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Der sensible Robert

Ausgerechnet Robert Habeck, der Kandidat der Herzen, verklagt jeden, der sich über ihn lustig macht. Aber so ist das, wenn nur die eigene Betroffenheit zählt, dann rückt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit

Von allen Auftritten zum vorzeitigen Ende der Regierung war der von Robert Habeck der schönste. Um einen Kommentar zum Aus gebeten, legte er den Kopf zur Seite, lauschte in sich hinein und sagte dann, „dass sich das nicht richtig anfühlt.“ Kein Wort des Vorwurfs, kein Nachkarten. Stattdessen: Betroffenheit.

Nicht alle bei den Grünen haben das durchgehalten. Auf dem Parteitag am Wochenende brach es aus der Fraktionschefin Britta Haßelmann heraus, was für eine üble Truppe die FDP doch sei. Man sah die Enttäuschung und Wut darüber, dass nun schon am 23. Februar gewählt wird und nicht erst am 28. September. So viele schöne Projekte, die man nicht mehr zu Ende bringen kann, so viel Geld, das man noch gerne unter die Leute gebracht hätte! Eigentlich gilt bei Scheidungen das Zerrüttungsprinzip, aber in diesem Fall kehren selbst Linke zum Schuldprinzip zurück.

Habeck ist in Lübeck geboren. Auch Björn Engholm kommt von dort. Nicht allen wird der Name Engholm noch etwas sagen, was schade ist, schließlich darf Engholm als Pionier des politischen Emotionalienhandels gelten, gewissermaßen ein Früh-Habeck der Sozialdemokratie. Es war Engholm, der sich als erster auf die „sensiblen Potenziale“ des Landes berief, die es zu heben gelte. Den Fontane entlehnten Satz, man solle mit dem Kopfe fühlen, verstand er nicht als Selbstbezichtigung, sondern als Kompliment.

Keine Ahnung, weshalb gerade die Nordlichter zu vermehrtem Gefühlsausstoß neigen. Auch Daniel Günther von der CDU empfiehlt sich ja als die sanfte Variante seiner Partei. Ist es der lange Blick übers Watt, die Ereignislosigkeit der Landschaft, die Geducktheit der Reetkate? Den Wikingertyp sucht man unter den Talenten im Land zwischen den Meeren jedenfalls vergeblich, der scheint vor Langem ausgestorben.

Habeck verzichtet auf Fontane, aber sensibel geht es auch bei ihm zu. „Ich bin hier bei Freunden in der Küche“, begann das Video, in dem er seine Bewerbung für das Amt des Kanzlers vortrug. Der Küchentisch sei der Ort, an dem man zusammenkomme und die Nachrichten des Tages höre, wie zum Beispiel die von der Wiederwahl Trumps. Treuer Augenaufschlag: „Ich auch.”

Im Wahlkampf muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber dass der Wirtschaftsminister der drittgrößten Industrienation der Welt Nachrichten von der Tragweite einer US-Wahl am Küchentisch von Freunden erfährt, lässt einen dann doch an der Informationsbeschaffung der Regierung zweifeln. Anderseits erklärt das möglicherweise die Entrücktheit mancher Ideen.

Das Angebot des grünen Kanzlerkandidaten ist weniger ein inhaltliches, sondern vielmehr ein stilistisches. Wenn einer die Feminisierung der Politik zur Vollendung gebracht hat, dann der Mann aus dem hohen Norden. Gegen die Mischung aus verwuschelter Nachdenklichkeit und einfühlsamen Therapeutenton kommt nicht mal Annalena Baerbock an. Wenn Habeck den Kopf leicht zur Seite legt (Vorsicht: Signaturemove!), schmilzt das eisigste Frauenherz. Ich glaube, sogar Anna Schneider, die tapfere Freiheitskämpferin von der „Welt“, wird dann für einen Moment schwach.

Man ahnt, dass der sanfte Robert nicht nur sanft ist. Wäre es anders, wäre er am Sonntag nicht zum Spitzenkandidaten seiner Partei nominiert worden. Wobei, auch das hat er jetzt den Bedürfnissen seiner Wähler angepasst: Wir Journalisten sollen lieber vom „Kandidaten für die Menschen“ reden. Oder war es vom „Kandidaten der Herzen“? Egal, jedenfalls irgendwas mit viel Nähe und viel Gefühl.

Habeck ist der perfekte Kandidat für Leute, die von Selbstwirksamkeit sprechen, wenn sich das Kind auf den Boden wirft, weil man ihm den Schnuller wegnimmt. Vor 30 Jahren hieß Selbstwirksamkeit noch Selbstverwirklichung, gemeint ist dasselbe.

Das eigene Empfinden zum Maßstab der Weltbeurteilung zu machen, radikale Subjektivität als Mittel der Wirklichkeitsbetrachtung, das ist die eigentliche Errungenschaft der Linken. Umgekehrt ist alles, was rational und damit kalt und herzlos wirkt, verdächtig. Deshalb hatten Leute, die mit der schnöden ökonomischen Wirklichkeit argumentieren, immer schon einen schweren Stand.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich war 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal auf dem Heißen Stuhl Platz nahm, um in die Grundregeln der Gruppentherapie eingeführt zu werden. An die Sitzungen im evangelischen Pfarrhaus schlossen sich während des Zivildiensts dann wöchentliche Supervisionsstunden an, in denen ich unter der kundigen Leitung eines Gestalttherapeuten meine Projektionen zu verstehen lernte.

Ich weiß seitdem, wie der Hase läuft. Mir muss man mit „Du- und Ich-Botschaften“ nicht mehr kommen. Ich formuliere bei Bedarf gerne jeden Vorwurf so perfekt als Ich-Botschaft, dass dem Gegenüber die Ohren glühen, wenn ich fertig bin.

„Was macht das mit Dir“ beziehungsweise „Wie geht es Dir damit“, sind die beiden Zentralsätze der neuen emotionalen Aufgeschlossenheit. Neben das „Problem“, das in unzähligen Varianten als „Beziehungsproblem“, „Umweltproblem“ oder „Sozialproblem“ die politische Sprache bereichert, tritt die „Angst“ als Gefühlswort allerersten Ranges. Es muss nur jemand in einer Diskussion sagen, dass er sich unwohl fühle, und schon erübrigt sich jede weitere Debatte.

Wenn Gefühle zu Fakten werden, werden umgekehrt auch Fakten zu einer Frage der Empfindung. Bis heute hält sich bei den Grünen die Gewissheit, dass die Atomkatastrophe in Fukushima Tausenden das Leben gekostet habe. In Wahrheit ist bei dem Reaktorbrand kein einziger Mensch ums Leben gekommen.

Ein Arbeiter erlag später einer Krebserkrankung aufgrund der Strahlung, der er bei Aufräumarbeiten ausgesetzt war. Alle anderen hat ein schnöder Tsunami ins Wasser gespült. Trotzdem kann man die Uhr danach stellen, dass zum Jahrestag wieder ein grüner Landesverband die Mahnung postet, ja nicht die 10000 Fukushima-Toten zu vergessen.

Unbedarfte werden einwenden, dass es sich schlecht mit der proklamierten Empfindsamkeit verträgt, wenn man Bürgern die Polizei auf den Hals hetzt, nur weil sie einen „Schwachkopf“ genannt haben. Kein Politiker hat mehr Beleidigungen zur Anzeige gebracht als der sensible Robert. 805 Mal wurde die Staatsanwaltschaft seit der Regierungsübernahme im September 2021 bemüht – damit führt er die Liste der Bundesminister mit weitem Abstand an.

Unter den Angezeigten ist auch Stefan Niehoff aus Unterfranken, 64 Jahre alt, Vater einer Tochter mit Downsyndrom. Ich habe mir das Video angesehen, in dem der Mann berichtet, wie er in aller Herrgottsfrühe von zwei Beamten aus dem Bett geklingelt wurde. Der Mann wirkte darin relativ vernünftig.

Habeck versucht jetzt den Eindruck zu erwecken, es sei bei dem Hausbesuch gar nicht um seine Anzeige gegangen. Auf Nachfrage im Fernsehen murmelte etwas von rassistischen und antisemitischen Hintergründen, womit er den bis dato unbescholtenen Rentner im Vorbeigehen auch noch zum Rechtsradikalen stempelte.

Der Durchsuchungsbeschluss ist allerdings eindeutig: In dem Schreiben wird allein auf ein Bild Bezug genommen, das einer Haarpflege-Anzeige nachempfunden ist und den Werbesatz „Schwarzkopf Professional“ zu „Schwachkopf Professional“ verballhornt. Wer weiß, wenn der Mann aus Bayern sich ökologisch korrekt das Shampoo von Dr. Hauschka zum Vorbild genommen hätte, gäbe es vielleicht mildernde Umstände. Aber so: kein Pardon.

Am Dienstag las ich von einer Frau, die mit der Ordnungsmacht in Konflikt geriet, weil sie Habecks berühmte Ausführungen zum Insolvenzrecht zitiert hatte. Dummerweise war ihr dabei ein Fehler unterlaufen. Statt Habecks Zitat („Und dann sind die nicht insolvent, automatisch, aber sie hören vielleicht auf zu verkaufen“) ganz korrekt wiederzugeben, verbreitete sie eine Zitattafel mit dem Satz: „Ein Laden, der aufhört zu verkaufen, ist doch nicht insolvent, er verdient nur kein Geld mehr.“

Zack, Strafantrag wegen übler Nachrede, Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchung.

Das sind nicht die Meldungen, die man sich als Kandidat für die Menschen wünscht, sollte man meinen. Aber das ist ja das Besondere an der neuen Sensibilität: Wo nur die eigene Betroffenheit zählt, tritt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit.

© Michael Szyszka

Grüne Realitätsflucht

Es ist ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Leider wird beides nirgendwo so durcheinandergeworfen wie in der Sozialpolitik. Aktuelles Beispiel: Der Plan der Familienministerin zur Linderung der Kinderarmut

 Ein Vorteil, wenn man von der Realität weit weg ist: Es gibt keine Veranlassung, an seiner Vorstellung von der Welt zu zweifeln.

Nehmen wir, nur als Beispiel, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Frau Paus kommt vom linken Flügel der Grünen, wo man bis heute alle sozialen Fragen für eine Frage der Umverteilung hält. Sobald sich ein Problem auftut, nimmt man einfach die Subventionsgießkanne zur Hand und schüttet Geld drauf. Sollte sich das Problem halten, gießt man nach.

So ist auch der Plan für das größte Projekt der Ministerin, die sogenannte Kindergrundsicherung, entstanden. Um das Los armer Kinder zu erleichtern, möchte die Ministerin ein paar Milliarden in die Hand nehmen, die dann an die Eltern weitergereicht werden, die dafür all das kaufen, was sie sich bislang nicht kaufen konnten: also ganz viele Bücher und Spiele und Theaterkarten und überhaupt alles, was den Kleinen den Anschluss an die bürgerliche Welt erlaubt.

In der Welt, aus der Lisa Paus kommt, hat man vom Leben am unteren Ende der Gesellschaft eher vage Vorstellungen. Klar, man weiß, dass es arme Menschen gibt, die ihr Leben nicht richtig auf die Reihe bekommen. Schließlich ist ja in den Sozialprogrammen ständig davon die Rede, dass man die Armut in Deutschland lindern müsse.

Aber wie genau es in der Unterschicht aussieht, das entzieht sich der Anschauung. Da vertraut man auf die Vertreter der Sozialverbände wie das ehemalige Linksparteimitglied Ulrich Schneider, die einem sagen, wo man überall nachgießen muss. Wenn man als Ministerin vor die Tür tritt, dann in der Regel, um bei Parteiveranstaltungen vorbeizuschauen, wo man vornehmlich auf Leute trifft, die derselben Welt entstammen wie man selbst.

Politisch gesehen ist Kinderarmut ein Superthema. Das ist wie mit dem Einsatz für Wale und Delfine. Niemand klaren Verstandes will in den Verdacht geraten, kein Herz für Kinder zu haben. Haben Sie gesehen, was dem armen Christian Lindner passiert ist? Einmal darauf hingewiesen, dass vor allem Kinder aus Einwandererfamilie betroffen sind, und schon sind sie hinter einem her wie hinter der armen Seele. „Bösartig“, „abgrundtief ekelhaft“, „perfide“ – und das sind nur die Kommentare der Konkurrenz.

Die Fakten sind eindeutig: Die Zahl der deutschen Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, ist seit 2015 um ein Drittel gesunken, ganz ohne die Anstrengungen der Grünen. Es gibt wenige gute Nachrichten aus dem Sozialstaat, das ist eine. Dass die Zahl der Leistungsempfänger dennoch bei zwei Millionen verharrt, liegt daran, dass immer mehr ausländische Kinder mit ihren Familien nachrücken.

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es keinen Unterschied macht, welchen Pass ein Kind hat. Das scheint auch die Meinung der Ministerin zu sein, die davon spricht, dass man die Sozialleistungen von einer Holschuld in eine Bringschuld des Staates umwandeln müsse. Ich glaube allerdings, dass in diesem Punkt selbst treue Wähler der Grünen anderer Meinung sein dürften.

Wie genau der Plan zur Behebung der Kinderarmut funktionieren soll, ist eben so vage wie die Höhe der Mittel, die Lisa Paus für erforderlich hält. Erst war von 12 Milliarden die Rede, dann von fünf Milliarden. Im „Spiegel“ sprach die Ministerin neulich von „zwei bis sieben Milliarden“ als „neuer Hausnummer“, was sich nicht einmal die Deutsche Bahn bei ihren Kostenschätzungen trauen würde. Dennoch wird unverdrossen am Projekt festgehalten.

So ist das bei den Grünen. Man lässt sich seine Gesellschaftssicht nicht von der Wirklichkeit kaputtmachen. Probleme, die man nicht sehen will, werden ignoriert. Oder wegerklärt. Oder, wenn das nicht mehr geht, Populismus genannt. Ein wunderbares Symbol für diese Form der Realitätsbearbeitung ist der Görlitzer Park in Berlin. Bevor er seine Umwidmung zum größten Open-Air-Drogenumschlagplatz Europas erlebte, war der „Görli“ das Naherholungsgebiet für die Leute, die sich ein Wochenendhaus in der Schorfheide nicht leisten können.

Dann kamen die Dealer und teilten den Park in Zonen auf: Hier die Männer aus Guinea, bei denen man sein Gras beziehen kann, auf Nachfrage aber auch Heroin, Kokain oder Crack, dort die Gambier, daneben die Leute aus dem Senegal. In München hätten sie irgendwann einen Trupp berittener Polizei geschickt, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Aber so etwas verbietet sich in einem Viertel wie Kreuzberg von selbst. Kreuzberg ist das für die Grünen, was Kulmbach für die CSU ist: Herzkammer und Quellgebiet zugleich.

Statt auf Razzien setzte die grüne Bezirksbürgermeisterin auf Sozialpartnerschaft. An Stelle von Polizisten machten sogenannte Parkläufer die Runde, die den Drogenhändlern Lehrstellen und Sprachkurse anboten, um sie in die Legalität zu geleiten. Man kann sich das Gelächter des Dealers vorstellen, als ihm der Parkläufer einen Ausbildungsplatz in Aussicht stellte, wenn er sein schändliches Tun aufgebe.

„Keine Gruppe im Park sollte ausschließlich als Problemverursacher gesehen werden“, hieß es in einem Handlungskonzept des Bezirks. „Menschen, die derzeit den Park nutzen, sollen nicht verdrängt werden.“ Weil man die Drogendealer nicht loswird, erklärt man sie einfach zur schützenswerten Minderheit: So geht grüne Sozialpolitik.

Ende Juni fielen mehrere Männer über eine junge Frau her, die so unvorsichtig gewesen war, die Erklärungen vom Park für alle ernst zu nehmen. Eine Gruppenvergewaltigung am frühen Morgen: Damit ist die Realität auch im grünen Vorzeigebezirk angekommen – sollte man meinen.

Berlins neue Innensenatorin würde den Görlitzer Park gerne mit einer Umzäunung und Videoüberwachung an den Eingängen sicherer machen. Aber das lehnt das zuständige Bezirksamt als „populistisch“ ab. Nötig sei statt eines Zauns, Sie ahnen es, mehr Geld für Sozialarbeiter!

Ich hätte einen Vorschlag, wie man gegen Kinderarmut effektiv vorgehen könnte. Wir koppeln den Bezug von Bürgergeld an den Kitabesuch. Wer vom Staat Geld haben will, muss im Gegenzug einwilligen, dass seine Kinder ab dem ersten Lebensjahr eine staatliche Einrichtung besuchen. Keine Kita, keine Sozialhilfe.

Ist das stigmatisierend? Natürlich ist es das. Aber wer sich darauf verlässt, dass andere für einen geradestehen, muss auch akzeptieren, dass man ihm Vorschriften macht, die für Leute, die selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen, nicht gelten.

Die Studienlage ist eindeutig: Wer in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, hat ein deutlich erhöhtes Risiko arm zu bleiben. Kinder aus der Unterschicht ernähren sich öfter falsch, sie hängen zu viel vorm Fernsehen und bewegen sich zu wenig. Sie haben größere Mühe, sich zu konzentrieren und Lerninhalte zu erfassen, und neigen später eher zum Alkohol- und Drogenmissbrauch. Je früher man diesem Milieu entkommt, und sei es nur für ein paar Stunden an Tag, desto besser.

Gibt es Hartz-IV-Eltern, die sich rührend um ihre Kinder kümmern? Natürlich gibt es die. So wie es auch Eltern geben wird, die sofort losziehen und mit dem Geld von Frau Paus Schulhefte und Buntstifte für die Kleinen kaufen. Dummerweise werden aber auch der Nichtsnutz von Vater und die labile Mutter zu den Erziehungsberechtigten gehören, die über die Verwendung der Kindergrundsicherung bestimmen. Man kann es abgrundtief ekelhaft finden, darauf hinzuweisen, aber so ist die Realität.

Es ist ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Leider wird beides nirgendwo so beständig durcheinandergeworfen wie in der Sozialpolitik.

© Sören Kunz

Der grüne Impfgegner

Die hohe Zahl an Impfgegnern ist auch ein Erfolg grüner Politik. Wenn man den Leuten ständig einredet, dass Gentechnik des Teufels sei, muss man sich nicht wundern, wenn sie dem Genzeug misstrauen

Ein Freund berichtete bei einem Abendessen von einer Anhängerin der Klangschalentherapie, die einen Arzt in Brandenburg aufgetan hat, der Freunde der Esoterik mit falschen Impfausweisen versorgt. Wer sich in der Praxis einfindet, wird gebeten, seinen Oberarm frei zu machen. Dann nimmt der Arzt eine Spritze, holt den Impfstoff, schüttet ihn in einen Eimer und setzt die Spritzennadel in den Arm.

Warum er sich überhaupt die Mühe macht, den Impfstoff aus dem Kühlschrank zu nehmen, ist nicht ganz ersichtlich. Vielleicht soll die kleine Scharade den Betrug realistischer machen. Oder sie ist gedacht, im Entdeckungsfall vor Strafe zu schützen. In jedem Fall ziehen die Luft-Geimpften mit einer regulären Impfbescheinigung von dannen, um sich dann wieder der Heilung mittels Planetentönen und Sphärenklängen zu widmen.

Verschiedentlich wurde in den vergangenen Tagen die Frage gestellt, warum in Deutschland die Impfquote so niedrig ist. Was die Zahl der Impfgegner angeht, liegen die deutschsprachigen Länder in Westeuropa an der Spitze. Eine Erklärung stellt auf die Geografie ab. In Ländern mit Gebirgsregionen sei die Zahl der Dickschädel, die dem Staat misstrauten, höher als in Küstenländern.

Aber ist das überzeugend? Erstens verfügen auch Impfvorbilder wie Frankreich und Spanien über ordentliche Gebirge, wie jeder weiß, der mal die Pyrenäen oder die französischen Alpen durchquert hat. Und dass der Gehorsam gegenüber staatlichen Autoritäten in Mittelmeerstaaten besonders ausgeprägt sei, darf mit Blick auf die Steuermoral getrost bezweifelt werden.

Ich hätte eine andere Erklärung anzubieten. Wir haben die geringste Impfquote, weil nirgendwo in Europa das esoterisch veranlangte Milieu so groß ist wie bei uns. Dass alles, was aus dem Genlabor kommt, eine Gefahr für die Gesundheit darstelle, ist ein Glaube, der sich in Deutschland breiter Zustimmung erfreut. Wir haben sogar eine Regierungspartei, die sich den Kampf gegen das Unnatürliche auf die Fahnen geschrieben hat.

Es ist ganz simpel, würde ich sagen: Wenn man den Leuten ständig einredet, dass Gentechnik des Teufels sei, muss man sich nicht wundern, wenn sie dem Genzeug misstrauen. Das gilt erst recht, wenn man es ihnen intramuskulär verabreichen will. Eine Pille schlucken ist schlimm genug. Aber sich die unheimliche Substanz auch noch spritzen lassen? Um Gottes willen!

Die grüne Technikfeindlichkeit ist der blinde Fleck der Impfdebatte. Es wird vornehm darüber hinweggesehen, aber der Kampf gegen die Gentechnik ist für die Ökobewegung mindestens so identitätsstiftend wie der Kampf gegen die Atomkraft. Es ist halt sehr viel einfacher, sich über den Impfgegner im Erzgebirge zu empören, der vom gentechnischen Menschenexperiment schwafelt, als über die Grünenanhängerin mit dem VHS-Diplom in Edelsteinkunde, die auf Globuli gegen Corona schwört.

Ich folge auf Twitter seit Längerem dem Wissenschaftsautor Ludger Weß. Weß hat als Molekularbiologie gearbeitet, bevor er via Greenpeace zum Journalismus stieß. Wenn es eine Autorität für die Ober- und Untertöne des grünen Hokuspokus gibt, dann ist er das.

Bei Weß wird man daran erinnert, dass es noch nicht so lange her ist, dass sich das Land Nordrhein-Westfalen unter rot-grüner Führung zur „gentechnikfreien Region“ erklärte. Oder dass die grüne Umweltministerin aus Rheinland-Pfalz die Entscheidung von BASF, ihre Gentechnik-Forschung ins Ausland zu verlegen, mit den Worten kommentierte, der Abzug aus Deutschland beweise „den mangelnden Erfolg von Gentechnikprodukten“. Gentechnik sei nun einmal keine Zukunftstechnologie. Ihre Nachfolgerin hielt das selbstredend nicht davon ab, sich unter die ersten Gratulanten zu drängeln, als es darum ging, die Entwicklung des Wunderimpfstoffs aus den Mainzer Genlabors von Biontech zu feiern.

Dass die Wurzeln der grünen Bewegung tief in die Esoterik-Szene reichen, ist bekannt. Die Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei von der Universität Basel haben gerade in einer Studie die Überschneidungen zwischen dem linksalternativen Anthroposophenmilieu und der Querdenkerbewegung herausgearbeitet. Als vor drei Wochen in Freiburg eine Waldorfschule als Corona-Hotspot auffiel, ergab eine Überprüfung, dass sich viele Eltern gefälschte Maskenattests besorgt hatten, weil in dieser Welt schon das Tragen einer Maske die Spiritualität beschädigt.

Einen Narrensaum hat jede Partei, lässt sich einwenden, der bei den Grünen ist eben ein wenig größer. Dummerweise macht das Du und Du mit dem Hokuspokus auch vor dem Spitzenpersonal nicht halt.

Nehmen wir Renate Künast. Vier Jahre stand Frau Künast dem Verbraucherministerium vor, dann bewarb sie sich für das Amt des Bürgermeisters in Berlin. Man sollte meinen, so jemand sei gegen Spökenkiekerei gefeit. Aber wenn man ihre Social-Media-Accounts durchblättert, stößt man auf Bilder, die sie Arm in Arm mit der indischen Anti-Gentechnik-Aktivistin Vandana Shiva zeigen, einer Frau, die aus sicherer Quelle zu erfahren haben meint, dass der Ursprung der neuen Coronaviren im Gen-Soja liege. Nicht der Tiermarkt in Wuhan oder das Fledermauslabor sind der Herkunftsort: Nein, die Verfütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen an Kühe, das ist der Hort des Bösen!

Gern gesehener Gast auf grünen Veranstaltungen ist auch Robert F. Kennedy jr., der Neffe des ermordeten amerikanischen Präsidenten. Kennedy ist nicht nur ein willkommener Kronzeuge gegen Glyphosat, eine weitere Heimsuchung aus dem Genlabor, er ist, man ahnt es, außerdem ein entschiedener Feind der Impfung.

Ich habe bei der Recherche folgendes Zitat gefunden, es ist für jeden Grünen leicht zu googeln: „Sie bekommen die Spritze, in der Nacht haben sie 39 Grad Fieber, sie gehen schlafen, und drei Monate später ist ihr Gehirn weg. Das ist ein Holocaust, was sie unserem Land antun.“ Unter Holocaust macht es einer wie Kennedy jr. nicht.

Braucht es weitere Beispiele? Anfang Mai veranstaltete der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments eine Experten-Anhörung zur Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen. Erster Sachverständiger war auf Initiative der Grünen ein Professor, der in gleich zwei Vereinen aktiv ist, die sich seit Beginn der Pandemie neben dem Kampf gegen Gentechnik auch dem Kampf gegen die Corona-Impfung verschrieben haben.

Der eine Klub, ein Verein namens Criigen, hat in Frankreich mit einem Gutachten für Aufsehen gesorgt, in dem die Behauptung aufgestellt wurde, die in der Pandemie verwendeten mRNA-Impfstoffe könnten, falls die geimpfte Person schon mit anderen Viren infiziert sei, zu neuen Viren rekombinieren und dadurch Krebs auslösen. Der andere Verein, ein Thinktank namens Ensser, hat es sich zum Ziel gesetzt, die „offiziellen Theorien“ zu Covid-19 sowie der Schutzwirkung der Impfstoffe „kritisch“ zu hinterfragen.

Auch Ängste lassen sich geografisch zuordnen. Die Asiaten plagt die Angst vor Ansteckung. Schon vor Corona fielen japanische Touristen bei Stadtbesichtigungen durch Mundschutz auf, als hätten sie gerade eine Intensivstation verlassen. In den deutschsprachigen Ländern fürchten wir uns vor unsichtbaren Giftstoffen, die in der Nahrung lauern, und natürlich allem, was mit Strahlen verbunden ist, weshalb in guten linken Haushalten schon die Einführung einer Mikrowelle lange Zeit ein umstrittenes Thema war. Die Angst vor der genveränderten Substanz verbindet die beiden Motive Mutation und Vergiftung.

Bislang habe ich mich über die Gen-Angst immer lustig gemacht. Aber wenn schon der Frischkäse damit wirbt, garantiert „ohne Gentechnik“ zu sein, dann weiß man, dass die Sache die Globulisten-Szene verlassen und den Mainstream erreicht hat.

Eigentlich erstaunlich, dass sich 71 Prozent der Deutschen haben impfen lassen. Machen sie sich gar keine Sorgen?

©Sören Kunz

Partei des Establishments

Die Grünen leben vom Anspruch, Interessenvertreter der Jugend zu sein. Jetzt stellt sich heraus: Viele junge Menschen wählen lieber FDP. Es lässt sich kaum in Worte fassen, welche Schock- wellen dies durch die grüne Gemeinde schickt.

Vor ein paar Wochen hat der Deutsche Beamtenbund seine Mitglieder befragen lassen, wo sie politisch stehen. 32 Prozent der Beamten erklärten ihre Sympathie für die Grünen. Spitzenwert. Hätten Deutschlands Beamte am Sonntag die Bundestagswahl zu entscheiden gehabt, wäre jetzt Annalena Baerbock auf dem Weg ins Kanzleramt und nicht Olaf Scholz.

Wäre ich ein Spötter, würde ich sagen, die Zahl erklärt das enorme Ruhebedürfnis, das aus grünen Programmen spricht. Die Grünen reden ständig davon, wie fortschrittlich sie seien. Am laufenden Meter ist von dem progressiven Bündnis die Rede, das zu schmieden sie beabsichtigen. Tatsächlich ist allerdings nicht Veränderung ihr Ziel, sondern der weitreichende Schutz davor.

Der Fluchtpunkt aller Bestrebungen ist die dörfliche Idylle, in der nichts mehr raucht und lärmt. Wenn die Grünen von Stadt reden, meinen sie den Kiez und seine Bewahrung – vor dem Ausbau der Stadtautobahn, vor zu vielen Touristen und natürlich vor allen Großprojekten, wozu schon ein Riesenrad am falschen Platz gehört. Dass sich viele beim Betrachten der grünen Wahlkampagne an die repressive Heimeligkeit der 50er Jahre erinnert fühlten („Du willst etwa nicht mitmachen bei uns? Du denkst, du bist etwas Besseres?“), war kein Versehen, sondern Ankündigung.

Kann man es der Jugend verdenken, wenn sie sich nach Alternativen umsieht? Die beliebteste Partei unter Erstwählern ist die FDP, wie eine Nachwahlbefragung am Sonntag ergab. Das war natürlich ein Schock für alle Freunde der grünen Sache: Was, nicht Robert und Annalena sind die Helden der jungen Menschen, sondern Christian und Wolfgang?

Keine Umfrage hat für so viel mürrische Kommentare gesorgt. Die gleichen Leute, die eben noch wortreich erklärten, warum man mehr auf die Jugend hören müsse, waren nun dabei, über den Egoismus derselben herzuziehen. Selbst bessere Damen wie die in Feuilleton-Kreisen geschätzten Schöngeisterinnen Teresa Bücker oder Jago- da Marinic hoben indigniert den Zeigefinger, um die Freigeister zu belehren, dass Klimawandel kein Spaß sei.

Es ist etwas, was die Grünen nicht gerne hören, weil sie bis heute von dem Image zehren, irgendwie wild und ungebärdig zu sein: Aber wenn es eine Bewegung des Establishments gibt, dann die Ökobewegung. Selbst in den Führungsetagen der Wirtschaft erfreut sich die Partei inzwischen großer Beliebtheit. Die „Wirtschaftswoche“ veröffentlichte im April eine Umfrage, wonach sich ein Viertel der deutschen Führungskräfte Annalena Baerbock als Kanzlerin wünschte.

Was ich an den Grünen aufrichtig bewundere, ist ihre Fähigkeit, immer dabei zu sein, aber nie beteiligt. Sie sind mittlerweile in zehn von 16 Landesregierungen dabei. Sie haben die Mehrheit des medial-publizistischen Apparats hinter sich. Wenn Fridays for Future zum Klimastreik aufruft, gibt selbst der freundliche „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni jede Zurückhaltung auf und trommelt für eine Teilnahme. Dennoch gehen die Grünen bis heute als Oppositionspartei durch.

Schon aus diesem Grund bin ich dafür, dass sie endlich in die Bundesregierung einziehen. Wer anderen dauernd sagt, wo es längsgeht, sollte endlich auch mal nach außen Verantwortung übernehmen für das, was daraus folgt. Wobei: Sicher bin ich mir nicht, dass es so laufen wird. Wenn sie bei den Grünen eine Kunst perfektioniert haben, dann die, auch gegen eigene Entscheidungen Opposition zu betreiben, ohne dass ihnen das verübelt wird.

Viele Menschen denken, ich sei aus Prinzip gegen die Grünen. Ich habe die Grünen über Jahre gewählt, am Anfang aus Auflehnung, dann aus Bequemlichkeit. Ich kann nicht sagen, wann ich der Partei untreu wurde. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass mir die Selbstzufriedenheit auf die Nerven ging, die aus dem Bewusstsein erwächst, auf der richtigen Seite zu stehen, ja, eigentlich immer recht zu haben.

Wenn ich sagen soll, was mich an den Grünen am meisten stört, dann ist es der passiv-aggressive Ton, mit dem sie Andersdenkenden begegnen. Vermutlich schlägt hier meine linke Erziehung durch. Der Widerspruch gegen Autoritäten wurde bei mir früh angelegt. Wenn mir jemand pädagogisch kommt, suche ich das Weite.

Ich kann auch mit dem unbedingten Glauben an das segensreiche Wirken des Staates wenig anfangen. Es heißt oft, Grüne und Freidemokraten seien verwandt, weil sie aus demselben bürgerlichen Milieu stammten. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein.

Ein Mantra von Robert Habeck lautet, der Staat, das seien doch wir alle. Wo er geht und steht, fällt dieser Satz. Ich will dem grünen Parteivorsitzenden nicht zu nahe treten, aber die englischen Klassiker scheinen in seinem Philosophiestudium allenfalls am Rande vorgekommen zu sein. Hätte er sie gelesen, wüsste er, dass Staatsskepsis am Beginn der Aufklärung steht. Die Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens ist die Freiheit, sich der Obrigkeit zu widersetzen.

Es war immer ein Gedankenfehler der Linken, dass sie Staat und Gesellschaft verwechseln. Das hängt möglicherweise mit ihrer Herkunft zusammen. Ich habe mir vor Jahren mal den Spaß gemacht, die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Westdeutschland anzusehen. Keine Generation ist so restbestandsfrei in den Staatsdienst gewechselt wie die erste Generation von Bewegungslinken, die berühmten Achtundsechziger. Zwischen 1968 und 1978 stieg die Zahl der öffentlich Beschäftigten um fast 40 Prozent. Das hat es vor- und nachher nie wieder gegeben.

Der öffentliche Dienst ist eine wunderbare Sache – lebenslange Beschäftigung, 13. Monatsgehalt, überschaubare Arbeitszeit, nichts dagegen zu sagen. Nur, waren die Linken nicht angetreten, den Staat aus den Angeln zu heben, statt sich in ihm einzurichten, fragte ich mich beim Blick auf die Zahlen. Wollten sie nicht Gegenmacht entfalten, Widerstand aufbauen? Es gibt von Kurt Tucholsky den schönen Satz: „Vor einem Schalter stehen: Das ist das deutsche Schicksal. Hinter dem Schalter sitzen: Das ist das deutsche Ideal.“ Meine Lehrer wussten schon, warum sie Tucholsky verehrten.

Den Grünen hängt der Ruf an, sie seien eine Verbotspartei. Aber das trifft es nur zur Hälfte. Die Liste der Dinge, auf die man besser verzichten sollte, ist bei ihnen lang, schon wahr. In einer Diskussion machte mich neulich eine Mitarbeiterin von Annalena Baerbock darauf aufmerksam, dass einige ihrer Bekannten glaubten, die Parteivorsitzen- de wolle jetzt Haustiere verbieten. Sie war erschüttert, wie viele Leute, die sie kannte, das für bare Münze nahmen. Aus meiner Sicht zeigt es, wie tief das Image als Verbotspartei verankert ist.

Mehr als Verbote zeichnet die Grünen allerdings der anstrengende Optimismus des deutschen Pfarrhauses aus. Im Grunde gibt es kein Problem, das man nicht mit gutem Willen und Selbstdisziplin in den Griff bekommen kann. Was andere als Verbot bezeichnen, sehen die Grünen eher als Anleitung zu einem besseren Leben. Deshalb reagieren sie auch mit solchem Unverständnis, dass manche Menschen einfach nicht erkennen wollen, wie einfach es wäre, wenn alle sich ein wenig mehr am Riemen rissen.

Der Reporter Bent Freiwald vom Digital-magazin „Krautreporter“ hat sich die Tage die Mühe gemacht, mal nachzufragen, warum so viele Junge FDP wählen. „Der Wille nach Veränderung und das Ablehnen des Status quo ist der treibende Faktor“, lautete eine Antwort. „Ganz besonders während Corona ist uns einfach immer wieder gezeigt worden, dass der Staat kein Ermöglicher ist, sondern Verhinderer“, eine andere.

Man kann auch ohne Philosophiestudium zur Staatsskepsis finden, wie man sieht. Nicht für jeden jungen Menschen ist die beruhigte Welt ein Sehnsuchtsziel.

©Michael Szyszka

Mein Haus, mein Rad, mein Volvo

Mit den Grünen ist es wie mit allem, was gut und teuer ist: Man muss sie sich leisten können. Die klimagerechte Gesellschaft ist nichts für arme Schlucker. Um dabei zu sein, braucht es auch die entsprechenden Mittel

Viele Leute in meinem Milieu verhalten sich nach dem Motto: links reden, rechts leben. Ich halte es andersherum. Also rechts reden, links leben.

Meine Kinder bringe ich morgens im Lastenfahrrad zum Kindergarten (Ganztagskita, da Dual Career Couple). Für den Weg ins Büro nehme ich die S-Bahn. Im Juni kommt die Solaranlage aufs Dach. Solardächer gibt es ja leider noch nicht, anders als die grüne Parteivorsitzende meint, wenn sie im „Bild am Sonntag“-Interview ankündigt, Solardächer bei Neubauten zur Pflicht machen zu wollen.

Bislang muss man sich noch mit Solarpanels behelfen. Aber auch so darf ich mich zu den Vorzeigebürgern zählen: 11 kWp, plus Energiespeicher. Wenn endlich die Sonne vom Himmel brennt, wie von Fridays for Future versprochen, bin ich ab Sommer autark. Der nächste Schritt ist dann der eigene Brunnen. Dann brauche ich auch die Stadtwerke nicht mehr.

Gut, der SUV trübt ein wenig die Ökobilanz. Aber erstens ist es ein Volvo, der geht irgendwie als grün durch. Und haben wir nicht außerdem gerade gelernt, dass der SUV unter Anhängern der Grünen besonders beliebt ist?

Die Marktforscher der Beratungsfirma „Puls“ haben bei Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten ein Auto erworben haben (oder daran denken, in den nächsten sechs Monaten eines zu erwerben), nachgefragt, welchen Typ sie bevorzugen. 16,3 Prozent der Grünen outeten sich als Geländewagen-Fans, so viele wie bei keiner anderen Partei. Am schlechtesten schnitten Sympathisanten der Linkspartei ab. Für die ist Klassenkampf noch ein Begriff: Die sind für die SUV-Industrie und ihre Verheißungen verloren.

Den grünen Lebensstil muss man sich leisten können. Die klimagerechte Gesellschaft ist nichts für arme Schlucker. Sorry, dass ich das so deutlich sage. Um mithalten zu können, braucht man nicht nur das richtige Bewusstsein, sondern auch die entsprechenden finanziellen Mittel.

Schon ein Blick auf die Stromrechnung zeigt, dass die Klassengesellschaft nicht verschwunden ist, nur weil keiner mehr darüber redet. Fragen Sie mal einen Möbelpacker, was er davon hält, dass wir in Deutschland heute die höchsten Strompreise in Europa haben. Ich bin sicher, er wird einem mit ruhiger Stimme auseinandersetzen, dass die Energiewende nun einmal ihren Preis habe.

„Aber die Förderung, die Förderung!“, höre ich jetzt einige rufen. Leider gilt auch hier: Wer hat, dem wird gegeben. Das ist wie mit dem Milliardär, der noch in der ärgsten Wirtschaftskrise sein Vermögen mehrt, weil er über Anlagemöglichkeiten verfügt, auf die kein normaler Bürger Zugriff hat. Die Solaranlage wird großzügig von der Gemeinde gesponsert. Auch für das Lastenfahrrad gibt es in München einen Zuschuss, vorausgesetzt, es ist elektrisch.

Ich habe mich im Netz umgesehen, was die aktuellen Ausführungen kosten. Das Einsteigermodell Babboe City-E schlägt mit 2749 Euro zu Buche. Beim Urban Arrow, einem unter trendbewussten Eltern derzeit sehr beliebten E-Bike, muss man 4750 Euro auf den Tisch legen. Das sind für viele Menschen drei Jahresurlaube. Aber mei, dafür gondelt man dann garantiert CO2-neutral durch die Gegend.

Auch über das eigene Dach für die Fotovoltaikanlage verfügt, Gott sei’s geklagt, nicht jeder. Dass die grünen Pläne den Traum von der eigenen Immobilie noch weiter in die Zukunft schieben werden, darf als ausgemacht gelten. In Berlin haben sie in einem Großexperiment erprobt, welche Auswirkungen die Mietpreisbremse hat, die jetzt ins grüne Wahlprogramm soll. Die Zahl der angebotenen Mietwohnungen hat sich binnen eines Jahres halbiert. Dafür stiegen die Preise für Eigentum um 12 Prozent.

Mir soll es recht sein. Ich habe schon gekauft. Als neulich in meiner Gemeinde Bürgermeisterwahlen waren, habe ich für die grüne Kandidatin gestimmt. „Mehr Radwege sind doch gut, das hebt den Wert unseres Hauses“, sagte meine Frau, die aus der Finanzindustrie kommt und der ich auch in politischen Dingen meist folge. Nur im Bund sollte man die Grünen besser nicht ranlassen, meinte sie: Da könne zu viel Unsinn passieren.

Wen die grüne Wende wie viel kosten wird, das ist die große Frage. Vor zwei Wochen war Annalena Baerbock beim ZDF zu Gast. Wie es denn in Zukunft mit dem Fliegen aussehe, wurde sie gefragt. Ihre dort geäußerte Position lässt sich so zusammenfassen: Wir müssen verzichten, aber nichts wird eingeschränkt. Jeder könne fliegen, wohin er wolle, aber natürlich dürfe es keinen Konsum auf Kosten künftiger Generationen geben. Als die Interviewer sich mit den Antworten unzufrieden zeigten, erreichte die Kanzlerkandidatin schließlich das rettende Ufer: Der globale Flugverkehr müsse eingeschränkt werden. Globale Lösungen sind immer gut, da kann niemand etwas dagegen haben.

Das Wolkige und Wohlklingende ist die Paradedisziplin der Grünen, da macht ihnen so schnell keiner etwas vor. Parteiprogramme bringen es mit sich, dass sie sich so lesen, als wäre die ideale Gesellschaft gleich um die Ecke, wenn sich nur alle endlich ein wenig am Riemen reißen würden. Die einzige Partei, die auf jeden Schmonzes verzichtet, ist die AfD, aber dort haben sie ja auch jeden Versuch aufgegeben, sympathisch zu wirken. Trotzdem bemühen sich die meisten Parteien wenigstens, hier und dort etwas Handfestes anzubieten.

Andererseits: Warum die Wähler vergraulen, wenn es auch ohne allzu Konkretes geht? Im Prinzip ist man sich ja einig, dafür sorgt schon die erstaunliche soziale Homogenität der Anhängerschaft.

Die Grünen waren immer ein Elitenprojekt. Keine andere Partei versammelt in ihren Reihen so viele akademisch gebildete oder zumindest anakademisierte Menschen. Nirgendwo ist der Anteil derjenigen, für die Wachstum schon deshalb keine Perspektive sein muss, weil sie auf die eine oder andere Weise vom Staat leben, ähnlich groß.

Lange haben sich die Grünen ihrer Herkunft geschämt. Bei der Wahl 2013 meinten sie noch, ein ambitioniertes Sozialprogramm auflegen zu müssen, um zu beweisen, dass sie auch etwas von Hartz IV verstehen. Inzwischen zeigen die Grünen ganz unverstellt, dass sie die Partei derer sind, die die Sorge ums Materielle weitgehend überwunden haben.

Auch die Grünen wissen, dass es da draußen Menschen gibt, die ihre Kinder nicht Jonas und Lena nennen, Montessori für einen Schaumwein halten und bei Fridays for Future bereits beim Buchstabieren ins Stolpern geraten. So wie man als gebildeter Mensch ja auch weiß, dass es im Regenwald Stämme gibt, die im Lendenschurz durch die Gegend streifen und noch mit Pfeil und Bogen jagen.

Man sieht sie halt nur nie. Jeder Grüne zählt mehr migrantisch bewegte LGBTQIA+-Aktivisten in seinem Bekanntenkreis als Abkömmlinge aus der Unterschicht. Schon das Wort ruft Unbehagen hervor. Deshalb ist auch ganz viel von klimagerechter Gesellschaft die Rede, das klingt irgendwie weitläufiger als die soziale Gerechtigkeit, für die man früher bei den Linken stritt. Zur Not erhöhte man halt die Hartz-IV-Sätze. Wenn es an etwas nie mangelt in der grünen Welt, dann an Geld. Das wächst dort auf den Bäumen.

Etwa 25 Prozent der Deutschen geben in Umfragen an, im September für die Grünen stimmen zu wollen. Weitere 25 Prozent sagen, dass sie sich theoretisch vorstellen könnten, grün zu wählen. Die Parteiführung wertet dies als Zeichen, dass die Grünen inzwischen Volkspartei seien. Für mich sind die Zahlen eher Ausdruck des Wohlstands dieser Gesellschaft.

Für 50 Prozent der Deutschen sind auch 200 Euro mehr für den Mallorcaflug kein Problem. Die Erhöhung der Ticketpreise hätte im Gegenteil sogar einen Vorteil. An Bord wäre man endlich wieder mehr unter sich: weniger Plebs, mehr Baedeker. Wenn das kein Versprechen an die Anhängerschaft ist!