Monat: April 2025

Kleine Paschas

65 Prozent der Schulleiter berichten von Fällen, in denen Lehrkräfte von Schülern bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Was geschieht an deutschen Schulen?

In einem Text über die Bergius-Schule in Berlin-
Friedenau bin ich an einem Satz hängen geblieben, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Bergius-
Schule hat es zu überregionaler Bekanntheit gebracht, seit sich das Lehrerkollegium in einem Brandbrief an die Schulaufsicht wandte.

Wie die Lehrer es schilderten, vergeht kein Tag ohne Beleidigungen und Bedrohungen. Auf dem Schulhof werden Böller gezündet und sowohl Schüler als auch Pausenaufsicht mit gefüllten Wasserflaschen beworfen. Regelmäßig muss die Polizei erscheinen, um die Lage zu beruhigen. Nach Bekanntwerden des Briefes machte ein Vorfall die Runde, bei dem sich ein Siebtklässler vor Jugendlichen, die ihn mit Messern und Schlagringen verfolgten, in einen angrenzenden Supermarkt flüchtete.

Zu den großen Defiziten der Schule gehöre die mangelnde Kooperation der Eltern, lautete der Satz, der mir in einer der Reportagen, die sich an den Lehrerbrief anschlossen, auffiel. Er habe Elternabende mit drei Teilnehmern erlebt, wurde ein Elternvertreter zitiert.

Ich habe mich dann an ein Gespräch erinnert, das ich vor einem halben Jahr mit einem Bekannten führte, der seine Kinder auf einem Gymnasium in Ottobrunn, einem sozial ebenfalls eher heterogenen Vorort von München, hat. Dort bietet sich ein ähnliches Bild: Die deutschen Eltern erscheinen fast alle zum Elternabend, um sich mit den Lehrkräften über den Schulalltag auszutauschen. Von den Eltern, die über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügen, ist weit und breit nichts zu sehen.

Was ist da los? Ist es ihnen egal, wie ihre Kinder abschneiden? Haben Sie keine Zeit, den Elternabend zu besuchen? Sind sie verhindert?

Eigenartigerweise wird so gut wie nie über die Eltern gesprochen, wenn es um die deutsche Bildungsmisere geht. Wenn ein deutsches Elternpaar kein Interesse am Fortkommen seiner Kinder zeigt, löst das kritische Nachfragen aus. Wenn ein türkisches oder arabisches Elternpaar unsichtbar bleibt, wird darüber vornehm hinweggesehen. Oder es heißt entschuldigend: „Die haben sicher andere Probleme.“ Doch welche Probleme könnten das sein?

Die Befunde zum Bildungsstand sind verheerend. Bei den Pisa-Ergebnissen liegt Deutschland inzwischen eher auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes als auf dem einer entwickelten Industrienation. Ein Viertel der Schüler kann 
auch nach Abschluss der neunten Klasse keinen geraden deutschen Satz schreiben. Jeder Dritte versagt beim Lösen einfacher Mathematikaufgaben.

Auf der Suche nach einer Erklärung, landet man schnell bei der sich verändernden Zusammensetzung der Schülerschaft. 40 Prozent der Kinder kommen heute aus Migrantenfamilien. In Kita und Schule sind wir das Einwanderungsland Nummer eins unter den OECD-Nationen, wie es der Bildungsredakteur der „Zeit“, Martin Spiewak, in einem aufschlussreichen Report über die pädagogische Ratlosig­keit angesichts der Vielfalt im Klassenzimmer festhielt. ­Leider ziehen wir daraus bis heute keine Schlüsse für den Bildungsauftrag. Wir tun einfach so, als ob alles so laufen würde wie vor 20 Jahren, als das deutsche Gymnasium noch der Goldstandard war.

Gibt es hervorragend ausgebildete Ärzte und Ingenieure, deren Eltern aus der Türkei, dem Libanon oder Syrien stammen? Natürlich gibt es die. Das Problem ist nur: Der Anteil ist gemessen am Bevölkerungsanteil viel zu gering.

Es sind in der Regel auch die Mädchen, die Karriere machen, nicht die Jungen. Ich sehe das Geschlechtergefälle in meinem Beruf. Im Journalismus setzen sich immer mehr Migrantenkinder durch, sie gewinnen Preise und besetzen Ressortleiterposten. Aber sie heißen so gut wie nie Omar oder Mustafa, sondern fast ausschließlich Fatma, Özlem und Ferda.

Woran das liegt? Ich würde vermuten 
am Elternhaus. Man soll ja nicht von „kleinen Paschas“ reden. Nennen wir sie deshalb „kleine Prinzchen“. Wenn ein 
Junge merkt, dass man ihm alles durchgehen lässt, weil er ein Junge ist, erlahmt die Leistungsbereitschaft. Wie soll es anders sein? Selbstverständlich sind es 
auch nie die Mädchen, sondern fast im
mer die Jungen, die wie an der Bergius-Schule über Tische und Bänke gehen.

Migration ist nicht gleich Migration, auch das gehört zum Bild. Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule 
in München besucht. In seiner Jahrgangsstufe waren Kinder aus Russland, der Ukraine, Israel, den Niederlanden. Schüler ohne Migrationshintergrund sind die Ausnahme. Ein Mädchen tut sich bis heute mit dem Lesen schwer, sie hat Legasthenie. Alle andern haben selbstverständlich keine Probleme beim Diktat. Auch Futur 1 und Futur 2 bilden sie mühelos.

Sind die Klassenkameraden meines Sohnes intelligenter als ihre muslimischen Altersgenossen? Das glaube ich nicht. Wenn die Lehrerin zum Elternabend bittet, sind alle da, auch die Eltern der Kinder, die orthodox aufwachsen. Selbstverständlich achtet jeder darauf, dass die Hausaufgaben erledigt sind und die Kleinen nicht den ganzen Tag ihre Köpfe über das iPad beugen.

Man zeige mir eine einzige muslimische Grundschule in Deutschland, deren Schüler regelmäßig bei Leistungswettbewerben unter den Top-zehn-Prozent landen, und ich schweige forthin für immer.
Alle wissen, dass es wahr ist. Deshalb setzt ja zum Beginn des Schuljahres in vielen Großstädten auch eine stille Völkerwanderung aus Vierteln ein, in denen der Migrantenanteil besonders hoch 
ist. Nicht weil die Eltern von Finn und 
Louisa nicht wollen, dass ihr Sohn 
oder ihre Tochter neben Omar und 
Fatima sitzen. Sondern weil sie genau wissen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter erhebliche Nachteile erleiden, wenn die Hälfte der Klasse aus Kindern besteht, die 
auch nach Abschluss der vierten Klasse kaum lesen und schreiben können.

Vor zwei Wochen hat das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden herausgegeben, wie sich Lehrer bei Attacken zu Wehr setzen können. Es ist ein Dokument der Kapitulation. „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone“, lautet ein Ratschlag. „Verlassen Sie das Gesichtsfeld des Angreifers, vermeiden Sie jede Eskalation.“

Wie bei der Gelegenheit zu erfahren war, berichten 65 Prozent der Schulleiter von Fällen, in denen Lehrkräfte bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Das sind irre Zahlen. Man sollte meinen, dass sie die Schlagzeilen dominieren, aber niemand scheint Notiz zu nehmen.

Ich habe die Osterferien wie jedes Jahr in Marokko verbracht. Was mir immer auffällt, wenn ich dort bin: wie höflich die Kinder sind. Hier käme kein 14-Jähriger auf die Idee, sich gegenüber einer Lehrkraft unziemlich zu verhalten oder gar die Hand gegen sie zu erheben. Und wenn er es tut, dann weiß er, was ihm blüht.

Was also ist zu tun? Der Bildungsredakteur Spiewak verweist auf Hamburg, wo man den Lehrplan angepasst hat. Deutsch wird jeden Tag in Gruppen geübt, im Chor, zu zweit, allein still vor sich hin. Deutsch ist nicht alles, aber ohne Deutschkenntnisse ist alles nichts.

Vermutlich müssen wir auch dazu kommen, dass man die Eltern stärker in die Pflicht nimmt. Wer nicht zum Elternabend erscheint, erhält eine Aufforderung von der Schule. Wer darauf nicht reagiert, bekommt Besuch vom Schulleiter. Und dort, wo ein Jugendlicher seine ­Lehrer bedroht hat, schaut die Polizei vorbei. Gefährder­ansprache nennt man das im Polizeijargon.

Die kleine Völkerwanderung, die sich jedes Jahr zum Schulbeginn in deutschen Großstädten vollzieht, gibt es mittlerweile auch im größeren Maßstab. 276 000 Bürger haben im vergangenen Jahr Deutschland den Rücken gekehrt, weil sie ­fanden, dass der Staat zu wenig bietet für das Geld, das er einem abnimmt.

Wir sollten Sorge tragen, dass sich der Trend nicht beschleunigt. Es sind nämlich in der Regel nicht die Müh­seligen und Beladenen, die das Land verlassen, sondern die Cleveren und Gutausgebildeten.

© Michael Szyszka

Das Ende der freien Presse

Im Wettbewerb der Verlage mit den internationalen Digitalmonopolisten herrscht reine Willkür. Die Antwort der Politik: freundliches Desinteresse. Dafür verfolgt man lieber Journalisten, wenn sie regierungskritische Bildchen posten

Für alle hat die neue Koalition ein Herz und ein gutes Wort. Die Rentner. Die Mütter, die auf ein wenig Ruhe nach Jahren der Plackerei hoffen. Die Gastronomen, die durch ihr freundliches Gewerbe zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen.

Die Einsamen finden Beachtung, für die extra eine „Einsamkeitsstrategie“ aufgelegt wird. Die Künstler natürlich, von denen es heißt, dass ihre Arbeit das Fundament für die Freiheit bilde. Selbst die Gegner des Bonwesens, die sich darüber ärgern, dass ihnen bei jedem Kauf ein Fetzen Papier in die Hand gedrückt wird, haben die Regierung auf ihrer Seite: Die Bonpflicht wird abgeschafft.

Nur eine Gruppe hat nichts zu erwarten: Journalisten. Auf einer Liste bedrohter Berufsstände würden Medien­leute ganz oben rangieren. Wenn man sich die Aussichten in der Medienbranche anschaut, kann man jungen Menschen nur raten: Augen auf bei der Berufswahl! Aber jeder Kabelträger beim Film oder Entwickler von Ballerspielen ist der Politik wichtiger. Sie alle erhalten Förderung oder Steueranreize oder beides zusammen.

Es hat nicht an Fürsprechern gefehlt. Der bayerische Ministerpräsident hat sich für eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Printprodukte starkgemacht. Dem Vernehmen nach war auch SPD-Chef Lars Klingbeil dafür. Doch alle Versuche, das Los der Medienschaffenden etwas zu ­bessern, scheiterten am Einspruch des künftigen Kanzlers. Hier blieb er hart. Weniger Mehrwertsteuer für Magazine? Wo kommen wir denn da hin: Sollen sie in der Presse doch sehen, wo sie bleiben!

In der Branche kursiert das Ondit, Friedrich Merz habe sich geärgert, dass er auf den Fotos, die in ihren Blättern zu sehen sind, immer so schlecht aussehe. Die Fotos aus der Pressestelle wären viel schöner. Wahrscheinlich ist das nur böse Nachrede. Anderseits: Wer Merz ein wenig kennt, glaubt es sofort.

Ich habe im Prinzip nichts dagegen, dass uns die Politik verachtet. Ich gehöre einer Generation an, die in den Journalismus ging, um denen da oben auf die Finger zu klopfen. Dass man einer Partei ein immergrünes Band der Sympathie flicht, war nicht vorgesehen.

Sicher, auch frühere Generationen kannten den Kampagnenjournalismus. Aber kein Bündnis währte lange. Willy Brandt hat sich bitterlich beschwert, als der Wind umschlug, insbesondere über das „Scheißblatt“, den „Spiegel“, der ihn erst groß- und dann kleinschrieb. Auch Helmut Schmidt und Gerhard Schröder mussten erfahren, dass auf die Journaille nicht wirklich Verlass ist. Schröder blieb am Ende nur der treue Gunter Hofmann von der „Zeit“, mit dem er im Dämmerlicht des Kanzleramtes auf den Abschied anstieß.

Es gibt im Netz wunderbare Kompilationen von Journalistenbeschimpfungen. Wie insbesondere Helmut Kohl Redakteure rundmachte, die ihm nicht passten, ist bis heute sehenswert. „Woher kommen Sie denn?“ „‚Panorama‘.“ 
„Das hätte ich mir denken können, so sehen Sie auch aus.“

Man kann nach wie vor mit Medien Geld verdienen. Aber alle erfolgreichen Neugründungen haben entweder einen solventen Verlag im Rücken. Oder einen Milliardär, der eher mäzenatisch veranlagt ist als von Gewinnabsicht getrieben. Das liegt an den Wettbewerbsbedingungen. Solange sich ein Verleger darauf verlassen konnte, dass sein Produkt an jedem Kiosk auslag, und zwar unabhängig davon, ob es dem Kioskbesitzer gefiel oder nicht, herrschte fairer Wettbewerb. In der digitalen Welt entscheiden internationale Monopolisten, welche Informationen erscheinen und welche unsichtbar bleiben.

Die Politik reagiert darauf, indem sie dort, wo sie das Sagen hat, die Schraube noch fester anzieht. Wir haben ein ausgefeiltes Wettbewerbs- und Kartellrecht, auf dessen Einhaltung peinlich genau geachtet wird. Das Gegendarstellungsrecht sucht seinesgleichen. Nur sobald es um die digitale Welt geht, strecken die Kontrollbehörden die Waffen. Da herrscht der Wilde Westen.

Kein Wunder, dass sich die Gewichte immer mehr zugunsten der Plattformkonzerne verschieben. Der internationale Werbemarkt hatte 2024 ein Volumen von einer Billion Dollar. Die Hälfte davon landete bei fünf Konzernen: Google, Amazon, Meta, Alibaba und Bytedance.

Zusagen und Vereinbarungen haben die Lebensdauer einer Stubenfliege. Viele denken, wenn siebei Google nach einer Information suchen, werde ihnen das angezeigt, was besonders wichtig oder relevant sei. In Wahrheit sehen sie nur das, was Google will, dass sie es sehen. Wenn Google findet, dass seine KI ausreichende Dienste leistet, wird gar nicht mehr auf Nachrichtenseiten verwiesen. Das ist der Traum jedes Monopolisten: die Kunden auf ewig in der eigenen Welt halten.

Mein Vorstand bei Burda, Philipp Welte, hat neulich in einem Interview mit der „FAZ“ auf die Ahnungslosigkeit der Politik hingewiesen. Oder soll man von Naivität reden? Klar, auf Jubiläen und Verbandstagen wird der freien Presse ein Kranz gewunden. Dann wird betont, wie wichtig der ungehinderte Zugang zu verlässlichen Informationen für den Fortbestand der Demokratie sei.

Aber wenn es darauf ankommt, 
das Überleben der Verlage zu sichern, herrscht freundliches Desinteresse. 
Die zuständige Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat in ihrer Amtszeit nicht ­einmal Zeit für einen Termin gefunden. Wenn Politiker das Wort „freie Presse“ 
hören, denken die meisten an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das ist ihr Hätschelkind. Da sitzt man praktischerweise gleich im Aufsichtsrat.

Auch die neue Regierung hat Vorstellungen, was sie lesen möchte, das selbstverständlich. „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehaup
tungen ist durch die Meinungsfreiheit 
nicht gedeckt“, heißt es im Koalitionsvertrag im Kapitel 
„Kultur und Medien“. Die Lüge aus der Welt zu schaffen, ist ein Projekt von geradezu biblischer Dimension. Wie das allerdings so ist mit solchen Menschheitsvorhaben: Sie scheitern meist in der Praxis.

Der Satz steht außerdem im Widerspruch zur geltenden Rechtslage. Selbstverständlich fallen ­falsche Tatsachenbehauptungen unter die Meinungsfreiheit. Es ist jedem unbenommen, die Erde für eine Scheibe zu halten und Tofu für einen geeigneten Fleischersatz – so wie man auch ungestraft behaupten darf, dass Friedrich Merz mit seinen Verhandlungskünsten selbst Donald Trump in den Schatten stellt.

Die Wahrheit ist: Wenn sie könnten, wie sie wollten, würden viele Politiker es auch bei uns gerne wie Donald Trump halten. Nur noch diejenigen zu Pressekonferenzen zulassen, von denen klar ist, dass sie Freunde des Hauses sind. Keine dummen Anquatschungen mehr, keine blöden Fragen und Vorhaltungen – das wäre das Paradies.

Hätte man jemals gehört, dass sich ein Facebook-Manager vor Gericht verantworten musste? Oder ein Mitarbeiter von X oder TikTok, über deren Manipulationsmacht die Politiker ständig Klage führen? Natürlich nicht. Das würde ja bedeuten, dass man sich mit Leuten anlegt, die über Milliardenetats zur Durchsetzung ihrer Interessen verfügen.

Da ist es doch viel einfacher, sich einen kleinen Chefredakteur vorzunehmen, der sich in einem unbedachten Post über die Regierung lustig gemacht hat. Da muss man nur die Staatsanwaltschaft in Gang setzen, und schwups steht die Polizei vor der Tür. Sieben Monate Haft für ein satirisches Bildchen der Bundesinnenministerin, wie jetzt in Bamberg als Urteil ergangen ist? Da fällt selbst Ricarda Lang die Kaffeetasse aus der Hand.

Einmal hat es Google bislang erwischt. Über Jahre haben die Verleger ein Wettbewerbsverfahren gegen das Unternehmen wegen dessen marktverzerrenden Verhaltens bei den Shoppingdiensten vorangetrieben. Im vergangenen September hat der Europäische Gerichtshof Google zu einer Strafzahlung in Höhe von insgesamt 2,4 Milliarden Euro verurteilt.

500 Millionen fließen davon in die deutsche Staatskasse. Zumindest dafür wäre ein Dankeschön angebracht.

© Sören Kunz

Die Welt als Feind

Was soll man US-Bürgern raten, die 
einen Europabesuch planen? Vielleicht 
das: bei der Bestellung im Restaurant 
im Flüsterton reden. Oder besser noch: 
sich einen falschen Akzent zulegen, damit man als Brite durchgeht

Wir sind jetzt Feinde des amerikanischen Volkes. Vergewaltiger. Plünderer. Kriminelle. So hat uns Donald Trump am „Tag der Befreiung“, an dem er der Welt den Zollkrieg erklärte, genannt. Befreiung muss man dabei durchaus wörtlich nehmen: Befreiung von jeglicher Form der Rücksichtnahme. Ein jeder für sich und die USA gegen alle, das ist die Quintessenz der neuen Doktrin.

Ganz besonders hat es der Präsident dabei auf die Europäer abgesehen. Die sind unter allen, die das amerikanische Volk ausnehmen, die Schlimmsten. Hinterhältig, verschlagen, dabei nie um eine Ausflucht verlegen, wenn sie zur Rede gestellt werden. Zölle reichen da nicht, um sie für das erlittene Unrecht zur Verantwortung zu ziehen.

Am Montag hat Trump Reparationen verlangt. Für jeden VW, jeden BMW und jeden Mercedes, der auf amerikanischen Straßen rollt, müsse eine Wiedergutmachung her. „Europa hat uns sehr schlecht behandelt“, erklärte er nach einem Golfwochenende in Florida. „Sie wollen reden. Aber es wird keine Gespräche geben, solange sie uns nicht auf einer jährlichen Basis sehr viel Geld zahlen, für die Gegenwart, aber auch für die Vergangenheit.“

Wenn man die ganze Welt zum Feind erklärt, besitzt man allerdings überall auch nur noch ­Feinde. Das ist unausweichlich. Ich persönlich bin Kummer gewohnt. 
Ich bin schon alles Mögliche genannt worden. Aber ich fürchte, viele, die Trump nun als Wegelagerer und Gauner beschimpft, sehen das nicht so entspannt.

Wäre ich US-Amerikaner, würde ich beim nächsten Europabesuch etwas leiser auftreten. Mein Rat: bei der Bestellung im Restaurant am besten im Flüsterton reden. Und im Hotel so tun, als ob man sich in der Adresse vertan hat.

Oder man legt sich einen Akzent zu, der einen als Brite 
durchgehen lässt. Notfalls funktioniert auch Australier, wenn man das mit dem nasalen englischen Tonfall nicht hinbekommt. Bondi Beach statt Oxford, das sollte selbst der 20-Jährigen aus dem Mittleren Westen gelingen.

Wobei: Die meisten aus dem Mittleren Westen waren noch nicht mal in Washington. Die Hälfte der US-Bürger 
verfügt über gar keinen Reisepass, da nimmt man die Abneigung im Ausland gleich gelassener.

Wenn man in Rom, Wien oder Venedig auf einen Amerikaner trifft, ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Wähler der Demokraten. Hilft alles nichts – 
mitgehangen, mitgefangen. Nach dem Überfall auf die Ukraine haben wir bei den Russen auch keine großen Unterschiede gemacht. So ist das, wenn man jemanden wählt, 
der allen den Stinkefinger zeigt: Dann weisen drei Finger auf einen zurück.

Vielleicht helfen Buttons am Revers. „Ich habe nicht für Trump gestimmt und werde es auch nie tun“. So wie die Bumper-Sticker, mit denen man sich als Tesla-Käufer von Elon Musk distanzieren kann („I bought this car before Elon went crazy“). Ist zugegeben nicht besonders subtil, aber es käme auf den Versuch an.

Was ist schlimmer als ein Bully, der alle herumschubst? Ein Bully, der in Selbstmitleid zerfließt, wie gemein doch die anderen zu ihm seien. Die USA dominieren die Unterhaltungsindustrie, die Ölindustrie, die Finanzindustrie. In der Tech-Welt ist ihre Übermacht so erdrückend, dass praktisch kein Handy und kein Computer mehr ohne ihre Hilfe auskommt. Von den 25 wertvollsten Firmen der Welt stammen 23 aus den Vereinigten Staaten.

Aber im US-Fernsehen steht Trumps Heimatschutzberater Stephen Miller und erklärt mit vor Empörung bebender Stimme, dass auf deutschen Straßen kein amerikanisches Auto zu sehen sei. Amerikanische Steaks gibt es angeblich auch nirgends zu kaufen, weil das amerikanische Fleisch „beautiful“ ist und das europäische „weak“, weshalb man das schwache Fleisch durch Handelstricks vor dem schönen schützen müsse.

Diese Erkenntnis stammt von dem neuen Handelsminister Howard Lutnick. Keine Ahnung, wann der Mann das letzte Mal in Deutschland war. 
Ich lade Lutnick gerne ein, die Fleisch
theke beim Simmel, dem Edeka-Markt bei mir um die Ecke, zu inspizieren. US-Prime-Beef findet sich dort in nahezu jedem Reifegrad und jeder Schnittform, als Tomahawk, T-Bone oder Ribeye, ganz wie der Kunde aus München es wünscht.

In den Medien gilt die Trump-Bewegung als rechtspopulistisch. Das ist das Wort, das sich eingebürgert hat. Tatsächlich reden die Spitzenleute so, als ob sie mit 30 Jahren Verspätung den Weg aus der „Globalisierungsfalle“ finden wollen, wie der Bestseller der Antiglobalisierungsbewegung hieß.

Ständig ist vom ehrlichen Stahlkocher und tapferen ­Farmarbeiter die Rede, denen man ihre Jobs zurückbringen werde. Klingt super, alle Gewerkschafter nicken begeistert. Leider wird übersehen, was ein Paar Nike-Sneaker kosten, wenn man sie nicht mehr in China, sondern in New Jersey produzieren lässt. Auch die Bananen und Kaffeebohnen, die man demnächst in Florida und Mississippi anbaut, kommen mit einem ordentlichen Preisschild.

Das ganze Zollprogramm läuft auf die größte Steuererhöhung der jüngeren amerikanischen Geschichte hinaus. Es sind ja nicht irgendwelche ominösen Ausländer, die man zur Kasse bitten kann. Es sind die heimischen Konsumenten, die den Strafzoll zahlen, wenn sie sich für ein Produkt aus Übersee entscheiden.

Was ist die Idee? Das wird von Tag 
zu Tag unklarer. Peter Navarro, das Mastermind hinter Trumps Zollkrieg, sagt: die Globalisierung beenden und die Arbeitsplätze nach Amerika zurückbringen. Das wäre der Ausstieg 
der USA aus dem Welthandel.

Oder geht es darum, die anderen dazu zu bringen, die Zölle auf amerikanische Produkte zu senken? Aber dann müsste man über Zölle sprechen und nicht über Handelsdefizite. Die lassen sich nicht beseitigen, indem man einfach auf alles, was man ins Land lässt, 20 Prozent draufschlägt.

Das Urteil der Wall Street fällt brutal aus. Das Goldene Zeitalter, das Trump seinen Wählern versprochen hat, be­­ginnt mit der größten Vernichtung von Wohlstand, die ein US-Präsident je auf den Weg brachte. Den „weitreichendsten, unnötigsten und zerstörerischsten wirtschaftlichen 
Fehler in der Moderne“ nennt der „Economist“ Trumps 
Programm. Es fällt schwer zu widersprechen.

Wie es weitergeht? In diesem Ringen sitzen wir ausnahmsweise mal am längeren Hebel. Auch die Deutschen besitzen Aktien, aber lange nicht im gleichen Umfang wie die Amerikaner. 160 Millionen US-Bürger haben ihr Geld am Aktien­markt angelegt. Ein Freund aus Washington rechnete mir am Telefon vor, dass ihn die vergangenen Tage 50 000 Dollar gekostet hätten. Er ist mit seinem Verlust nicht alleine.

Wenn man in Echtzeit sieht, wie sich die Altersvorsorge auflöst, ist es mit dem Vertrauen in die Weisheit der ­Politik schnell vorbei. Da kann der Finanzminister im Fernsehen noch so oft erklären, dass sich alles wieder einpendeln werde und dass es doch toll sei, wie „smoothly“ die Finanzmärkte reagieren würden.

Es wird einsam werden. Um 70 Prozent sind die Buchungen aus Kanada eingebrochen. Auch andere werden sich überlegen, ob sie das Wagnis einer USA-Reise eingehen wollen. Man weiß ja nicht, ob man überhaupt reinkommt – oder wieder raus. Anderseits: Nach Yosemite und Yellowstone kann man 
im nächsten Sommer ohnehin nicht mehr. Die Ranger hat der Elon ja alle entlassen.

Die Einzigen, die hierzulande tapfer zu Trump halten, 
sind die Leute von der AfD. Bei der AfD glauben sie noch, Trump sei einer der ihren. Wie nennt man eine Partei, deren Funktionäre einem ausländischen Staatsmann die Daumen drücken, der Millionen deutscher Fabrik­arbeiter um ihre Jobs bringen und die Basis des deutschen Wohlstands zerstören will? Mir fällt gerade das richtige Wort nicht ein. Patriot ist es jedenfalls nicht.

© Silke Werzinger

18 Stunden

Australien hat Social Media für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Auch in England denkt man über Altersbeschränkungen nach. Nur den Koalitionären in Berlin scheint die psychische Gesundheit von Kindern nicht so wichtig zu sein

Stellen Sie sich vor, Ihre zehn Jahre alte Tochter wurde von einem visionären Milliardär für ein Mars-Besiedlungsprogramm ausgewählt. Kinder kämen mit den ungewöhnlichen Lebensbedingungen, die auf dem Mars herrschen, besser zurecht als Erwachsene, heißt es. Nachdem sie die Pubertät durchlaufen haben, werde ihr Körper dauerhaft auf den neuen Lebensraum zugeschnitten sein. So beginnt Jonathan Haidts Buch „Generation Angst“.

Ihnen ist die Sache verständlicherweise nicht ganz geheuer. Da ist die Strahlung. Man versichert Ihnen, dass Astronauten kein signifikant höheres Krebsrisiko hätten als andere Menschen. Aber Studien über einen längeren Aufenthalt im All existieren verständlicherweise nicht. Man müsste es also darauf ankommen lassen.

Dazu kommt das Problem mit der Schwerkraft. Schon nach wenigen Wochen verändert sich der Körper in der Schwerelosigkeit. Die Knochendichte nimmt ab, Körperflüssigkeiten sammeln sich an Stellen, wo sie es besser nicht tun sollten, zum Beispiel im Kopf, was zu Druck auf die Augäpfel führt. Welche Fehlbildungen die geringere Marsgravitation bei Körpern, die sich noch im Wachstum befinden, zur Folge hätte, ist völlig unklar.

Würden Sie unter diesen Umständen Ihr Kind dem Mann anvertrauen, der den Mars besiedeln will? Die Antwort jedes verantwortlich handelnden Elternteils wäre: selbstverständlich nicht. Wa­rum lassen wir es dann zu, dass Unternehmen unsere Kinder in eine virtuelle Welt entführen, wo sie als Testkandi­daten für eine radikal neue Form des Heranwachsens dienen, die im Gegensatz zu 140 000 Jahren Evolution steht, fragt Haidt.

Durchschnittlich 18 Stunden pro Woche verbringen schon Zehnjäh­rige am Handy oder vor dem Computer. Was den schädlichen Einfluss angeht, ist man in diesem Fall nicht mehr auf Vermutungen angewiesen. Jugendliche, die sich weitgehend unkontrolliert auf Social Media bewegen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Angststörungen und Depressionen zu erkranken, sie zeigen häufiger Essstörungen wie Magersucht und Bulimie und entwickeln ein deutlich vermindertes Selbstvertrauen.

In besonders schlimmen Fällen werden sie suizidal, weil ihre Chatgruppe sich gegen sie wendet. Kinder an die Macht? Das kann nur jemand fordern, der keine Ahnung hat, zu welch destruktiver Energie Zwölfjährige fähig sind.

Seit die KI uns künstliche Gefährten zur Seite stellt, braucht es noch nicht einmal Klassenkameraden, damit sich das Leben verdüstert. Die „Spiegel“-Reporterin Frauke Hunfeld hat gerade in einem aufsehenerregenden Text den Fall eines 14-Jährigen aus Florida nachgezeichnet, der sich in einen Chatbot verliebte und sich dann das Leben nahm, als ihm die Maschine den Befehl gab, sich mit ihr zu vereinen. „Character.ai“ heißt die Plattform. Im August 2024 hat Google für 2,7 Milliarden Dollar die Lizenz erworben.

Den Eltern kann man keinen Vorwurf machen. Als sich ihr Kind immer mehr in sein Zimmer zurückzog, haben sie alles kontrolliert: TikTok, WhatsApp, Facebook. Sie fanden dort nichts Beunruhigendes. Woher hätten sie ahnen sollen, dass das Unheil in dem Fall über die Suchmaschine kam? Sorry, sagen die Anwälte von Google. Der tragische Tod täte ihnen leid, aber sie seien nicht haftbar zu machen.

Wir haben alles reguliert. Das Spielgerät ist TÜV-geprüft, Kindersitze gleichen Hightechgeräten. Der Kinderbrei ist selbstverständlich BPA-frei und in jeder Hinsicht 
als unbedenklich zertifiziert. Doch ausgerechnet bei 
den digitalen Medien, mit denen sich die Kinder den
lieben langen Tag beschäftigten, vertrauen wir auf 
die Zusicherung der amerikanischen Konzerne, dass alles 
schon seine Richtigkeit habe.

Es gibt erste Gegenwehr. Australien hat den Zugang zu sozialen Medien für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. In Großbritannien wird diskutiert, ob man dem Beispiel folgen soll. Auslöser ist dort die Netflix-Serie „Adolescence“, in der ein 13-Jähriger seine Mitschülerin ersticht, weil er sich auf Instagram gemobbt fühlt. In Deutschland soll es jetzt in Hessen und Baden-Württemberg ein Handyverbot an Schulen geben. Aber das war es bei uns bislang.

Interessanterweise sieht man vor allem in linksliberalen Zeitungen strengere Regeln skeptisch. Die Gefahren würden weit übertrieben, heißt es. Minderjährige müssten halt lernen, verantwortlich mit den Neuen Medien umzugehen. Das erinnert an das Argument der Waffenindustrie: Es sind nicht die Waffen, die töten, sondern es sind die Menschen, die sie unsachgemäß benutzen.

Es ist wirklich verrückt. Viele Eltern lassen den Nachwuchs keinen Meter mehr aus den Augen. Mancherorts muss die Polizei morgens Sperrzonen errichten, weil die Zahl der Elterntaxis überhandnimmt. Aber sobald die Tür hinter den Kindern zufällt, überlässt man sie für Stunden der Obhut von Internetmilliardären, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie sozial schwer gestört sind.

Welches Suchtpotenzial die digitalen Ablenkungswelten entwickeln, weiß jeder, der über ein Smartphone verfügt. Die Apps sind so programmiert, dass sie direkt das Belohnungszentrum im Hirn ansprechen. Wir erziehen die Kinder zu Junkies und wundern uns dann, wenn sie die Hände nicht vom Telefon lassen können.

Ein Argument, mit dem sich jedes Elternpaar herumschlagen muss: „Aber der Jonas darf das auch.“ Was übersetzt so viel heißt wie: Wollt ihr, dass ich zum Außenseiter werde, gehänselt und verlacht? Es ist ein sehr wirksames Argument. Ich habe fünf Kinder. Die beiden ältesten sind, Gott sei Dank, schon aus dem Gröbsten raus. Aber mit den Kleinen ist es jedes Mal wieder ein Kampf.

Auf eine Art freiwillige Selbstkontrolle der Konzerne zu setzen, scheint mir kein geeignetes Konzept. Das ist so, als ob man dem Schlachter die Kontrolle des Schlachthofs übertragen würde. Kann gut gehen, wenn der Schlachter das Herz einer Nonne hat. Doch in der Regel siegt die Profitgier.

Die staatlichen Kontrollinstanzen? Sind heillos überfordert. Jugendschutz ist ein hohes Gut, aber bei den Techkonzernen streckt man die Waffen. Da reicht ein Klick, mit dem man erklärt, dass man das 16. Lebensjahr erreicht hat, und schon steht einem alles offen. Niemand könne von ihnen verlangen, das Alter der Kunden genauer zu prüfen, heißt es zur Begründung.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr neige ich dazu, das australische Modell für nachahmenswert zu halten. Es wird immer Jugendliche geben, die ein Verbot umgehen. Aber das ist wie mit dem Alkohol. Auch der ist überall verfügbar. Dennoch käme niemand auf die Idee, die Altersbeschränkung beim Verkauf aufzuheben.

Ich habe in den Entwurf für den Koalitionsvertrag gesehen. An alles haben die Unterhändler gedacht: die Einführung einer obligatorischen Elementarversicherung für Hauseigentümer. Die Bekämpfung des illegalen Glücksspiels. Die gesundheitlichen Belange der queeren Community. Selbst die Regulierung des Ticketzweitmarkts für Sportveranstaltungen, um Verbraucher vor überhöhten Preisen zu schützen, ist ihnen eine Erwähnung wert.

Nur die psychische Gesundheit unserer Kinder scheint auch für die neue Regierung kein Thema zu sein. Das Einzige, was sich dazu findet, ist ein Wischiwaschi-Satz, wonach das Aufwachsen mit digitalen Medien Medienkompetenz brauche. Altersbeschränkungen für Minderjährige, Sicherheitsvorgaben an die Techkonzerne? Dazu kein Wort.

Aber das ließe sich ja noch ändern, nicht wahr? Weshalb nicht in den Koalitionsvertrag einen Passus aufnehmen, was man unter Jugendschutz im Zeitalter von Social Media versteht? Es gibt in Deutschland elf Millionen Kinder unter 14 Jahren. Da die meisten bei ihren Eltern leben, darf man davon ausgehen, dass es sich um eine nicht ganz unbedeutende Wählergruppe handelt – größer jedenfalls als die Anhänger des illegalen Glücksspiels oder die queere Community. ­Warum nicht mal zur Abwechslung etwas für die Mehrheit tun? Die wäre dafür dankbar.

© Michael Szyszka