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Unser Joe

Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche wie Joe Biden. Aber die Entrücktheit und Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm

Also Harald Staun, der Medienkritiker der „FAS“, glaubt bestimmt noch an Joe Biden. Die Diffamierung als seniler Mann sei eine beliebte Waffe seiner politischen Gegner, schrieb er vor drei Wochen, als im Netz Bilder auftauchten, auf denen der Präsident nach einem imaginären Stuhl griff. Fast immer erwiesen sich die Videos, in denen Biden scheinbar desorientiert wirke, im Nachhinein als Fälschungen oder aus dem Kontext gerissene Szenen.

Auch Olaf Scholz steht weiter zum amerikanischen Präsidenten, wie ich doch annehmen möchte. Biden sei im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, erklärte der Kanzler am Rande des G7-Gipfels in Bari: „Das ist ein Mann, der genau weiß, was er tut.“ Ich habe die „Zeit“ noch nicht konsultiert, auch dies eine wichtige Stimme, wenn es darum ging, Zweifel am Gesundheitszustand des Anführers der freien Welt zu zerstreuen. Aber ich bin sicher, sie wird mir sagen können, weshalb Joe Biden trotz allem der richtige Mann am richtigen Platz ist.

Gut, dass es die Unterstützung aus Deutschland gibt. Darüber hinaus sieht es für den US-Präsidenten leider schlecht aus. Selbst langjährige Anhänger sind nach der TV-Debatte abgefallen. Zu alt, zu tattrig, zu verwirrt lautete das Urteil nach 90 Minuten. In gleich fünf Beiträgen legte die „New York Times“, bislang stets eine verlässliche Bank, dem 81-Jährigen nahe, für einen jüngeren Kandidaten Platz zu machen.

Ich habe mir die vollen 90 Minuten angesehen. Noch beunruhigender als die Aussetzer fand ich den leeren Gesichtsausdruck, mit dem Biden ins Studio starrte, wenn sein Gegenspieler an der Reihe war. Jeder, der sich gezwungen sah, seine Eltern im Altenheim unterzubringen, kennt diesen Ausdruck. Es war das Gesicht eines Menschen, der sich verzweifelt fragt, wo er eigentlich ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihn jemand abholt und nach Hause bringt.

Was haben sich die Berater gedacht, als sie dem Fernsehduell zustimmten? Und wer wusste alles Bescheid, wie es um Joe Biden wirklich steht? Das sind die Fragen, die sich jetzt stellen.

Bislang galt die Zwei-Biden-Theorie. Neben dem öffentlichen Biden, also dem Mann, der mit den Toten redet, imaginäre Stühle sucht und zu früh aus dem Bild läuft, wenn man ihn nicht aufhält, existiere ein zweiter, geheimer Biden im Weißen Haus, verbreiteten die Demokraten. Dieser Arbeits-Biden sei wahnsinnig präsent und detailfixiert, treibe die Mitarbeiter zu Höchstleistungen und überrasche selbst Experten mit seinem Scharfsinn. Diese Scharade ist nun krachend ans Ende gekommen.

Wir sollten nicht zu spöttisch reden, auch wir haben unseren Joe. Unser Joe heißt Olaf. Nach allem, was man weiß, leidet der Kanzler nicht an Altersschwäche, aber die Entrücktheit und die Realitätsferne, die den US-Präsidenten umgibt, die findet sich auch bei ihm. Wo Biden in die Luft starrt, lächelt Scholz alles weg. Wo der amerikanische Präsident einfach so weitermacht, als sei nichts geschehen, verteilt Scholz Selfies.

Die SPD fährt bei einer bundesweiten Wahl das schlechteste Ergebnis seit 1887 ein? Pah, es kommen auch wieder andere Zeiten. Ob er einen Kommentar habe? Nö. Es gab dann mit zwei Tagen Verspätung doch noch einen Kommentar. Quintessenz: Es ist schlecht, aber es wird gut.

Auch die Sozialdemokraten haben inzwischen eine Zwei-Körper-Theorie, an der sie sich festhalten. Hinter verschlossenen Türen sei der Kanzler mitreißend, führungsstark und zugewandt, ein Politiker, der in klaren Sätzen sage, wo es hingehen solle – so konnte man dieser Tage über den „Drinnenolaf“ lesen. Die Öffentlichkeit hingegen bekomme statt des „Drinnenolaf“ leider nur den „Draußenscholz“ zu sehen, der mit seiner spröden Art selbst treue Gefolgsleute zur Verzweiflung treibe.

Mag sein, dass es zwei Olafs gibt, so wie es ja bis zum Wochenende auch zwei Bidens gab. Für sehr viel naheliegender halte ich allerdings die Vermutung, dass der Mann, den man sieht, weitgehend identisch ist mit dem Mann, der das Land führt.

Eine gewisse Wirklichkeitsabgewandtheit gehört zum Geschäft. Wenn Sie sich als Kanzler von jeder schlechten Nachricht aus dem Konzept bringen lassen, können Sie das Regieren einstellen. Aber diese Regierung hat die Wirklichkeitsabgewandtheit noch einmal auf eine ganz neue Ebene gebracht.

Das Unglück will es, dass die Führung eines Landes die Isolation verstärkt. Wer einmal das Kanzleramt erreicht hat, lebt in einer anderen Welt. Der Apparat ist darauf ausgerichtet, seinen Bewohner von der Außenwelt abzuschirmen.

Das Zimmer des Kanzlers ist mit 142 Quadratmetern so groß wie ein Einfamilienhaus, Besucher müssen durch mehrere Sicherheitsschleusen. Aktenvorgänge werden ihm so präsentiert, dass er mit wenigen Blicken erfasst, was er wissen muss, inklusive der Antworten. Selbstverständlich bewegt sich der Regierungschef auch mit Lichtgeschwindigkeit durchs Land. Dass man stundenlang am Gleis stehen kann, weil der Zug umgeleitet wurde oder irgendwo mit Triebwerksschaden hängen geblieben ist, davon weiß er theoretisch. Schließlich war davon ja mal in der Presselage die Rede. Am eigenen Leib erfährt er davon nichts.

Hin und wieder geht es raus ins Land. Aber auch dort trifft man als Regierungschef in der Regel nur auf Menschen, die um Selfies bitten und ansonsten wahnsinnig stolz sind, dass der Kanzler da ist. Wenn er Krakeeler sieht, dann lediglich als Kulisse bei Wahlkampfauftritten. Näher als zwei Meter kommen ihm solche Schreihälse nicht, dafür sorgt die Sicherheit. Und falls doch mal jemand durchrutschen sollte, wird er mit schmerzhaftem Griff weggeführt.

Auch im Kontakt mit Wirtschaftsführern zieht sich Scholz immer mehr in seine eigene Wahrnehmungswelt zurück. Neulich traf er auf die Vertreter einiger großer Personalvermittlungsfirmen. Sie trugen ihm die Lage vor, auch die Sorge, dass sich die Arbeitslosigkeit sprunghaft verstärken könnte, wenn die Regierung nicht gegensteuert. Scholz hörte sich alles ruhig an, dann sagte er, man solle den Standort Deutschland nicht so schlecht reden. Das war seine Antwort auf die Zustandsbeschreibung der Fachleute. Der Mann, der mir von der Begegnung berichtete, war ernsthaft erschüttert. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mir die Geschichte erzählte, um sich wichtigzumachen.

Wenn man mit den Leuten des Kanzlers spricht, wie es weitergehen soll, dann klammern sie sich an zwei Hoffnungen. Die eine heißt Friedrich Merz. Wenn die Leute im September kommenden Jahres gezwungen seien, sich zwischen zwei Kandidaten zu entscheiden, werde sich die Waage zu Gunsten von Scholz senken. Die andere Hoffnung läuft unter dem Codewort „Populismus der Mitte“. So heißt die V2, die den Gegner und sein Programm pulverisieren soll. Wer weiß, vielleicht klappt es ja dieses Mal mit der Wunderwaffe, aber ich habe da Zweifel.

In den USA überlegen sie jetzt fieberhaft, wie sie Biden doch noch ersetzen können. Die neuesten Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner sich sagt: Lieber einen Mafiaboss im Weißen Haus als einen Greis, der den Lichtschalter nicht findet. So oder so sind die Aussichten für die Demokraten düster. Im August ist der Nominierungsparteitag, drei Monate später wird schon gewählt. Selbst wenn es gelingen sollte, Biden gegen einen jüngeren Kandidaten auszutauschen, hätte der kaum noch Gelegenheit, sich beim Wahlvolk bekannt zu machen.

Die SPD hätte genug Zeit für einen Wechsel an der Spitze, das ist die gute Nachricht. Die Sozialdemokraten verfügen außerdem über einen Alternativkandidaten, der nicht nur bekannt ist, sondern auch noch beliebt. Ja, man glaubt es kaum, aber mit Boris Pistorius stellt die SPD den beliebtesten Politiker Deutschlands. Der Verteidigungsminister verkörpert alles, was Scholz fehlt: Er ist führungsstark, zupackend, dazu mit einer klaren Sprache gesegnet. Und das Beste ist: Er ist das sowohl drinnen wie draußen.

© Silke Werzinger