dabei. Warum auch? Geld aus dem Westen und Discount-Öl aus Russland: Das ist ein unschlagbarer Deal. Wenn mir den jemand anbieten würde, würde ich den auch annehmen.
Vielleicht ist es an der Zeit, unseren Entwicklungshilfeansatz zu überdenken. Möglicherweise kommt man weiter, wenn man Leute nicht noch dafür belohnt, dass sie einem in den Rücken fallen, sondern ihnen sagt, dass es kein Geld mehr gibt, wenn sie nicht aufhören, gemeinsame Sache mit dem Feind zu machen.
Es ist ja ohnehin die Frage, ob wir mit unseren Zahlungen mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirken. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Thilo Thielke am Kilimandscharo. Thielke hat sein halbes Leben in Afrika verbracht, erst als Korrespondent für den „Spiegel“, dann für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, bis ihm ein Herzinfarkt den Stift aus der Hand nahm, um diese altertümliche Wendung zu gebrauchen. Wenn jemand einen klaren Blick auf die Dinge hatte, dann er.
So wie Thielke es sah, dient das Entwicklungsgeld vor allem dazu, weißen Mittelschichtskindern eine aufregende Zeit in der Fremde zu ermöglichen, wo sie dann in Toyota-Landcruisern durch die Gegend sausen können, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Bei den Hilfsbedürftigen kommt das Geld, das die westlichen Regierungen jedes Jahr losschicken, nicht an. Entweder landet es in den Taschen eines Potentaten. Oder in Bauprojekten, mit denen Leute glücklich gemacht werden, die dem Potentaten nahestehen.
An gutem Willen mangelt es nicht. Auch nicht an guten Ideen. Thielke erzählte, wie sie Bauern in die Kunst des Brunnenbohrens einwiesen, damit die armen Menschen nicht mehr von den Launen des Regengottes abhängig wären. Ein Jahr später waren die Brunnen versandet, weil sich niemand um die Wartung gekümmert hatte, und die Bauern kehrten zu den ihnen seit Jahrhunderten vertrauten Methoden des Maniokanbaus zurück. Ich habe keinen Zweifel, dass es genau so war, wie Thielke mir auf seiner Terrasse mit Blick auf die Schneespitze des Kilimandscharo berichtete.
Schon vor Jahren kam der Ökonom William Easterly zu dem Ergebnis, dass Entwicklungshilfe ein Programm zur moralischen Selbstberuhigung der westlichen Eliten sei. Seine Rechnung war einfach: Wie kann es sein, fragte er, dass 600 Milliarden Dollar nach Schwarzafrika geflossen sind, ohne dass sich an den Lebensbedingungen der Menschen dort etwas geändert hat?
„The White Man’s Burden“ nannte Easterly sein Buch, in dem er dafür plädierte, die Idee, wir wüssten, wie man Afrika auf Vordermann bringt, endlich aufzugeben. Ich habe es für diese Kolumne wieder zur Hand genommen. Es ist unverändert aktuell.
Es ist ein Gebot des Herzens, Menschen in Not zu helfen. Schon jetzt leiden weite Teile Afrikas Hunger, weil zu allem Überfluss auch noch der Regen ausgeblieben ist. Es ist wie eine Abfolge biblischer Plagen. Erst kamen die Heuschrecken, dann kam die Dürre, jetzt kommt auch noch der Krieg. Jeder Euro, den wir zur Linderung der Not ausgeben, ist ein gut ausgegebener Euro.
Aber das ist nicht das, was Biden, Macron oder Scholz im Sinn haben, wenn sie 600 Milliarden Euro versprechen. Sie denken, dass man mit Geld Solidarität kaufen könnte. Dazu müsste man allerdings sagen, was passiert, wenn die Solidarität ausbleibt. Ich fürchte, dazu sind unsere Politiker viel zu vornehm.