Schlagwort: Corona

Zero Covid Forever

Wurde uns nicht China eben noch als Labor der Moderne angepriesen? Und nun? Nun stecken sie Teststäbchen in Lachse und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt

Ich bin in meinem Leben in vielen Ländern der Welt gewesen. Ich gehöre zu einer Generation, die noch ohne schlechtes Gewissen fliegen durfte. Eigentlich hat es mir überall gut gefallen.

Ich war auch einmal in China. Ich war bei einem Staatsbesuch dort, als Mitglied der journalistischen Entourage des Bundespräsidenten.

Touristisch gesehen lässt sich nichts aussetzen. Das Land hat atemberaubende Landschaften zu bieten. Die Verbotene Stadt gehört zu den architektonischen Wunderwerken, die man gesehen haben muss. Shanghai ist eine Megalopolis, die so schnell ihr Gesicht ändert, dass alle sechs Monate der Stadtplan überholt ist.

In Peking waren wir zu einem Staatsbankett eingeladen. Wir saßen an 12er-Tischen. Mein Sitznachbar zur Rechten war irgendein hohes Tier im Staatsapparat, mein Nachbar zur Linken machte was mit Finanzen.

Wenn Sie jemals eine Einladung zu einem Staatsdinner erhalten sollten, überlegen Sie es sich gut, ob Sie teilnehmen wollen. Es ist in der Regel eine sterbenslangweilige Veranstaltung. Das lässt man sich natürlich nicht anmerken. Schließlich ist man ja nicht als Privatperson eingeladen, sondern als Vertreter seines Landes. Also versucht man, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Ich bemühte mich auf Englisch, ein Gespräch ins Laufen zu bringen. Aber da war ich erkennbar an die Falschen geraten. Der Chinese zu meiner Rechten tippte die ganze Zeit ungerührt in sein Handy, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Nachbar zur Linken drehte mir den Rücken zu und telefonierte ungezwungen, während er gleichzeitig seine Suppe schlürfte. Der einzige Trost war: Meinen Mitreisenden erging es nicht besser, wie mir ein Blick über die anderen Tische sagte.

Ich muss zugeben, diese Erfahrung hat mein Bild von China als Kulturland ein wenig getrübt. Ich bin überzeugt, es gibt auch ganz reizende, bescheidene Chinesen, die wissen, wie man sich Fremden gegenüber so benimmt, dass sie nicht das Gefühl haben, Gastfreundschaft sei ein Schimpfwort. Ich habe sie nur nicht kennengelernt.

Das Irre an den Chinesen ist: Sie halten sich für die Krone der Schöpfung. Ich glaube, es gibt kein Volk, das so von sich eingenommen ist wie das chinesische. Jeder, der nicht so ist wie sie, gilt als Mensch zweiter Klasse – wenn’s hochkommt. Ich hätte gedacht, bei einer Nation, der man mühsam abgewöhnen muss, nicht bei jeder Gelegenheit auf den Boden zu spucken, sei zivilisatorisch noch Luft nach oben, wie es so schön heißt. Aber das ist vermutlich diese typische europäische Hochnäsigkeit.

Warum diese kleine Vorrede? Weil ich seit Wochen in den Zeitungen Berichte finde, wie sie in Shanghai einen Lockdown nach dem anderen verhängen. Auch in Peking fürchten die Bürger eine neue Ausgangssperre.

Niemand darf die Wohnung verlassen, nicht einmal für den Gang mit dem Hund. Durch die Straßen patrouillieren Roboter, die die Menschen ermahnen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Sie hungern. Seit Bewohner in Shanghai auf ihren Balkon traten, um ihre Verzweiflung herauszuschreien, ist auch das Betreten des Balkons verboten. Wer dabei erwischt wird, wie er das Balkonfenster öffnet, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen.

Noch schlimmer dran sind nur diejenigen, die das Unglück haben, in einem der Quarantänezentren zu landen. Die hygienischen Bedingungen in den Lagern sind so katastrophal, dass man sich garantiert ansteckt, wenn nicht mit Covid, dann mit einer anderen schrecklichen Krankheit. Es gibt Berichte über alte Menschen, die sie nachts aus ihren Betten zerren, um sie abzusondern. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, Babys von ihren Müttern. Niemand ist mehr sicher.

Ich lese die Berichte aus Shanghai mit einer Mischung aus Faszination und Grusel. Wurde uns nicht China bis eben noch als Mekka der Hochtechnologie angepriesen? Als das Land, in dem alles zehnmal so schnell geht wie bei uns? Als Zukunftslabor des Kapitalismus und Leuchtturm der Moderne? Und nun stecken sie Teststäbchen in Lachse, weil das Virus angeblich über norwegische Lachsbestände eingeschleppt wurde, und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt. Ich habe mir die Moderne anders vorgestellt.

Überall in der Welt beginnt das Leben wieder normal zu laufen, nur in China nicht. Warum? Weil den Chinesen der Nationalstolz verbietet, sich mit einem Impfstoff impfen zu lassen, der funktioniert. Es gibt einen chinesischen Impfstoff, doch der taugt nichts gegen Omikron. Es ist halt eine Sache, Adidas-Sneaker oder Kettensägen von Stihl zu kopieren, und eine ganz andere, einen mRNA-Impfstoff abzukupfern. Mit Biontech gibt es einen Vertrag über die Lieferung von 100 Millionen Impfdosen, aber es fehlt die Zulassung, weil die Staatsführung den Einsatz als Eingeständnis der Schwäche sieht. Also bleibt nur der Dauerlockdown. Zero Covid Forever.

Ich habe nie verstanden, wie man es in China aushalten kann. Diese Mischung aus Crony-Kapitalismus, Kontrollsucht und unverstellter Aggressivität würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber ich bin vielen Leuten begegnet, die von China schwärmten. Die Geschwindigkeit, sagten sie, die Effizienz! Von Asien lernen hieße Siegen lernen.

Das galt auch lange für Corona. Erinnern Sie sich noch, vor zwei Jahren, als bei uns in den Talkshows lauter junge Frauen mit asiatischem Migrationshintergrund saßen, die uns genau erklären konnten, was sie weit im Osten alles besser machen würden als wir? Es ist um die No-Covid-Freunde erkennbar stiller geworden.

Ein ganz großer China-Fan war Angela Merkel. Sie bekam leuchtende Augen, wenn sie von ihren Besuchen bei Xi Jinping sprach. Kein Kanzler hat die Volksrepublik so oft besucht wie sie. Zwölfmal war sie in ihrer Amtszeit dort. Ich glaube, sie bewunderte Xi Jinping insgeheim dafür, wie er das Land regierte. Einmal so durchregieren können wie er, ohne dummerhafte Reinquatschereien von der Seite, das wäre auch ihr Traum gewesen. Man würde gerne wissen, wie sie das heute sieht. Aber sie ist ja verschwunden.

Vielleicht sollten wir in Zukunft genauer hinsehen, von wem wir uns wirtschaftlich abhängig machen. Ich bin nicht dafür, sich abzuschotten oder die Globalisierung zurückzudrehen, ganz und gar nicht. Aber es wäre doch schön, wir würden nicht den Fehler wiederholen, den wir mit Russland gemacht haben. Wer 1,5 Millionen Menschen in Umerziehungslager steckt, nur weil sie einer Religionsgemeinschaft angehören, der sie an der Staatsspitze misstrauen, dem ist alles zuzutrauen, auch im Bösen.

Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping hat vor einem Jahr über den Kampf gegen Covid-19 gesagt: „Beurteilt danach, wie die Pandemie von unterschiedlichen Regierungen und politischen Systemen gehandhabt worden ist, können wir klar sehen, wer besser ist.“ Da sah es noch so aus, als würde China als Musterland durch die Krise kommen.

Xi Jinping will im Herbst wiedergewählt werden. Dafür hat er extra die Verfassung ändern lassen. Er ist dann noch länger an der Macht als Mao. Ich sehe keinen Grund, ihm zu widersprechen. „Beurteilt nach den Ergebnissen…“: klar, warum nicht?

©Sören Kunz

„Beendet diesen Irrsinn endlich!“

Wir erleben eine neue Spaltung der Gesellschaft: dieses Mal nicht in Impfgegner und Impfbefürworter, sondern in Menschen, die ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, und andere, die sich genau davor fürchten

Es gibt ein neues politisches Kampfwort. Das Wort lautet „Durchseuchung“. Es ist ein böses, ein eisiges Wort. Man begegnet ihm auf Schritt und Tritt bei Menschen, die es unmöglich finden, dass trotz steigender Infektionszahlen alles weiter offen gehalten wird, insbesondere die Schulen und Kindergärten.

Sie könnten auch vom Lauf der Pandemie sprechen oder einfach sagen, dass das Virus gerade unter Kindern und Jugendlichen besonders grassiert. Aber das würde nicht so dramatisch klingen. Außerdem will man ja zu verstehen geben, dass die Regierung dahintersteckt.

Das ist die Idee bei dem Wort: dass es einen Plan der Mächtigen gibt, Minderjährige systematisch dem Virus auszusetzen, damit irgendwann alle infiziert sind und man zur Tagesordnung übergehen kann. Gewissermaßen die Virenchip-Theorie von links: Was dem Querdenker der Gates-Plan ist, wonach wir alle durch das Virus zu Befehlsempfängern der Wirtschaft gemacht werden sollen, das ist dem No-Covid-Anhänger die Durchseuchungsstrategie.

Sie denken, ich sauge mir das aus den Fingern? Das ist Originalton Jan Böhmermann, also Verschwörungstheorie mit ZDF-Siegel: „Die Wirtschaft verlangt, dass Eltern ihre Kinder in Schulen und Kindergärten stecken wollen. Husti, husti, auf geht’s Kids! Husti, husti.“

Meine Tochter hat im Januar das Virus aus der Kita nach Hause gebracht. Sie war einen Tag so schlapp, dass sie auf mir einschlief. Der PCR-Test fiel negativ aus. Das müsse nichts bedeuten, erklärte mir die Kinderärztin: Das Zeitfenster, in dem man das Virus bei Kindern nachweisen könne, sei eng.

Bei meiner anderen Tochter, zehn Monate alt, war dann auch der PCR-Test positiv. Sie hatte zwei Tage hohes Fieber, anschließend ging es wieder aufwärts. Beim Sohn wissen wir nicht, ob er sich angesteckt hat. Er zeigte keine Symptome. Aber ich gehe inzwischen fast davon aus, dass er die Krankheit hatte. Hat einer in der Familie Omikron, haben es in der Regel alle.

Ich will nicht so weit gehen wie Böhmermann, der Kinder mit Ratten verglich. Aber in dem Punkt hat er recht: Wer kleine Kinder hat, der entkommt dem Virus nicht. Entweder es erwischt einen über den Kindergarten oder über die Schule.

Ich beruhige mich damit, dass das Risiko, als Geimpfter ernsthaft zu erkranken, verschwindend gering ist. Bei Kindern liegt die Hospitalisierungsrate selbst ohne Impfung nahe null. Aber vielleicht nehme ich die Sache zu sehr auf die leichte Schulter.

In der „FAZ“ stand vor wenigen Tagen der Erlebnisbericht einer Mutter, die schilderte, wie sie den Glauben an Karl Lauterbach verlor. Sie habe gedacht, mit Lauterbach als Gesundheitsminister sei sie geschützt, der passe gut auf die Menschen auf. Dann steckte sich die ganze Familie mit Corona an.

„Ich sitze auf dem Rand der Badewanne und weine hemmungslos“, so begann der Bericht. Es folgte eine detaillierte Schilderung des häuslichen Elends: der Mann mit Glieder- und Halsschmerzen auf der Schlafcouch im Keller, Küche und Wohnzimmer ein einziges Chaos. Früher hätte man gesagt: Gott, wie’s halt aussieht, wenn einen die Grippe niederstreckt. Aber so darf man das nicht mehr sehen.

Dies ist ein Eintrag, den der Privatdozent Raphael Berger von der Uni Salzburg am 6. Februar im Netz hinterließ: „Wir haben jetzt mit meiner Teenagertochter den ersten Covid-Fall in der Familie. Sie hat den 2. Tag in Folge mittelstarke Halsschmerzen & ich finde, da hört sich langsam der Spaß auf. Beendet diesen Irrsinn endlich!“

Es gibt eine neue Spaltung der Gesellschaft: dieses Mal nicht in Impfgegner und Impfbefürworter, sondern in Menschen, die ein Ende der Corona-Maßnahmen herbeisehnen, und andere, die sich genau davor fürchten.

Die Spaltung lässt sich auch soziodemografisch beschreiben. Die alleinerziehende Mutter oder die prekär Beschäftigte mit Migrationsgeschichte sind im Kreis der No-Covid-Befürworter, die gerne wieder alle nach Hause schicken würden, nur selten anzutreffen. Dafür findet man dort überdurchschnittlich viele Menschen mit Hochschulabschluss und Mittelschichtshintergrund.

Die „New York Times“ widmete vor zwei Wochen eine ganze Ausgabe ihres Podcasts „The Daily“ der Frage, wie die Leute heute zur Pandemie stehen. Ergebnis: Die Virusangst verhält sich umgekehrt proportional zum Ansteckungsrisiko. Am meisten fürchten sich diejenigen, die objektiv am besten geschützt sind, weil sie alle Impfungen haben und sich bei Bedarf ins Homeoffice zurückziehen können.

Vielleicht ist die Angst vor dem Virus eine Frage der Bildung und damit des Medienkonsums. Wer mehr liest, der liest auch mehr, wovor er sich fürchten kann. Wenn es nicht mehr das Virus selbst ist, weil es seinen tödlichen Stachel verloren hat, dann sind es die Spätfolgen einer Erkrankung.

Long Covid heißt das neue Schreckgespenst. Für die ganz Kleinen kommt PIMS hinzu, eine seltene, aber hochgefährliche Autoimmunerkrankung. Kaum ein Artikel kommt ohne Hinweis auf mögliche Folgen aus. Ich will um Himmels willen nicht die Gefährlichkeit bestreiten. Meine Schwägerin leidet seit Jahren unter einem chronischen Erschöpfungssyndrom. Ich weiß aus erster Hand, welche Einschränkungen ein Leben mit dieser Krankheit bedeutet. Aber wie wahrscheinlich ist es, an Long Covid zu erkranken?

40 Prozent der Infizierten würden an Langzeitfolgen leiden, stand im Dezember in den Zeitungen mit Bezug auf eine Studie der Uni Mainz. Das würde bedeuten, dass Millionen Deutsche Symptome entwickeln werden. Eine bemerkenswerte Sache scheint dabei zu sein: Man bekommt Long Covid auch, wenn man nie an Corona erkrankt ist. So stand es im Kleingedruckten der Studie, worauf mich ein Freund hinwies.

Auffällig sei, dass auch Personen, die keine Sars-CoV-2- Infektion durchgemacht hätten, über ähnliche Symptome berichteten, las man dort. Wir können also festhalten: Wir haben es mit einer Erkrankung zu tun, die völlig unabhängig vom Virus auftritt. Das ist so bestürzend wie erleichternd. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, ob man sich schützt oder nicht.

Meine Kinderärztin berichtete von zwei Gruppen von Kindern, die nach zwei Jahren schwere Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Die eine Gruppe, die es schwer getroffen hat, sind die Kinder von Impfgegnern. Manche Leute gehen offenbar so weit, dass sie auch jeden Test ablehnen. So sitzen die Kinder dann in der Schule, ungetestet und ungeimpft, Außenseiter par excellence, weil die Eltern beschlossen haben, dass man den Kleinen nicht mal mit einem Wattestäbchen zu nahe kommen dürfe.

Die andere Gruppe, die nach Aussage der Ärztin schlimm dran ist, sind die Kinder von Eltern, die in panischer Angst vor Ansteckung leben. Daran hat auch die Impfung nichts ändern können. Man mache sich keine Vorstellung, sagte sie, was es für ein Kind bedeute, wenn ihm von morgens bis abends eingebleut werde, dass draußen ein tödliches Virus lauere.

Wie sieht die Zukunft aus? Es gibt ja immer eine neue Variante, vor der man sich ängstigen muss, und damit eine neue Welle. Wenn man auf Abstandsregeln, Impfung und Maske nicht vertrauen kann, dann bleibt nur die dauerhafte Selbstabschließung der Gesellschaft.

Das exakt ist das, was empfohlen wird: zu Hause im Bett bleiben. So wie die Kolumnistin Margarete Stokowski, die nach überstandener Omikron-Erkrankung jetzt schrieb, dass das „Projekt Durchseuchung“ zeige, wie vielen Menschen der „faschistische Gedanke“ gefalle, dass man auf die Schwächsten gut und gerne verzichten könne.

Ich fand bislang, dass die Entscheidung, die Kinder nicht wieder zu Hause einzusperren, für die Politik spricht. Aber was verstehe ich schon von Faschismus.

©Michael Szyszka

Im Reich des Schattens

Wir sind Meister darin, politische Modewörter zu erfinden. Statt von Schwachen redet man heute von „Vulnerablen“. Aber wenn es darauf ankommt, ist niemand in der Politik zu erreichen, wie das Schicksal der Schattenfamilien zeigt

Ich habe das Wort „Schattenfamilie“ zum ersten Mal gehört, als ich auf Twitter die Kommentare unter einem Beitrag von mir zu den Corona-Maßnahmen durchsah. Ein Leser fragte mich, ob ich nicht einmal über das Schicksal dieser Familien schreiben wolle. Das sei doch ein lohnendes Thema. Er könne mir da die wildesten Geschichten erzählen.

Das Wort leitet sich von „Schattenkind“ ab. So bezeichnet man ein Kind, das einen Geschwisterteil hat, der behindert ist oder an einer chronischen Krankheit leidet und deshalb die meiste Aufmerksamkeit der Eltern erhält. Schattenfamilien sind demnach Familien, die im Schatten eines solchen Sorgenkinds leben.

Der Begriff hat sich in der Pandemie etabliert. Viele Menschen fürchten sich vor Ansteckung, weil sie unsicher sind, wie ihr Körper auf das Virus reagiert. Aber die Sorge ist noch einmal eine ganz andere, wenn man ein Kind in der Familie hat, dessen Herz, Lunge oder Niere nicht richtig funktioniert, womit die Wahrscheinlichkeit, ernsthaft zu erkranken, exponentiell steigt.

Kleine Kinder sind auch schwerer zu isolieren. Ein erwachsener Mensch folgt der Einsicht, wenn er sich entscheidet, seine Kontakte zu reduzieren. Aber ein Fünfjähriger?

Der Vater, der mich anschrieb, hat eine Tochter, die mit Spina bifida zur Welt kam, einer Fehlbildung der Wirbelsäule, die ihr das Gehen sehr erschwert. Er arbeitet als Statistiker, wie er mir bei einem der Gespräche erzählte, die sich aus unserem Kontakt auf Twitter ergaben. Am Anfang der Pandemie war er erleichtert, als es hieß, dass im Wesentlichen Kinder mit Lungenproblemen ein erhöhtes Risiko hätten, schwer an Covid zu erkranken. Aber dann sah er Datensätze aus Amerika, wonach auch Kinder mit Spina bifida stark gefährdet sind.

Wie kann man sich gegen ein Virus schützen, das draußen grassiert? Wenn jeder Kontakt potenziell tödlich ist, bleibt nur, die Außenwelt auszuschließen. Wie viele Familien, in denen ein Kind chronisch krank ist, ging auch die Familie von Sebastian Mathis – so heißt der Vater, mit dem ich sprach – in die Selbstisolation. Das Wort Schattenfamilie ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Man kann sich also die Erleichterung von Eltern wie Mathis vorstellen, als die erste Impfung zugelassen wurde. Die Impfung war für Kinder zwar nicht freigegeben, aber gerade bei behinderten Kindern werden viele Medikamente im sogenannten Off-Label-Use verschrieben.

Kinderärzte scheuen das Haftungsrisiko, das gilt zumal bei unerprobten Behandlungsmethoden. Aber auch da gab es eine Lösung. Alles, was es brauchte, war eine Änderung im Infektionsschutzgesetz. Zwei Zeilen, die es den Ärzten erlauben würden, Impfungen auf ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Eltern vorzunehmen.

Mathis schrieb alle an, die Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die gesundheitspolitischen Sprecher der Parteien, Karl Lauterbach, das Gesundheitsministerium. Es wäre so einfach gewesen: eine Erklärung von offizieller Stelle, dass man die Schutzimpfung für den speziellen Kreis behinderter oder chronisch kranker Kinder empfehle. Aber niemand fühlte sich zuständig. Aus dem Gesundheitsministerium erhielt Mathis nicht mal eine Antwort. Mit jeder Woche, die ins Land ging, wuchs seine Verzweiflung und sein Zorn.

Wir reden gerne von den Schwächsten der Gesellschaft, denen man helfen müsse. Wir sind große Meister darin, neue Worte zu erfinden, die unser Mitgefühl ausdrücken sollen. Statt von Behinderten sprechen wir jetzt von den Vulnerablen. Das klingt gleich doppelt so sensibel. Aber wer wissen will, wie es abseits der Talkshows aussieht, dort, wo sich das reale Leben abspielt, auch das beschissene reale Leben, der muss nur mit Menschen wie Sebastian Mathis reden.

Wenn wir irgendwann auf die Pandemie zurückblicken werden, dann auch darauf, dass sie ziemlich schonungslos offengelegt hat, wer sich auf die Fürsorge der Politik verlassen kann und wer nicht. Am besten geschützt waren Menschen ab 65, die rüstigen Rentner, für die jeder Lockdown eine lästige, aber letztlich tolerable Einschränkung bedeutete. Kinder und Jugendliche hingegen rangieren auf der politischen Aufmerksamkeitsskala weit hinten. Ganz unten stehen Familien mit behinderten oder kranken Kindern, wie man jetzt weiß.

Im Sommer hatten Mathis und seine Mitstreiter endlich einen Arzt gefunden, der sich bereit erklärte, das Klagerisiko einzugehen und unter der Hand zu impfen. Zehntausend Kinder haben sie über die Monate vermittelt. Dass es da jemanden gebe, der helfen könne, verbreitete sich unter den Schattenfamilien wie ein Lauffeuer.

Seit Dezember sind Impfstoffe gegen Corona für Kinder ab fünf Jahren zugelassen. Jetzt beginnt das Spiel von vorn. Diesmal geht es um die Kinder unter fünf. Ich höre den Schrei der Impfgegner, die sagen, dass es unverantwortlich sei, so kleine Kinder zu impfen. Aber wer eine Tochter oder einen Sohn mit Trisomie 21 oder Spina bifida hat, der beurteilt das Risiko anders als ein Elternteil, dessen Kind eine Ansteckung mutmaßlich ohne große Folgen wegstecken wird.

Ich habe schon länger den Verdacht, dass diejenigen, die am eifrigsten mit Begriffen wie Solidarität hantieren, damit in Wahrheit am wenigsten am Hut haben. Der „Zeit“-Redakteur Bernd Ulrich schrieb einmal: „Auf jedem Armen sitzen zehn andere, die in seinem Namen Solidarität einklagen.“ Treffender kann man es nicht sagen.

Das Bekenntnis gegen Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung ist ein Fashion-Item, ein Anstecker, den man sich anheftet, um zu zeigen, dass man dazugehört. Früher stellte man sein neues Auto aus, um andere zu beeindrucken. Heute hinterlässt man auf LinkedIn einen Eintrag, dass man es auch ganz wichtig findet, dass BIPoC zu ihrem Recht kommen, und wie schlimm es sei, dass es noch Hunger und Armut gibt.

In der „Süddeutschen Zeitung“ habe ich vergangene Woche ein Interview mit dem Arzt Gerhard Trabert gelesen, den die Linkspartei als Kandidat bei der Wahl zum Bundespräsidenten ins Rennen schickt. Ich war versucht, mich lustig zu machen. Der Mann hat keine Chance. Warum also gegen Steinmeier antreten?

Aber dann las ich, wie er sich seit Jahren um die medizinische Versorgung von Obdachlosen bemüht. Weil Menschen, die auf der Straße leben, so gut wie nie zum Arzt gehen, hat er sein Auto zur mobilen Praxis umgebaut und fährt damit in den Wald, zu Tiefgaragen und Domplätzen, wo Obdachlose leben.

Mir imponiert so jemand tausendmal mehr als die Siemens-Managerin, die mit Genderstern und Anti-Rassismus-Statements posiert. Ich teile nicht Traberts Sicht auf die Welt, natürlich nicht. Ich glaube keinen Augenblick, dass sich das Los armer Menschen verbessern würde, wenn wir alle nur noch die Hälfte verdienten. Aber ich habe großen Respekt vor jemandem, der seine Zeit der Aufgabe widmet, anderen zu helfen, anstatt über Solidarität nur zu reden.

Neulich hat Sebastian Mathis einen kleinen Sieg errungen. In der Behindertentoilette der Inklusionsschule, die seine Tochter besucht, steht jetzt ein Lüftungsgerät. Er hat auch dafür lange gekämpft. Diese Toiletten seien Virenhöllen, erklärte er mir, kleine, fensterlose Räume, in denen die Kinder nicht nur sauber gemacht werden, sondern in denen sie auch Nahrung zu sich nehmen, wenn sie über eine Sonde ernährt werden. Wenn es einen perfekten Ort gibt, um sich anzustecken, dann hier.

Als er sich beklagte, sagte man ihm, er habe doch ein Attest, das es ihm erlaube, seine Tochter aus der Schule zu nehmen. Das erklären die gleichen Leute, sagt er, die sonst keine Gelegenheit auslassen, darauf hinzuweisen, wie wichtig Inklusion sei. Der Widerspruch fällt ihnen nicht einmal auf.

Anfang Dezember nahmen Journalisten die Zustände an der Schule zum Anlass zu fragen, wo eigentlich die Gesundheitssenatorin sei. Zwei Tage später kamen Handwerker und installierten den Apparat.

©Sören Kunz

Ich bin raus

Zwei Jahre hat der Kolumnist alle Corona- Regeln befolgt. Er hat sich impfen und boostern lassen. Jetzt hat er beschlossen, dass es Zeit für Corona-Detox ist. Ab sofort wird er sein Leben nicht mehr an Infektionsmodellen ausrichten

Ich habe mich Heiligabend mit der Familie in den Süden abgesetzt. Condor DE1400 nach Lanzarote. Ich habe alle Mahnungen der Bundesregierung, über die Feiertage auf unnötige Reisen zu verzichten, in den Wind geschlagen. Ich habe die Empfehlung ignoriert, mich Weihnachten zu Hause im Kreis Geimpfter einzuigeln.

Auf Twitter las ich eine angeregte Diskussion, angestoßen von der in progressiven Kreisen hochgeschätzten Autorin Jasmina Kuhnke, ob man in Pandemiezeiten überhaupt in den Urlaub fliegen solle. Frau Kuhnke bekannte, dass sie schon Herzrasen bekomme, wenn sie dem Nachbarn an der Mülltonne begegne und der einen Ticken zu offensiv in ihre Richtung atme.

Es wurde Einigung darüber erzielt, dass Flugreisen insbesondere bei Menschen, die in der Öffentlichkeit stünden, problematisch seien, weil viele sich dann denken könnten, wenn der oder die das mache, dann sei es okay. Über Insta trudelte dann noch die Nachricht einer Bekannten von Frau Kuhnke ein, dass ihre Freundin original beim Müllrausbringen den Nachbarn getroffen und sich mit Corona angesteckt habe („What the fuck, what the fuck?“). Wie gut, dachte ich mir, dass ich weder so in der Öffentlichkeit stehe wie die Autorin noch eine Mülltonne habe, die ich mir mit dem Nachbarn teile.

Der Hinflug war bis auf den letzten Platz besetzt. Meine Sitznachbarin flüsterte mir zu, dass die Leute über den Jahreswechsel wie wild fliegen würden. Alle Weihnachtsflüge von München seien praktisch ausgebucht, habe sie im Radio gehört. Keine Ahnung, warum sie mir die Information im Flüsterton überbrachte. Vielleicht dachte sie, dass sie das Kabinenpersonal in letzter Sekunde des Flugzeugs verweisen würde, wenn eine der Stewardessen unser Gespräch mitbekäme.

Bei mir verstärkte das den Eindruck, dass wir dabei waren, etwas Gefahrvolles, um nicht zu sagen Verbotenes zu tun. Ein Ferienflug nach Lanzarote als Akt der Aufsässigkeit – wow! Und ich hatte immer gedacht, eine Reise auf die Kanaren sei der Inbegriff von Spießigkeit.

Ich habe keine Minute bereut, dass wir weggeflogen sind. Ich hatte vergessen, wie unbeschwert das Leben sein kann. Wenn ich morgens die Gartentür öffnete, blickte ich aufs Meer. Das Strandlokal, das wir wegen seiner ausgezeichneten Küche frequentierten, war jeden Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Die Gespräche an den Nebentischen drehten sich ums Wetter.

Ich habe auf Lanzarote einen Entschluss gefasst. Ich habe beschlossen, mein Leben zu ändern. Das ist doch das, was einem der Philosoph empfiehlt: Du musst dein Leben ändern! Lässt sich für diesen Vorsatz ein besserer Zeitpunkt als der Jahreswechsel finden?

Ich werde künftig auf Nachrichten zu Covid so weit es geht verzichten. Also ab sofort keinen Corona-Liveticker von NTV mehr, der mir jeden Morgen die neuesten Inzidenzen anzeigt. Die App wird umgehend deaktiviert. Ich schaue auch nicht mehr, was Karl Lauterbach oder Lothar Wieler empfehlen. Wenn der „Münchner Merkur“ meldet „RKI warnt vor Raclette und Fondue zwischen Weihnachten und Silvester wegen der Infektionsgefahr“, geht das von nun an mir vorbei. Von mir aus kann die nächste Welle nicht nur eine Wand, sondern ein Gebirgsmassiv sein: Ich bin raus.

Ich habe zwei Jahre alles mitgemacht. Ich habe mit meinen Kindern vor dem Kinderspielplatz gestanden und dem Flattern der Absperrbänder zugesehen. Auf dem Rodelberg haben wir streng darauf geachtet, dass zwischen uns und dem Nachbarschlitten anderthalb Meter Abstand lagen.

Selbstverständlich habe ich immer Maske getragen, auch draußen, wenn es vorgeschrieben war. Ich bin geimpft und geboostert. Mein Sohn ist kommende Woche zur Impfung angemeldet, wenige Tage nach seinem siebten Geburtstag. Die Geburtstagsfeier haben wir zum zweiten Mal in Folge abgesagt, weil wir niemanden in Schwierigkeiten bringen wollten.

Es gibt Menschen, die einen besonderen Kick aus düsteren Vorhersagen ziehen. Je düsterer die Prognose, desto mehr fühlen sie sich in ihrer Weltsicht bestätigt. Kurioserweise scheint die Schnittmenge zwischen den Angehörigen von Wissenschaftsredaktionen und den Anhängern von Katastrophenszenarien besonders groß.

Wenn jemand ein Schaubild präsentiert, wonach sich in der ersten Januarwoche über eine Million Menschen angesteckt haben werden, kann man sicher sein, dass einer um die Ecke biegt, der einen Experten in petto hat, der bis Mitte Januar 40 Millionen Infizierte voraussagt.

Der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli hat schon vor Jahren zur Nachrichtenabstinenz ermuntert. Es gibt angeblich medizinische Gründe, die dafür sprechen. Sobald wir etwas sehen oder lesen, was uns beunruhigt, gelangt eine erhöhte Menge des Stresshormons Cortisol in die Blutbahn. Cortisol verstärkt die Anfälligkeit für Infekte, es sorgt für Verdauungsstörungen und hemmt das Wachstum von Knochen und Haaren.

Dobelli vergleicht Nachrichten mit Zucker und empfiehlt eine strenge „News-Diät“, um die giftige Wirkung zu begrenzen. Ich hielt das bislang für Mumpitz. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob Dobelli nicht doch recht hat. Mich macht der Blick auf die Modelle mit den Infektionszahlen, die mich dazu bringen sollen, noch vorsichtiger zu sein, nicht einsichtig, sondern gleichgültig. Es heißt ja, dass Müdigkeit eine Begleiterscheinung der Überzuckerung sei.

Mein Eindruck ist, dass ich nicht der Einzige bin, der so empfindet. Ein Freund aus München hat über die Pandemie seine Frau verloren. Ob das Eheende „an“ oder „mit“ Corona erfolgte, darüber steht das Urteil aus. Er nahm sich jedenfalls alle Prognosen sehr zu Herzen.

Er verließ kaum noch das Haus. Wenn es seine Frau unter Menschen drängte, hielt er ihr Vorträge, wie unverantwortlich ihr Verhalten sei. Den geplanten Urlaub musste sie alleine mit der Tochter antreten, weil er der Sicherheit an Bord misstraute. Außerdem wollte er kein schlechtes Beispiel abgeben, wie er erklärte. Irgendwann war sie weg beziehungsweise bei jemandem, der sich nicht Tag und Nacht einschloss.

Vor meiner Abreise habe ich mit ihm telefoniert. Das RKI könne ihn mal, sagte er. Solange in München die Bars geöffnet seien, gehe er abends aus. Er hat auch wieder jemanden kennengelernt, eine Juristin, auf der Suche nach Begleitung wie er. Man hatte sich angelächelt, eines ergab das andere. „Und Corona?“, fragte ich. „Lustig, dass du danach fragst“, sagte er. „Darüber habe ich erst am nächsten Morgen nachgedacht.“

Ich kann ziemlich genau sagen, wann es bei mir klick gemacht hat. Es war drei Tage vor Weihnachten, als das RKI eine „Strategie-Ergänzung“ zur Bekämpfung der Omikron-Welle vorstellte. „Maximale Kontaktbeschränkungen“, „maximale infektionspräventive Maßnahmen“, „Reduktion von Reisen auf das unbedingt Notwenige“ – das waren die vorgeschlagenen Maßnahmen. Also der nächste Lockdown, dieses mal noch härter und entschiedener, eben maximal. Da wusste ich, das RKI hat mich verloren.

Ich werde nicht plötzlich unvorsichtig sein. Ich werde mich weiter an die Regeln halten. Ich werde nur nicht mehr mein ganzes Leben an den Schaubildern ausrichten, die das Schlimmste annehmen.

Nach der Welle ist vor der Welle, auch das ist ja eine Lehre aus den vergangenen zwei Jahren. Es wird immer irgendeine Variante geben, die noch leichter zu übertragen ist und damit potenziell noch gefährlicher.

Wollen wir in dauernder Habachtstellung vor dem Virus leben? Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man dem Impfstoff vertrauen will oder nicht. Entweder die Impfung schützt, wie versprochen, vor schweren Verläufen – oder wir sind ohnehin verloren. Dann nützen uns auch die mit Magenbittermiene vorgetragenen Modelle von Sandra Ciesek nichts mehr.

Ich will niemanden davon abhalten, sich zu Hause einzuschließen. Jeder soll machen, was er für sinnvoll hält. Ich habe meine Entscheidung getroffen. I am out.

©Sören Kunz

Herrschaft der Experten

Darf man Wissenschaftler für ihre Vorschläge in der Pandemie kritisieren? Oder ist Kritik ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit? Der Streit um einen „Bild“-Artikel wirft grundsätzliche Fragen auf

Am Samstag vor zwei Wochen veröffentlichte die „Bild“ einen Text über neue Corona-Maßnahmen, auf die sich die Bund-Länder-Runde geeinigt hatte. In Ländern mit hoher Inzidenz dürften nur noch Gäste mit Boosterimpfung ohne Test ins Lokal, berichtete die Zeitung. Für Ungeimpfte sei der Zutritt komplett verboten. Dazu kämen Regeln für Weihnachtsfeiern sowie ein Böllerverbot.

Entstanden seien die Vorschläge in einem kleinen Kreis von Experten, hieß es im weiteren Verlauf. Namentlich genannt wurden die Physiker Viola Priesemann, Dirk Brockmann und Michael Meyer-Hermann. Die Empfehlungen seien dann über den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach an Olaf Scholz gegangen, der sie den Ministerpräsidenten präsentiert habe. Überschrieben war der Artikel mit: „Die Lockdown-Macher – Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest.“ Dazu waren die drei genannten Wissenschaftler im Foto zu sehen.

Seit Langem hat ein „Bild“-Text nicht mehr solche Wellen geschlagen. 94 Beschwerden sind bis heute beim Presserat eingegangen. Mehrere Wissenschaftsorganisationen, darunter die Leopoldina und die Max-Planck-Gesellschaft, kritisierten die Berichterstattung als einseitig und diffamierend. Die Forscher würden zur Schau gestellt und persönlich für unpopuläre, aber erforderliche Maßnahmen verantwortlich gemacht. Die Humboldt-Universität wandte sich in einer Erklärung dagegen, dass den Lesern suggeriert werde, die Wissenschaft sei ein Treiber politischer Entscheidungen. Das sei eine bewusste Falschaussage, die Verschwörungstheoretikern Auftrieb verleihe.

Einige verlangten ein Eingreifen von oben. „Das ist nicht nur gelogen, sondern Verleumdung und eine Gefahr für die Freiheit von Wissenschaftler*innen, nach bestem Wissen zu beraten“, schrieb die Politökonomin Maja Göpel, die mit dem Bestseller „Unsere Welt neu denken“ einem größeren Publikum bekannt geworden ist. „Bitte Klarstellung aus Politik und Presserat.“

Und die Sache ist damit nicht ausgestanden, wie sich denken lässt. Am Donnerstag erklärte Karl Lauterbach in seinem ersten TV-Auftritt als Gesundheitsminister, er habe mit der „Bild“ Kontakt aufgenommen und dafür gesorgt, dass der Artikel aus dem Netz entfernt werde – was die Zeitung umgehend dementierte. Der Text ist online nach wie vor abrufbar. Sowohl an Olaf Scholz als auch an Vertreter der Grünen erging der Appell, nicht mehr mit Redakteuren der „Bild“ zu reden.

Wo verläuft die Grenze zwischen Politik und Wissenschaft? Sind beides streng getrennte Sphären, wie die Protestierenden insinuieren? Oder geht es möglicherweise darum, einen Bereich abzustecken, der sakrosankt und damit geschützt gegen Kritik ist? Eine Art Vorraum der Politik, bei dem auch die Kontrollfunktion der Medien nicht mehr greift?

In einem Artikel in der „Zeit“ über den neuen Gesundheitsminister stieß ich auf folgende Passage: „Sein Team, dazu zählt Lauterbach Wissenschaftler wie Christian Drosten, die Modelliererin Viola Priesemann, den Helmholtz-Forscher Michael Meyer-Hermann, den Arzt Michael Hallek, den Physiker Dirk Brockmann. Sie alle, so sieht es Lauterbach, sind mit ihm Minister geworden. Sie alle werden die Politik prägen.“

Lauterbach selbst hat zwei Tage vor der „Bild“-Veröffentlichung bei einem Auftritt bei Maybrit Illner freimütig berichtet, wie er mit Priesemann, Brockmann und Meyer-Hermann zusammengesessen und Modelle durchgerechnet habe. „Wir haben überlegt, welche Maßnahmen würden jetzt die Welle bremsen, ohne dass wir in einen kompletten Lockdown gehen müssen.“ Es habe Übereinstimmung geherrscht, welche Maßnahmen richtig seien, die habe man an Scholz dann weitergeben. „Es war schon gut, dass die Wissenschaft einen enormen Einfluss hatte“, sagte Lauterbach, sichtlich stolz auf das Erreichte.

Ein Gesundheitsminister, der Wissenschaftler als Mitglieder eines Teams begreift, mit dem er Politik gestaltet und gestalten will? Das klingt für mich nicht danach, als handele es sich bei der Annahme, Wissenschaft könnte ein Treiber politischer Entscheidungen sein, um eine Verschwörungstheorie.

Der Experte ist ein wundersames Wesen. Er weiß genau, was nottut. Wenn die Politik nicht schnell genug seinen Empfehlungen folgt, kann man sicher sein, dass er in der nächsten Talkshow sitzt und dort erklärt, warum das, was die Politik plant, zu wenig ist und zu spät. Aber er ist nie verantwortlich. Man kann verstehen, dass Wissenschaftler ein Interesse daran haben, dass es so bleibt.

Sie habe sich nie in die Öffentlichkeit gedrängt, hat Viola Priesemann vor ein paar Tagen in einem Interview erklärt. „Ich meine, ich bin Physikerin! Ich arbeite sehr gern allein in meinem stillen Kämmerlein.“ Das hält sie selbstredend nicht davon ab, aus dem stillen Kämmerlein einen „Notschutzschalter“ zu fordern, wie der Shutdown in der neuesten Wendung heißt. Und wehe, ein verantwortlicher Politiker spielt auf Zeit! „Was für eine irrsinnige Idee in der aktuellen Lage und der aktuellen Gefahr“, heißt es dann.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur sogenannten Bundesnotbremse den Weg in die Expertokratie eröffnet. Solange die Regierung sich bei ihren Entscheidungen auf die Expertise von Fachleuten stützen kann, ist jedes Grundrecht disponibel, lautet im Kern das Urteil. Gibt es mehrere Studien, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist der Gesetzgeber frei, welcher Studie er den Vorzug gibt. Entscheidend ist, dass er eine Expertise vorweisen kann.

Es geht den Kritikern der „Bild“-Berichterstattung nicht darum, die Wissenschaft insgesamt vor Angriffen zu schützen. Es geht darum, die eigenen Leute zu einer Art Überexperten zu erklären. Wer zum Kreis der Mitstreiter zählt, kann sich auf uneingeschränkte Unterstützung der Szene verlassen. Wer nicht dazugehört oder gar als Feind gilt, ist vogelfrei.

Im Januar führten die „Spiegel“-Redakteurinnen Rafaela von Bredow und Veronika Hackenbroch mit Christian Drosten ein Interview über seine Sicht auf die Pandemie. Dabei kamen sie auch auf Hendrik Streeck zu sprechen, der Drosten als Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn nachgefolgt war. Streeck hätte immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert, behaupteten die Interviewer. Er hätte damit größeren Schaden angerichtet als Corona-Leugner.

Ein ehrabschneidenderer Vorwurf gegen einen Wissenschaftler lässt sich kaum denken. Genauso gut hätten die „Spiegel“-Redakteurinnen sagen können, dass Streeck für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich sei. So lautete, übersetzt in die raue Sprache der Twitter-Welt, praktischerweise der entsprechende Hashtag: #SterbenMitStreeck.

Aber in dem Fall trat keine Leopoldina auf den Plan. Es meldete sich auch keine Max-Planck-Gesellschaft, um den Virologen zu verteidigen. Eine Anfrage an die Gesellschaft für Virologie, wie sie zu der Unterstellung stehe, blieb unbeantwortet. Und Christian Drosten? Der widersprach nicht etwa der Anschuldigung, sondern antwortete nur sibyllinisch, dass er nichts davon halte, Kollegen namentlich zu kritisieren.

„Beyond_ideology“, nennt sich Maja Göpel, die den Sturm gegen die „Bild“ lostrat, auf Twitter: Jenseits der Ideologie. Lässt sich eine größere Anmaßung denken? Man kann das auch übersetzen mit: Wer mir widerspricht, ist im Unrecht. Dass sich Autoren wie die Klimaaktivistin Göpel mit besonderer Verve in die Schlacht werfen, ist kein Zufall. Nach der Pandemie steht mit dem Kampf gegen den Klimawandel die nächste Auseinandersetzung ins Haus, bei der die Politik sich anschickt, tief in das Leben von Menschen einzugreifen.

Es ist ein nahezu perfekter Zirkel. Die Wissenschaft empfiehlt Maßnahmen, für deren Folgen sie nicht verantwortlich gemacht werden kann. Die Politik folgt den Empfehlungen mit Verweis auf die Stimme der Wissenschaft. Da Kritik an Vorschlägen aus der Wissenschaft als Ausdruck von Wissenschaftsfeindlichkeit gilt, ist auch der politischen Kritik der Boden entzogen.

In der Philosophie spricht man vom „Circulus vitiosus“, zu Deutsch: Teufelskreis.

©Sören Kunz

Betr.: Das gespaltene Land

Zwölf Millionen Erwachsene sind ungeimpft, so viele, wie es Leute gibt, die bei der Wahl für Olaf Scholz und die SPD gestimmt haben. Ob es wirklich eine so gute Idee ist, sie alle als Spinner und Nazis zu beschimpfen?

Ich muss Abbitte leisten. Ich habe mich oft über Richard David Precht lustig gemacht. Ich habe ihn als Richard Clayderman der Philosophie verspottet. Ich schrieb, dass er die Türen, die er in seinen Texten eintrete, anschließend deshalb so laut hinter sich zuwerfe, weil sie bereits sperrangelweit offen stünden.

Den Witz mit den offenen Türen kann ich mir in Zukunft schenken. So wie Precht sich in der Pandemie äußert, hat er definitiv den Weg des geringsten Widerstands verlassen. Wer sich ins Fernsehen setzt und dort Verständnis für Impfgegner zeigt, ist alles mögliche, aber kein Mensch, der es sich zu einfach macht.

Hut ab, lieber Richard David Precht, möchte ich Deutschlands bekanntestem Fernsehphilosophen von dieser Stelle zurufen. Mehr Mut im Umgang mit dem Coronavirus zu fordern: Das muss man sich erst mal trauen.

Die Rache folgt in so einem Fall auf dem Fuße. Im „Spiegel“ wurde der Autor als „Wirrkopf“ abgekanzelt. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ ließ auf ihn das Verdikt herabsausen, dass er mit seiner Meinung auf jeder Querdenker-Demo mehrheitsfähig wäre. Das ist das intellektuelle Todesurteil. Schlimmer kann es danach nicht mehr kommen.

Mit jeder Woche, der wir der Impfpflicht näher rücken, wird der Ton rauer. Man sollte eigentlich das Gegenteil erwarten. Aber die Aussicht auf den Sieg stimmt die Freunde der Impfpflicht nicht milder, sondern scheint sie im Gegenteil noch anzuheizen.

Ich warte auf den Tag, an dem der erste Prominente erklärt, dass er nur noch mit Geimpften befreundet sein kann. Wenn die Berliner Gesundheitssenatorin dazu ermuntert, im Privaten ausschließlich Menschen zu treffen, die geimpft sind, weiß man, jetzt wird’s ernst.

Selbst Leute, die ansonsten noch für jede Minderheit Verständnis haben, schalten auf Krawall. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in einem erzprotestantischen Blatt wie der „Zeit“ Überlegungen lesen würde, warum der Gesellschaft mehr Spaltung guttäte. Auch Vergleiche, die normalerweise jede Anti-Hate-Speech-Beauftragte auf den Plan rufen würden, sind nicht länger tabu. In der Mediathek des ZDF ist seit einer Woche eine Folge des Comedy-Formats „Bosetti will reden“ abrufbar, in der Umgeimpfte als Blinddarm bezeichnet werden, auf den man getrost verzichten könne.

Erst hatten wir Appelle. Dann Belohnungen und Schika-nen. Jetzt sind wir auf der Ebene der Beschimpfung an-gekommen. Wenn es gegen den Impfgegner geht, ist alles erlaubt, da darf sogar die politisch vorbildliche ZDF-Komödiantin die Sau rauslassen.

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte die allermeisten Argumente, die gegen die Impfung vorgebracht werden, für Unsinn. Ich habe auch nichts gegen eine allgemeine Impfpflicht. Wahrscheinlich hätte man sie schon viel früher einführen sollen. Den Kreis der Hardcore-Gegner wird man nicht umstimmen. Die lassen sich lieber in Handschellen abführen, als dass sie sich die Spritze setzen lassen. Aber die Ungeimpften, die bislang zu bequem oder zu träge waren, sich in die Impfschlange einzureihen, wird man damit möglicherweise erreichen.

Was mich stört, ist der Ton der Verachtung, mit dem über alle gesprochen wird, die abweichender Meinung sind. Es mag an meiner Sozialisation in einem sozialdemokratischen Haushalt liegen: Immer, wenn sich eine Mehrheit gegen eine Minderheit zusammentut, werde ich unruhig.

Es geht längst nicht mehr darum, die Uneinsichtigen zu überzeugen. Darüber sind wir hinaus. Jeder Psychologe kann einem sagen, dass es wenig bringt, wenn man andere anschreit. In der Regel erreicht man das Gegenteil von dem, was man bezweckt, weil die Angeschrienen mit Trotz statt mit Einsicht reagieren. Es geht in Wahrheit darum, recht zu behalten. Den Befürwortern der Impfpflicht reicht es nicht, dass sie ihren Willen durchsetzen, sie wollen die Gegner am Boden sehen. Sie sollen sich am besten auch nicht mehr äußern dürfen.

Es gibt einen neuen Begriff, um unerwünschte Meinungen aus dem öffentlichen Raum fernzuhalten. Man spricht jetzt von „false balance“. Gemeint ist, wenn ein Fernsehsender in eine Talkshow auch Leute einlädt, die eine Außenseiterposition vertreten. Vor der Pandemie war dies das normale Geschäft, um eine Sendung lebendig zu machen. Heute gilt das als gemeingefährlich, weil es dem Publikum angeblich suggeriert, dass die Außenseitermeinung und die Konsensmeinung gleichwertig seien. So würden extreme Ansichten aufgewertet und die Zuschauer verwirrt, heißt es.

Im Grunde fällt schon einer wie Precht unter „false balance“. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ stand, er streue mit raffinierter Beiläufigkeit über berechtigter Kritik hinaus grundsätzliche Zweifel an staatlichen Institutionen und beschädige so den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Ich dachte immer, es sei die Aufgabe von Intellektuellen, die Dinge prinzipiell in- frage zu stellen. Ich bin kein Philosoph, aber mich plagen ebenfalls grundsätzlich Zweifel an den staatlichen Institutionen. Bis heute erscheint mir das Corona-Management merkwürdig konfus.

Wer prüft zu Hause ernsthaft seine Besucher auf einen Impfausweis, wie es jetzt verlangt wird? Vielleicht Menschen wie Bettina Schausten, die von sich selbst auch sagt, sie würde 100 Euro zahlen, wenn sie bei Freunden übernachtet. Bei so jemandem kommt man vermutlich nur mit nachgewiesener Drittimpfung über die Schwelle. Aber alle anderen?

Ich habe bis heute auch nicht verstanden, warum Weihnachtsmärkte schließen müssen oder es wieder ein Böllerverbot zu Silvester gibt. Statt die Leute dazu zu ermuntern, sich im Freien aufzuhalten, animiert man sie lieber dazu, drinnen mit anderen die Köpfe zusammenzustecken? Dabei ist das Risiko, sich draußen anzustecken, im Gegensatz zu Innenräumen minimal.

Ich glaube, es handelt sich bei der Beschimpfung der Impfgegner um eine Ersatzhandlung. Statt das Naheliegende zu tun, nämlich erst einmal diejenigen zu impfen, die in der Kälte Schlange stehen, redet man über diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen. Täglich lese ich Meldungen, wo überall Impfstoff fehlt und Leute, die sich boostern lassen wollten, wieder nach Haus geschickt werden.

Es gibt 23 Millionen Ungeimpfte in Deutschland. Rechnet man alle unter 18 Jahren heraus, bleiben zwölf Millionen Erwachsene, die sich bislang gegen eine Impfung entschieden haben. Das sind so viele Menschen, wie es Leute gibt, die bei der Bundestagswahl die SPD mit Olaf Scholz gewählt haben.

Unter den Impfgegnern finden sich Verschwörungstheoretiker, Okkultisten, Spinner, Nazis und Schwachköpfe jeder Couleur. Aber alle zwölf Millionen zu Spinnern und Nazis zu erklären? Ich weiß nicht, ob das so schlau ist. Dann sind wir wirklich auf dem Weg in ein gespaltenes Land. Und die Spaltung verläuft in dem Fall nicht rechts unten in Höhe des Blinddarms, wie sich die ZDF-Komikerin Sarah Bosetti das vorstellt, sondern eher auf Höhe von Leber und Niere.

Ich war vergangene Woche mit einem Bekannten, dem Journalisten und Bestsellerautor Hasnain Kazim, in Berlin zur Aufzeichnung einer Fernsehshow. Auf der Rückfahrt zum Flughafen berichtete er mir, dass ihm sein Steuerberater in einem Brief mitgeteilt habe, dass er ihn nicht länger vertreten könne. Kazim hat vor ein paar Wochen in der „Zeit“ einen Text pro Impfen veröffentlicht. Das reichte, um das Mandat zu beenden. Ein freundlicher, um- gänglicher Mann, so schilderte Kazim seinen Steuerberater. Es gab nie Ärger oder Probleme.

Ich weiß, ich klinge jetzt wie der Bundespräsident, aber vielleicht sollten wir es mit der Spaltung nicht übertreiben. Es gibt Risse, die kann man nachher kaum noch kitten. Es wäre doch schade, wenn uns als Gesellschaft am Ende nicht nur der Blinddarm fehlen würde, sondern ein lebenswichtigeres Organ.

©Michael Szyszka

Mehr Mut wagen

Die Angst vor dem Virus hält er für übertrieben, er vertraut auf seinen Körper: Der Impfgegner verkörpert den heroischen Menschen. Sollte man ihn nicht beim Wort nehmen und auch mehr Heroismus bei einer Erkrankung verlangen?

Ich bewundere jeden Impfgegner. Ich hätte nicht die Nerven, das durchzuziehen.

Ich bin, was Ansteckungsgefahr angeht, ein Schisshase. Die beste Errungenschaft der Corona- Krise ist aus meiner Sicht, dass man sich nicht mehr die Hand geben muss. Wenn es nach mir ginge, könnte es für immer beim Faust- oder Ellbogengruß bleiben.

Noch besser finde ich die asiatische Begrüßung: Beide Handflächen aneinanderlegen, dann die gefalteten Hände vors Gesicht führen und sich leicht verbeugen. Die Asiaten wissen, warum sie aufs Händeschütteln verzichten. Sie haben dort Erfahrung mit Viren, von denen wir nur träumen können.

Ich will auch sofort die Booster-Impfung. Ich habe Stunden mit der Recherche zugebracht, wie man an den dritten Schuss kommt. Beim Surfen im Netz habe ich ein Schaubild entdeckt, wie lange der Impfschutz anhält. Bei Biontech sinkt er nach vier bis sechs Monaten auf rund 50 Prozent ab. Die Stiko empfiehlt, mit der Nachimpfung sechs Monate zu warten. Das sieht mir nach einem gefährlichen Spiel mit dem Erstickungstod aus.

Den Impfgegner scheint das alles nicht zu bekümmern. Der Impfgegner lebt nach der Devise: Sterben müssen wir eh. Wenn es nicht Corona ist, das uns dahinrafft, dann der Krebs oder ein Leberschaden. Viele halten die Gefahr durch das Virus für übertrieben. Oder sie vertrauen darauf, dass ihr Körper stärker ist. Ich mache lieber nicht die Probe aufs Exempel. Was, wenn ich mich geirrt habe und mein Immunsystem doch nicht so vorbildlich ist, wie ich mir einbilde?

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat nach den Anschlägen von Paris einen Essay über das Heroische verfasst. Unsere Gesellschaft habe verlernt, der Gefahr ins Auge zu sehen, schrieb er. Als Verteidiger der postheroischen Gesellschaft müsste man wieder Heldenmut lernen.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, einem Terrorangriff zum Opfer zu fallen? Es sterben mehr Menschen an einer verschluckten Büroklammer als an einem islamistischen Anschlag. Das kann man von Covid-19 nun wirklich nicht sagen. Corona ist Bataclan, dreimal am Tag. Da zu sagen: Sei’s drum, die Spritze will ich trotzdem nicht, zeugt wirklich von Heroismus.

Interessanterweise scheint die Todesverachtung an die politische Überzeugung gekoppelt zu sein. Vergangene Woche wurde eine Forsa-Umfrage bekannt, wonach 50 Prozent der AfD-Wähler die Impfung ablehnen. Ich hatte ohnehin den Verdacht, dass sie bei der AfD ständig im Keller Stalingrad-Filme sehen. Selbst Masketragen gilt in diesen Kreisen als Zeichen von Schwäche. Im Bundestag streitet die AfD unverdrossen für das Recht, sich ohne Mundschutz frei bewegen zu dürfen.

Sicher, es gibt Verräter, bis in die Führungsspitze. Parteichef Chrupalla ist bis heute einer Antwort ausgewichen, ob er geimpft ist oder nicht. Für mich klingt das so, als ob er sich heimlich den Schuss hat setzen lassen, das aber nicht zugeben will. Auch Alexander Gauland und Jörg Meuthen haben die Impfung bekommen.

Bei Meuthen überrascht das nicht, der war immer ein unsicherer Kantonist. Alice Weidel hingegen scheint tapfer durchgehalten zu haben. Jetzt liegt sie mit Covid danieder. Beste Genesungswünsche an dieser Stelle. Wenn ich bei der AfD wäre, würde ich eine Tapferkeitsmedaille einführen, für Unerschrockenheit an der Virenfront. Frau Weidel hätte sich klar für die Ehrenspange mit Ritterkreuz am Bande qualifiziert.

Der Impfgegner ist der Feind unserer Zeit. Das Verhalten sei grob asozial und gesellschaftsschädlich, geht die Klage. Von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ hat der Ärztefunktionär Frank Ulrich Montgomery bei „Anne Will“ gesprochen. Von der „Geiselname der Mehrheit durch eine Minderheit Uneinsichtiger“ schreibt die „Süddeutsche Zeitung“.

Mir erscheint das nicht ganz logisch. Das Argument für die Impfung ist doch, dass sie einen vor schweren Nebenwirkungen schützt. Deshalb versuchen Politiker ja auch alles, die Impfquote nach oben zu drücken. Wenn der Impfgegner jemandem schadet, dann also in erster Linie sich selbst. Wo liegt da die Tyrannei?

Ich wünsche mir im Gegenteil mehr Konsequenz. Ich hätte erwartet, dass der Impfgegner auch das Krankenhaus meidet. Wer sagt, dass die Medikamente, die sie ihm dort verabreichen, nicht noch schlimmer als die Spritze sind? Ein britischer Arzt hat vor ein paar Tagen ein Foto mit den Präparaten hochgeladen, die sie ei- nem Covid-Patienten geben, der auf der Intensivstation landet. 50 verschiedene Arzneimittelpackungen und Beutel waren darauf zu sehen.

Als Impfgegner würde ich sofort Reißaus nehmen, wenn sich mir jemand im weißen Kittel nähert. Wer weiß, was sie da an einem austesten, um ihre Statistiken aufzubessern! Außerdem schmälert es enorm den Heldenmut, wenn man sich beim ersten Anzeichen von Covid in ärztliche Obhut begibt. Sich über die Corona-Hysterie lustig machen und dann bei Atemproblemen zum Doktor rennen? Das passt irgendwie nicht zusammen.

Alles läuft jetzt auf die Frage zu, wer Anrecht auf ein Krankenhausbett hat. Das ist der Flaschenhals. Wenn die Zahl der Infektionen weiter so steigt, gibt es nicht mehr genug Platz für alle. Noch ist der Punkt nicht erreicht, wo man Patienten abweisen muss, aber so fürchterlich weit sind wir davon nicht mehr entfernt.

Die juristische Lage ist vertrackt. Ich saß vergangene Woche mit einem Mitglied der bayrischen Staatsregierung zum Mittagessen zusammen. Wir sind die Möglichkeiten durchgegangen, die der Politik bleiben, um den Kollaps abzuwenden.

Impfpflicht für alle? Das bekommen wir nicht hin, sagte mein Gesprächspartner. 15 Millionen Deutsche gegen ihren Willen impfen lassen, wie soll das gehen? Wer sich bislang nicht hat impfen lassen, der will nicht. Der Anteil der Leute, die zu beschäftigt oder zu verpeilt waren, beizeiten das Impfzentrum aufzusuchen, ist gering.

Lockdown für alle? Da steigen einem die 70 Prozent Geimpfte aufs Dach. Warum haben wir uns impfen lassen, wenn alles wieder von vorne losgeht, würden sie sich zu Recht fragen. Bleibt die Zuteilung der Krankenhausbetten nach Härtegrad. Weil „Triage“ so hässlich klingt, spricht man lieber von „Auslastungsoptimierung“: Wer das Intensivbett nicht unbedingt braucht, wird auf eine andere Station verlegt. Nur, welche Kriterien sollen dabei gelten?

Mein Gesprächspartner verwies darauf, dass es unter Juristen die Schadensminderungspflicht gebe. Das war das Wort, das er benutzte. Wer darauf setzt, dass die Gesellschaft für ihn einsteht, von dem darf man erwarten, dass er seinen Teil dazu beiträgt, vermeidbare Risiken, nun ja, eben zu vermeiden. Mir erschien das plausibel.

Ein Freund, mit dem ich darüber diskutierte, verwies auf Raucher oder Trinker. Man würde ja auch keinem Raucher die Behandlung seines Lungenkarzinoms verweigern, weil er alle Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen missachtet habe, wandte er ein. Aber das Argument überzeugte mich nicht ganz.

Niemand käme auf die Idee, wegen fortgesetzten Rauchens den Katastrophen-fall auszurufen. Beziehungsweise: Wenn wegen der Raucher eine nationale Notlage einträte, würden wir dann nicht verlangen, dass sie sofort mit dem Rauchen aufhörten und andernfalls die Folgen ihres Handelns trügen, statt sie auf die Allgemeinheit abzuwälzen?

Vielleicht ist das der Weg: Impfpflicht für alle, aber man kann sich davon befreien lassen. Wer sich nicht impfen lassen will, muss vorher unterschreiben, dass er die Konsequenzen trägt. Im Netz kursiert eine entsprechende Patientenverfügung, die man sich herunterladen kann. Nennen Sie mich kaltherzig, aber ich finde in dem Fall: Wer A sagt, sollte auch B sagen.

©Sören Kunz

Eine Frage der Herkunft

Eine Studie sagt, dass Ungeimpfte eher weiblich sind, eher Kinder sowie ausländische Wurzeln haben. Auch wenn es tabu ist: Wer die Impf- bereitschaft steigern will, kommt nicht umhin, nach dem Migrationshintergrund zu fragen.

Warum lassen sich so viele Menschen nicht impfen? Mich beschäftigt die Frage. Viele Argumente sprechen fürs Impfen. Die Zahl der Infektionen steigt wieder, auch die Krankenstationen füllen sich. Auf den Intensivstationen liegen jetzt 1500 Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind. Über 90 Prozent der Patienten sind ungeimpft. Die Impfung verhindert eine Ansteckung nicht vollständig. Aber dass man so erkrankt, dass man beatmet werden muss, ist extrem unwahrscheinlich.

Ich gehöre zu den Menschen, denen es schon Anfang des Jahres nicht schnell genug gehen konnte. Kaum hatte in Bayern das erste Impfzentrum eröffnet, stand ich auf der Warteliste. Mein Impfpass hat keine freie Seite mehr. Tetanus, Typhus, Tollwut, Gelbfieber, japanische Enzephalitis – bei mir ist alles abgedeckt. Wenn mir der Arzt sagt, er würde eine Impfung empfehlen, rolle ich schon den Ärmel hoch.

Vielleicht bin ich zu sorglos. Ich komme aus einer Generation, die noch die Schluckimpfung kannte. Von einem Kind in der Nachbarschaft hieß es, es sitze seit der Polio-Prophylaxe im Rollstuhl. Ein sogenannter Impfschaden. Immer wenn der Junge an uns vorbeifuhr, schlugen wir ein Kreuz, dass dieses Schicksal an uns vorbeigegangen war. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, dass jemals davon die Rede gewesen wäre, dass man Impfungen misstrauen müsse. Wenn es in den siebziger Jahren schon Impfgegner gab, dann kann ihre Zahl nicht größer gewesen sein als die der Zeugen Jehovas.

Letzte Woche kam ich vor der Kita mit einem Vater ins Gespräch, der gerade aus dem Frankreichurlaub zurückgekehrt war. Wir unterhielten uns über die Quarantäne-Bestimmungen. Wie sich herausstellte, hat er sich bis heute nicht impfen lassen. Ich glaube, es ist der Widerwille, bei einer Sache Anordnungen Folge zu leisten, von der er findet, dass sie Privatsache sei. Eigentlich ist mir die Haltung sympathisch. Ich mag es auch nicht, wenn man mich bedrängt. Andererseits: Lieber einen Stich in den Arm als künstlich beatmet, denke ich mir.

Ab Oktober muss er jetzt jeden Test selbst bezahlen. Es wird ein Ringen. Je schwerer es ihm die Regierung macht, desto größer sein Widerwille. Ich vermute, dass er am Ende nachgeben wird, weil er es leid ist, jedes Mal einen Test zu machen, wenn er zum Friseur oder ins Restaurant will. Aber sicher bin ich mir nicht. Bayern können sehr stur sein.

Ich glaube, die Zahl der echten Impfgegner wird überschätzt. Die meisten denken wie der Vater aus meiner Kita. Oder sie sind sich unsicher, was die Nebenwirkungen angeht. Interessanterweise scheint die Zahl der Impfskep-tiker unter Krankenschwestern besonders hoch zu sein. Hier hat sich hier das Gerücht verbreitet, die Impfung mache unfruchtbar. Schwer zu sagen, wer das aufgebracht hat, aber es ist unter den Pflegekräften wie ein Lauffeuer herumgegangen.

Es gibt offenbar auch eine Menge Leute, die einfach die Dringlichkeit nicht sehen. Ich habe dazu ein aufschlussreiches Interview mit einem Lungenarzt gelesen, auf dessen Station viele Covid-Fälle liegen. Wenn er die Patienten bei der Aufnahme fragt, warum sie sich nicht rechtzeitig haben impfen lassen, sagen viele, sie seien organisatorisch noch nicht dazu gekommen. Oder: Sie hätten gedacht, mit einem guten Immunsystem sei man geschützt. Der Arzt spricht es nicht direkt aus, aber die Impfbereitschaft scheint auch eine Frage des sozialen Hintergrunds zu sein. Zu dem gleichen Schluss kommt auch eine diese Woche veröffentlichte Studie der Uni Erfurt, wonach Ungeimpfte eher weiblich sind, eher Kinder großziehen sowie öfter einen niedrigen Bildungsstand und ausländische Wurzeln haben.

Ich fühlte mich an ein Gespräch erinnert, das ich auf dem Höhepunkt der dritten Welle mit einem Bekannten hatte, der ein großes Klinikum in Deutschland leitet und der erzählte, dass eine erstaunlich hohe Zahl von Menschen auf der Intensivstation über einen Migrationshintergrund verfügten. Es sei in der Ärzteschaft ein offenes Geheimnis, dass die Zahl der Patienten mit ausländischen Wurzeln viel höher sei, als das ihrem Anteil an der Bevölkerung entspreche. Sollte man darüber nicht berichten, fragte ich. Wird schwierig, sagte mein Bekannter. Wenn du offiziell bei der Klinik anfragst, werden sie dir sagen, dass man keine Daten zu sozialer Herkunft oder ethnischem Hintergrund erhebt.

Herkunft ist ein Tabu, weshalb man ja auch nicht mehr sagen soll, ob der Handtaschenräuber aus Deutschland oder Rumänien stammt. Ich halte das für einen Fehler. Die Leute machen sich auch ohne Hilfestellung der Medien ihren Reim auf die Dinge. Wenn von einer Großhochzeit die Rede ist, die außer Kontrolle geraten sei, gehen die meisten stillschweigend davon aus, dass es sich nicht um eine typisch deutsche Festgemeinschaft gehandelt haben wird.

Es macht es auch schwerer gegenzusteuern. Wenn man wüsste, dass die Zahl von Menschen, die noch nicht geimpft sind, in migrantischen Vierteln besonders hoch ist, könnte man gezielt dort hingehen und für die Impfung werben. In Berlin boten sie Impfwilligen diese Woche einen Döner dazu an. Ich habe sonst wenig Vertrauen in die politischen Künste des Berliner Senats, aber das halte ich ausnahmsweise für eine gute Idee. Man kann sich darüber lustig machen, dass man Menschen mit Gutscheinen zum Impfen lockt. Aber wenn es hilft, Schwankende zu überzeugen, warum nicht?

Wir neigen dazu, von uns auf andere zu schließen. Das lässt sich durch die ganze Pandemie beobachten. Wenn die Politik den Bürgern Homeschooling empfiehlt, scheitern nicht wenige Bürger schon am Wort. Jetzt hat die Regierung eine Impfwoche ausgerufen. Dass es Menschen gibt, die keinen Hausarzt haben, weil ihnen ihre Gesundheit mehr oder weniger egal ist, können sich viele Politiker schlechterdings nicht vorstellen. So wie sie sich ja auch nicht vorstellen können, dass es Leute gibt, die sich morgens nicht einmal in der Lage sehen, ihren Kindern die Zähne zu putzen, geschweige denn ihnen ein vernünftiges Frühstück zuzubereiten.

Wir haben uns abgewöhnt, genauer hinzusehen, weil es nicht als opportun gilt. Wenn vom Leben am anderen Ende der Gesellschaft die Rede ist, dann in merkwürdiger verklärter Form. Wo jemand scheitert, sind immer die Verhältnisse schuld oder das System oder irgendeine höhere Macht, die man verantwortlich machen kann. Deshalb gibt es ja heute im Prinzip auch keine soziale Frage mehr, die sich nicht mit finanziellen Zuwendungen oder gutem Zureden lösen ließe.

In der „New York Times“ fand sich neulich ein langes Stück über die geringe Impfquote unter Schwarzen. Normalerweise lässt die „Times“ kein gutes Haar an den Hillbillys auf dem Lande, die auf Maske und Impfen pfeifen. In dem Fall war die Redaktion voller Verständnis. Die lange Geschichte der Diskriminierung lasse Schwarze skeptisch auf das Gesundheitssystem blicken, lautete der Tenor. Dass sich viele nicht impfen lassen wollen, sei so gesehen eine Bestätigung des latenten Rassismus der Gesellschaft.

Ich warte auf den Tag, wo auch in Deutschland jemand behauptet, dass die geringe Impfquote unter Migranten auf ihre Stigmatisierung zurückzuführen sei. Da ist mir der normale Impfgegner lieber, muss ich sagen. Der glaubt vielleicht an Quark. Aber er macht wenigstens andere nicht für seinen Quark verantwortlich.

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich bin auch in der Frage des Impfens ganz liberal eingestellt. Wenn sich jemand nicht impfen lassen will, sollte man ihn nicht dazu zwingen. Zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehört das Recht, Risiken einzugehen, die Leute wie ich unbedingt vermeiden wollen. Ich sehe auch nicht, dass die Gefahr, dass Kinder ernsthaft erkranken, so groß ist, dass sie einen Impfzwang rechtfertigen würde.

Es sollte nur niemand erwarten können, dass wir alles noch einmal abschließen, wenn die Krankenhäuser wieder überlaufen. Wer dann keinen Platz auf der Intensivstation bekommt, weil das Immunsystem doch nicht stärker als das Virus war, hat Pech gehabt. Bislang drücken sich Politiker um eine klare Aussage herum, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass sie sich auch hier deutlich äußern.

©Michael Szyszka (mit Christianie Biniek)

Spinnt Spahn?

Der Kolumnist hat nie zu denen gehört, die den Gesundheitsminister für jeden Fehler in der Krise verantwortlich machten. Aber jetzt reicht es ihm. Solange Jens Spahn dabei ist, wird er im September alles wählen, aber nicht die Union

Führt die Regierung einen heimlichen Feldzug gegen Kinder? Haben die Kinder irgendetwas getan, wofür man sich in Berlin meint rächen zu müssen? Das frage ich mich inzwischen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war am Wochenende bei der Evangelischen Akademie Tutzing zu Gast. Das Thema lautete „Nach Corona?“. Erst sprach Wolfgang Thierse, früher Bundestagspräsident und heute Leiter des Politischen Clubs der Akademie, ein paar Einleitungssätze. Danach war Spahn an der Reihe.

Der Minister zog zunächst eine positive Bilanz. Nie sei das Gesundheitssystem so überlastet gewesen, dass man Patienten hätte abweisen müssen. Die Wissenschaft habe eine wichtige Rolle gespielt. Auch der Zusammenhalt der Gesellschaft sei etwas, worauf man stolz sein könne.

Dann kam er auf die Delta-Variante zu sprechen. Schulen seien Drehscheiben des Virus in die Haushalte hinein, sagte Spahn. Da man unter 12-Jährige nicht impfen könne, werde man nach den Sommerferien wieder Schutzmaßnahmen brauchen: Masken, Abstand, Wechselunterricht.

Als ich das erste Mal von dem Auftritt hörte, dachte ich, das sei ein Scherz. Rückkehr zum Wechselunterricht? Weiß der Minister, wovon er redet? Kennt er die Wirklichkeit in den Schulen?

Meine Schwiegermutter war bis vor Kurzem Lehrerin an einer Grundschule in Bayern. Ihre beste Freundin hat noch zwei Jahre bis zur Pensionierung. Sie hat ihre Schüler jetzt zum ersten Mal seit einem Jahr in der Klasse ohne Maske gesehen. Es war für alle ein bewegender Moment. Einige Kinder wussten gar nicht, dass es Unterricht ohne Maske gibt.

Und das soll jetzt wieder alles von vorne beginnen?

Man muss in der Zeitung nur umblättern, um von der Ankündigung über die Wiedereinführung des Wechselunterrichts zu dem Bericht über die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen zu gelangen. Die Zahl der psychisch auffälligen Kinder ist inzwischen so groß, dass nur wer akut in Not ist, einen Therapieplatz bekommt. „Akut in Not“ heißt: selbstmordgefährdet.

Auch Kinder, die nicht an Depressionen leiden, haben es schwer, in den Schulalltag zurückzufinden. Am Wochenende wurde eine Studie publik, wonach die Qualität des Distanzunterrichtes dem von Sommerferien entsprach. Jeder weiß, wie viel in den Sommerferien gelernt wird.

Es ist nicht so, dass die Regierung kein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen in der Pandemie hätte. Fußballfans liegen ihr sehr am Herzen. In München lagen sich 14000 Menschen nach dem Sieg über Portugal in den Armen. Das Stadion ist keine Drehscheibe des Virus, es ist ein Drehkreuz. Aber man will ja kein Spielverderber sein. Außerdem gibt es Wichtigeres zu diskutieren als den Infektionsschutz, die Frage der angemessenen Stadionbeleuchtung zum Beispiel.

Man kann sogar nach London reisen, um dort der Siegermannschaft zuzujubeln. England steht wegen der Delta-Mutante auf der Skala der Risikogebiete als Virusvariantengebiet auf der höchsten Stufe. Die Bundesregierung rät von Reisen nach London ab. Aber es ist auch nicht so, dass man den Reiseverkehr unterbinden würde oder die Schlachtenbummler anschließend in Quarantäne nähme. Mit der UEFA will es sich niemand verscherzen. Deshalb fragt man auch vorsichtshalber um Genehmigung, bevor man das Stadion in den Farben des Regenbogens erstrahlen lässt.

Politik diene den Menschen, heißt es gern. Vor allem dient sie den Gruppen, die sich besonders lautstark in Erinnerung bringen. Ganz oben in der Gunst stehen Friseure, wie man jetzt weiß. Auch die Besitzer von Baumärkten haben mächtige Fürsprecher. Ziemlich weit hinten finden sich Künstler, Autoren, Freischaffende. Ganz unten rangieren Familien.

Am Ende ist Politik ein Rechenspiel. Es gibt 22 Millionen Rentner, das ist der mit Abstand wichtigste Wählerblock. Wer die Rentner auf seiner Seite hat, der sitzt praktisch schon im Kanzleramt. Wenn ich als Politiker vor der Wahl stünde, was ich als Erstes öffne, Kreuzfahrtschiffe oder Klassenräume, ich wüsste auch, wofür ich mich entscheiden würde.

Ich habe nie zu denen gehört, die alles, was schiefläuft, an Spahn aufhängen. Als man ihm aus den Maskendeals einen Strick drehen wollte, war ich im Lager derjenigen, die Verständnis für die Eile beim Einkauf hatten. Ich fand auch den Vorwurf überzogen, er habe an Obdachlose minderwertige Masken abgeben lassen, weil die nicht ausreichend darauf getestet wurden, ob sie bei 70 Grad noch einwandfrei funktionieren.

Selbst als herauskam, dass sein Ministerium Millionen mit Schnelltests in den Sand gesetzt hat, da man bei der Erstattung der Kosten die einfachsten Plausibilitätchecks unterließ, dachte ich: Okay, nicht schön, aber für jeden ist das die erste Pandemie, auch für die Beamten im Gesundheitsministerium. Inzwischen denke ich, dass Spahn als Minister einfach heillos überfordert ist.

Was soll das heißen: die Schulen seien Drehscheibe des Virus in die Haushalte hinein? Wollen wir erst dann über eine Rückkehr zur Normalität reden, wenn sich niemand mehr ansteckt? Was wäre der richtige Zeitpunkt? Wenn sich die sogenannte Herdenimmunität einstellt? Ob die je erreicht werden kann, daran haben die Virologen große Zweifel.

Am Montag hat Spahn seine Ankündigung relativiert. Er findet jetzt auch, dass es wichtig sei, die Schulen offen zu halten. Ich glaube, er sagt das nur, weil er weiteren Ärger vermeiden will. Die Zahl der Infektionen hat sich über das Wochenende ja nicht geändert. Auch die Voraussagen über die Verbreitung der indischen Mutante sind die gleichen geblieben.

Was mich rasend macht, ist die Mischung aus Fatalismus und Nonchalance. Wann habe ich das erste Mal einen Artikel über die segensreiche Wirkung von Luftfiltern gelesen? Im Sommer 2020? 3500 Euro kostet ein Gerät, das alle Schadstoffe so verlässlich aus der Luft filtert, dass 99 Prozent der Viren hängen bleiben. Selbst das „Cafe Luitpold“ am Münchner Odeonsplatz hat sich so einen Kasten angeschafft, damit die Kundschaft unbehelligt von Aerosolen den Kuchen genießen kann. Aber für unsere Kinder ist uns die Anschaffung zu kostspielig?

Vor ein paar Monaten stand in der Zeitung die Geschichte eines Unternehmers, der die Untätigkeit nicht mehr ertrug und deshalb der Schule seines Sohnes ein Dutzend Geräte schenkte. Kaum waren die Filteranlagen geliefert, trat die Schulverwaltung auf den Plan und verbot die Aufstellung. Man könne nicht ausschließen, dass die Stromleitungen überlastet würden. Vor dem Kampf gegen das Virus steht in Deutschland immer noch die Brandschutzverordnung.

Man kann sagen: Gut, Spahn, der ist Gesundheitsminister, was hat der schon bei den Schulen zu entscheiden? Auch mein Zutrauen in die Kultusminister geht gegen null. Alle behaupten, das Schicksal der Schulkinder sei ihnen wichtig, man wolle die Schulen auf keinen Fall wieder schließen. Aber ich glaube, genau so wird es kommen. So wie ich die Kultusminister kenne, werden sie sich jetzt in die Sommerferien verabschieden, um mit Beginn des neuen Schuljahres dann erstaunt festzustellen, dass die Infektionszahlen im Herbst ja wieder steigen.

Meine Frau hat eigentlich immer die Union gewählt. „Solange Spahn dabei ist, wähle ich sie nicht mehr“, erklärte sie am Wochenende. Ich habe ihr beigepflichtet. Es ist ungerecht, den angesammelten Ärger an einer Person festzumachen, aber das ist nun einmal das Privileg des Wählers. Auf die Stimmen der Familie Fleischhauer wird die Union im September verzichten müssen.

©Sören Kunz

Wer zählt als Opfer?

Die Mutter des Autors wurde am 26. April mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingewiesen. Seitdem ringen er und sein Bruder mit den Lockdown-Regeln, die jeden Kontakt verbieten

Eine Frau steht in der Küche und füttert die Katze. Es ist 10 Uhr morgens. Am Mittag wird sie ihren Mantel überziehen und sich auf den Weg in die kleine Stadt machen, um wie jeden Tag beim Italiener ihr Mittagessen abzuholen. Sie ist 84 Jahre alt. Sie hat Mühe, sich an Dinge zu erinnern, die man ihr erst vor Kurzem erzählt hat. Manchmal wird sie dann ärgerlich. Aber wenn man sie fragen würde, wie es ihr geht, würde sie sagen, dass sie sich nicht beklagen könne.

Plötzlich wird ihr unwohl, so als ziehe eine Wolke im Kopf auf. Das Telefon klingelt, einer der Söhne ist am Apparat. Du redest so komisch, Mama, sagt er, was ist los?

Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in einem Krankenzimmer. Fremde Menschen treten an ihr Bett und machen sich an ihr zu schaffen. Sie fragt nach ihrem Zuhause, ihren Kindern. Die werde sie leider für längere Zeit nicht sehen können, sagt man ihr.

Die ältere Frau ist meine Mutter. Sie hat am 26. April einen Schlaganfall erlitten. Ich habe es in meiner letzten Kolumne erwähnt, als ich über die Unerbittlichkeit der Corona-Regeln schrieb. Wenn davon die Rede ist, dass man nicht voreilig öffnen dürfe, wird oft so getan, als gehe es darum, dass die Geburtstagsfeier pünktlich stattfinden kann oder der Jogger nach 22 Uhr wieder auf die Straße darf. Ich glaube, viele machen sich nicht bewusst, welche dramatischen Einschränkungen mit dem Lockdown verbunden sind, der nach wie vor in weiten Teilen Deutschlands gilt.

Ich dachte, das Kontaktverbot in der Klinik wäre temporär. Irgendjemand werde schon ein Einsehen haben, dass dies für eine alte Frau, die plötzlich aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurde, ein untragbarer Zustand ist. Aber es hatte niemand ein Einsehen. Alles, was wir zu hören bekamen, war, dass die Corona-Regeln grundsätzlich keine Besuche von Angehörigen erlauben würden. Ob man die Mutter nicht im Rollstuhl vor die Tür schieben könne, fragte mein Bruder. Nicht möglich, sagt die Stationsärztin. Sie wissen, die Ansteckungsgefahr! Aber die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken, tendiert draußen doch gegen null. Es tut uns leid, keine Ausnahme möglich.

Mein Bruder ist einmal geimpft, meine Mutter hat bereits ebenfalls eine erste Impfung erhalten. Spielt keine Rolle. Könnte man die Mutter nicht ein zweites Mal impfen, damit sie in die Gruppe derjenigen aufrückt, für die gelockerte Regeln gelten? Für Impfungen ist das Krankenhaus nicht zuständig. Außerdem gibt es auch bei vollständig Geimpften ein Restrisiko. Daher weiterhin: strenges Besuchsverbot.

Wir versuchen, uns aus den Bruchstücken an Informationen, die wir erhalten, ein Bild zu machen. Erst heißt es: ein leichter Schlag, man müsse sich keine Sorgen machen. Dann ist plötzlich von Lähmungserscheinungen die Rede. Ach, das hat Ihnen niemand gesagt? Ja, Lähmung der rechten Seite, das Sprachzentrum ist ebenfalls betroffen. Damit entfällt auch die Möglichkeit zum Telefonat. Später heißt es, meine Mutter habe im Krankenhaus eine Hirnblutung erlitten, Folge einer dort erfolgten medikamentösen Behandlung.

Das ist also die Lage: eine 84-jährige Frau, mutmaßlich verwirrt und geschockt, ohne Aussicht auf ein tröstendes Gespräch oder die Chance, sich mit jemandem, den sie kennt, über die Risiken einer Behandlung zu beraten. Angeblich hat man ihr empfohlen, einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen, da man Herzrhythmusstörungen festgestellt hat. Es heißt, sie habe die Operation abgelehnt. Ob sie wusste, was sie ablehnt?

Ich erzähle das nicht, weil ich Mitleid schinden will. Es gibt Menschen, die es noch schlimmer getroffen hat. Meine Schwägerin berichtet am Telefon von einer Freundin, die beide Eltern verloren hat, ohne dass sie Abschied hat nehmen können. Sie liege nachts manchmal wach und frage sich, wie die letzten Momente ihrer Eltern ausgesehen haben mögen, in der Isolation, ohne Gelegenheit, noch einmal die Hand eines vertrauten Menschen zu spüren.

Inzwischen sind immerhin die Palliativpatienten vom Kontaktverbot ausgenommen. So gesehen hat man Pech, wenn man zu langsam oder zu schnell stirbt. Was in den Krankenhäusern passiere, sei furchtbar, sagt die Schwägerin, und sie ist kein sentimentaler Mensch. Sie ist selbst Ärztin.

Ich erzähle das, weil ich es leid bin, dass so getan wird, als habe der Lockdown keine Opfer zur Folge. Ich bin immer wieder sprachlos, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen, die niemanden an die Pandemie verloren haben, im Namen der Corona-Opfer sprechen.

Ich habe in der erwähnten Kolumne beschrieben, was passiert, wenn man von der Berichterstattung in den Kampagnenmodus wechselt. Ich erwähnte dabei auch den „Spiegel“, der mit einer Reihe von Prognosen spektakulär danebenlag. Am Nachmittag der Veröffentlichung meldete sich der Ressortleiter der Wissenschaftsredaktion, Olaf Stampf, auf Twitter. „Wenn 70000 Tote seit Oktober keine furchtbare Zahl ist, weiß ich auch nicht“, schrieb er. Hat Olaf Stampf einen Angehörigen verloren, fragte ich mich, als ich das las. Weiß er, wie es sich anfühlt, wenn erst der Vater stirbt und dann die Mutter?

Mein Vater ist im April letzten Jahres gestorben. Er lebte in einem Pflegeheim. Er hat sich furchtbar gegen den Umzug gewehrt, wie viele alte Menschen, die wissen, dass der Schritt unumkehrbar ist. Fast ein Jahr lang hat er gebettelt, dass man ihn wieder nach Hause lasse. Irgendwann hat er sich gefügt. Was ihn aufrecht hielt, waren die Besuche meiner Mutter. Morgens um 10 Uhr kam sie, um ihm beim Frühstück zu helfen. Sie saß neben ihm, wenn er in der Zeitung las, und auch, wenn er in seinem Rollstuhl döste.

Als die erste Welle Deutschland heimsuchte, hieß es, niemand außer dem Pflegepersonal dürfe das Heim betreten. Man kann der Heimleitung keinen Vorwurf machen, sie hat alles getan, was in ihrer Macht stand. Als meine Mutter wieder zu meinem Vater durfte, gab es den Mann, den sie verlassen hatte, nicht mehr. Wäre ich pathetisch, würde ich sagen: Das Virus hat ihn ausgelöscht, wie eine Kerze, der man den Sauerstoff entzieht. Zehn Tage später war mein Vater tot.

Ist er ein Corona-Opfer? Gehört er zu denen, die der bayerische Ministerpräsident als die „wahren Opfer“ der Krise bezeichnet hat? Was ist das überhaupt, ein wahres Opfer?

Der Gesundheitsminister hat einen Intensivpfleger in die Bundespressekonferenz eingeladen, damit er aus seinem Alltag berichtet. Das Video des Auftritts wurde tausendfach geteilt. Ich bewundere Leute, die Leben retten. Andererseits: Ist es nicht die Aufgabe eines Intensivpflegers, schwer kranke Menschen zu versorgen, unabhängig von der Art der Erkrankung?

Man könnte sich auch fragen: Warum lädt Jens Spahn nicht einen Kinder- und Jugendpsychiater ein, der Auskunft geben könnte, wie es auf seiner Station aufgrund des Lockdowns aussieht? Oder einen Seelsorger, der berichtet, wie es ist, wenn die Menschen einsam sterben, weil die Regeln es so verlangen? Weil man dann plötzlich einen anderen Blick auf die verhängten Maßnahmen bekäme?

Ich fürchte, wenn ich noch einmal höre, dass den Leuten, die für Lockerungen sind, Menschenleben egal seien, muss ich speien. „80000 Menschen tot“, brüllte der ZDF-Moderator Jan Böhmermann im Streit um die Videos, mit denen eine Reihe von Schauspielern gegen die Corona-Maßnahmen protestierte, ins Netz. Nur das: „80000 Menschen tot“. So, als sei die Zahl der Menschen, die seit dem Beginn des Lockdowns an Covid gestorben sind, ein Argument, gegen das sich jeder Einwand erübrige.

Hat Jan Böhmermann einen geliebten Menschen verloren? Trauert er um den Verlust? Oder ist sein Auftritt nur ein Stunt, eine der Aktionen, mit denen er sich im Gespräch hält? Ein Ressortleiter des Redaktionsnetzwerkes RND schrieb, die Schauspieler würden die Angehörigen verhöhnen. Ich weiß nicht, welche Angehörigen der Mann kennt. Ich fühlte mich nicht verhöhnt.

Am Dienstag durfte mein Bruder meine Mutter nach 16 Tagen sehen. Die Oberärztin sagte, ihr Zustand sei so traurig, dass er nahe an dem einer Palliativpatientin sei, da könne man eine Ausnahme machen. Er durfte eine Stunde lang ihre Hand halten. Bei der Verabschiedung erinnerte man ihn daran, dass dies wirklich eine einmalige Ausnahme gewesen sei.

„80 000 Menschen tot“, brüllt Jan Böhmermann ins Netz ©Marie Wolf

Der ewige Lockdown

Auch die Kanzlerin scheint sich in der Krise zu radikalisieren. Statt möglichst viele Stimmen zu hören, engt sie den Kreis der Berater auf Leute ein, die ihr alle das Gleiche empfehlen: noch härtere Maßnahmen, noch länger

Wovon träumt Viola Priesemann? Träumt sie von singenden Walen oder von elektronischen Schafen? Liest sie Rilke oder mag sie Celan? Interessiert sie sich für Architektur? Weiß sie, wer Igor Levit ist? Ich wüsste gerne, wie sie denkt. Ob sie ein kreativer Mensch ist oder jemand, der nur Zahlen im Kopf hat. Von ihrem Urteil hängt in diesen Tagen viel ab. Wenn sie sagt, dass nach den Restaurants, den Museen und den Geschäften jetzt auch alle Betriebe und Unternehmen schließen müssen, dann spricht viel dafür, dass es so kommt.

Viola Priesemann ist Physikerin. Spezialgebiet: Theorie neuronaler Systeme. Vor Weihnachten wurde sie erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Da hatte sie ein Papier veröffentlicht, in dem sie dazu riet, die Zahl der Corona- Infektionen auf zehn von 100000 Einwohnern zu drücken, besser noch auf sieben. Im Augenblick liegt die Zahl der Ansteckungen im Schnitt bei 160, in vielen Kreisen deutlich darüber. Man ahnt, welche Anstrengungen es bräuchte, um auf den von Viola Priesemann empfohlenen Wert zu kommen.

Die Physiker haben die Virologen als die Exegeten der Krise abgelöst. Die Virologen erklären, wie sich das Virus verhält. Die Physiker modellieren in ihren Computern den Verlauf der Pandemie. Sie sagen uns, wo wir in zehn, zwanzig oder vierzig Tagen stehen. Von diesen Rechnungen hängt ab, wer sich wie lange außerhalb seiner Wohnung aufhalten darf, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.

Welche Bedeutung Wissenschaftlern wie Priesemann zukommt, konnte man sehen, als die Entscheidung über die Verlängerung des Lockdowns anstand. Vor der entscheidenden Sitzung hatte die Kanzlerin zu einer Konferenz eingeladen. Christian Drosten war dabei, der Hausvirologe der Regierung; Lothar Wieler vom Robert Koch-Institut; Michael Meyer-Hermann, der Mann mit dem Dutt, der schon immer fand, dass man Deutschland so lange schließen sollte, bis das Virus verschwunden ist. Und die Physikerin vom Max-Planck-Institut aus Göttingen. Die Runde war sich schnell einig: die sozialen Kontakte einschränken, koste es, was es wolle.

Man sollte meinen, dass sich die Kanzlerin breiten Rat einholt. Wenn es eine Lehre aus existenziellen Krisen gibt, dann, dass die Leute an der Spitze gut daran tun, auch abweichende Meinungen anzuhören. Nichts kann verhängnisvoller sein als ein Expertenkreis, in dem man sich zu einig ist. Die Wissenschaft spricht vom Groupthink, das schnell in die Selbstradikalisierung führt. Dazu existiert ebenfalls ausreichend Forschung. Aber Soziologie oder Psychologie zählten noch nie zu Angela Merkels Interessengebieten.

Auch in der Virusbekämpfung gibt es Stimmen, die zu einem besonnenen Vorgehen raten. Der Epidemiologe Klaus Stöhr, der als Direktor des Influenza-Programms der WHO viel Erfahrung mit Grippeverläufen gesammelt hat, gehört dazu. Stöhr kann sehr überzeugend darlegen, weshalb es reines Wunschdenken ist, die Inzidenz im Winter unter 50 drücken zu wollen. Aber solche Experten sind in den Kanzlerrunden nie dabei. Angela Merkel hört den Rat, den sie hören will. Das ist dann auch der Rat, der den Ministerpräsidenten präsentiert wird. So schließt sich der Kreis.

Wir bewegen uns auf eine neue Phase des Lockdowns zu. Die Kanzlerin spricht bereits davon, die Maßnahmen bis Ostern zu verlängern. Dieses Mal wird es die Wirtschaft auch in ihrer ganzen Breite erwischen. Warum sind Schulen und Restaurants zu, ruft der Chor der

Lockdown-Befürworter, aber auf dem Weg zur Arbeit darf man im Bus nebeneinanderstehen? Schluss damit!

Ich finde es erstaunlich, wie wenig kreativ und innovativ sich Deutschland ausgerechnet in seiner größten Belastungsprobe zeigt. Das Einzige, was der Regierung und den von ihr konsultierten Wissenschaftlern einfällt, ist, alles abzuschließen. Das kann, mit Verlaub, jedes Kind. Wir planen Missionen zum Mars und schicken Datenpakete in Lichtgeschwindigkeit um den Globus. Aber wenn es darum geht, das Virus in Schach zu halten, verhalten wir uns so, als lebten wir im Mittelalter.

Wobei, das ist ungerecht – dem Mittelalter gegenüber. Im 14. Jahrhundert hatte man immerhin die Pestmaske.

Wir sind noch nicht einmal in der Lage, ältere Menschen kostenlos mit Mundschutz zu versorgen. Der Wille dazu ist da. Leider gibt es Probleme mit den fälschungssicheren Berechtigungsscheinen.

Niemand in der Regierung weiß eine Antwort, warum der Lockdown nicht die erwünschte Wirkung zeigt. Den vor Weihnachten präsentierten Modellen zufolge sollte die Zahl der Infizierten jetzt bei 50 pro 100000 Einwohnern liegen. Es wird nicht einmal der Versuch unt ernommen, eine Erklärung zu finden. Aus dem Scheitern der Strategie zieht man einfach den Schluss, dass man die Anstrengungen verdoppeln müsse. Das ist Wissenschaft als Schamanismus.

Man sollte die Zahlen so weit senken, bis die Gesundheitsämter wieder jeden Kontakt nachverfolgen könnten, heißt es. Abgesehen davon, dass genau das schon beim ersten Mal nicht wirklich funktioniert hat, wie die Entwicklung im Spätherbst zeigte: Es gibt auch international kein Beispiel, wo ein harter Lockdown dauerhafte Entlastung gebracht hätte. Irland hat es versucht, Frankreich, Spanien. Kaum wurden die Einschränkungen gelockert, zogen die Zahlen wieder an. Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown. Aus dieser Logik gibt es kein Entrinnen, wenn man die Welt der Abschließung einmal betreten hat.

Wir kennen eine Ausnahme, das ist Neuseeland. Neuseeland ist das einzige demokratische Land, in dem eine Lockdown- Strategie erfolgreich war. Der Preis dafür ist allerdings absolute Abschottung nach außen – und „absolut“ heißt in dem Fall absolut. Davon ist selbstverständlich nie die Rede, wenn sich die Lockdown-Experten äußern. Europa ist den Verantwortlichen immer noch etwas heiliger, als es die Covid-Toten sind, die man jeden Tag beschwört.

Warum sink en die Zahlen nicht? Meine Vermutung ist: weil immer weniger Menschen der Kanzlerin folgen. In Umfragen sagen die meisten, dass sie mit den Maßnahmen einverstanden seien. Die ARD hat ihren „Deutschlandtrend“ veröffentlicht, wonach nur 17 Prozent die Corona-Politik der Regierung ablehnen. Es ist natürlich denkbar, dass es diese 17 Prozent sind, die auf dem Rodelberg stehen, bis die Polizei kommt. Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Schnittmenge zwischen Lockdown-Befürwortern und Lockdown- Ignoranten größer ist, als viele annehmen.

Menschliches Verhalten lässt sich nicht im Computer modellieren, das ist das Problem der Zahlenmystik. Deshalb lagen die sogenannten Quants schon in der Finanzkrise furchtbar daneben. Es waren vor allem Physiker, die ihre Rechner mit den Daten fütterten, aus denen dann die größten finanziellen Massenvernichtungswaffen der Moderne wurden. Der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher hat darüber ein ganzes Buch geschrieben. Es hieß „Ego“. Aber auch das hat im Kanzleramt vermutlich nie jemand gelesen.

Wir stehen vor der paradoxen Situation, dass die Mehrheit der Deutschen die Kanzlerin für ihre Krisenpolitik lobt und sich dann im Privaten konträr verhält. Daran wird auch ein schärferer Lockdown nichts ändern. Es sei denn, man stellt neben jeden Rodelschlitten einen Polizisten und ermuntert die Leute, den Nachbarn zu verpfeifen, wenn er mehr als die erlaubte Zahl an Gästen hat.

Der Präsident des Bayerischen Gemeindetages hat vorgeschlagen, Bewegungsprofile aus Handydaten auszulesen, um zu sehen, wer sich nicht an die 15-Kilometer-Regel hält. Er hat dafür gleich Prügel bezogen. Dabei hat der Mann völlig recht: Wer auf eine Inzidenz unter 50 kommen will, braucht den Polizeistaat.

Es ist wahnsinnig schwer, den Rückweg aus dem Lockdown anzutreten, wenn man den Weg einmal eingeschlagen hat. Jede Abweichung vom Kurs wäre das Eingeständnis, dass man sich verrechnet hat. Es wird ein langes, kaltes Frühjahr. Wenn wir aus diesem Albtraum erwachen, wird von dem Deutschland, das wir kennen, weniger übrig sein, als sich die meisten derzeit vorstellen können.

Unseren Lockdown gib uns heute

Sie finden den Lockdown zu hart? Manchen gehen die Maßnahmen längst nicht weit genug. Sie träumen von Irland: keine Treffen mehr zu Hause, Spaziergänge nur fünf Kilometer um die eigene Wohnung herum und die Arbeit eingestellt

Die Volksgemeinschaft ist zurück. Das Ideal einer Gesellschaft, in der Egoismus und Eigensinn keinen Platz mehr haben und alle sich einem großen Ziel verpflichtet fühlen, war etwas aus der Mode geraten. Die Pandemie hat auch das verändert. Die Volksgemeinschaft ist jetzt das Virus-Kollektiv.

Es braucht nicht viel, um sich außerhalb zu stellen. Es reicht, dass man schnell noch ein Weihnachtsgeschenk besorgt hat. Oder jemanden mit einem romantischen Essen überraschen will. Schon der unüberlegte Genuss eines Glühweins kann einen zum Volksschädling machen. Was heißt Volksschädling? Zum potenziellen Mörder!

„Wie viele Tote ist uns denn ein Shoppingerlebnis wert? Wie viele Tote wollen wir denn in Kauf nehmen für ein Candle-Light-Dinner?“, donnerte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, in Richtung der armen Menschen, die gerade noch darüber nachdachten, wie sie am besten ihre Lieben beschenken. Derselbe Mann übrigens, der lange so agierte, als würde Corona um die Hauptstadt einen großen Bogen machen.

Dass man sich bereits schuldig macht, wenn man aus dem Haus geht, ist eine weitreichende Idee. Wenn bereits die bloße Möglichkeit, dass das eigene Verhalten unerwünschte Folgen haben könnte, bedeutet, dass man sich sozialschädlich verhält, wird man künftig vieles nicht mehr tun dürfen.

Wer kann ausschließen, dass er mit seinem Auto einen Unfall verursacht? Mehr als 3000 Menschen kommen jedes Jahr im Straßenverkehr ums Leben, 380 000 werden verletzt. Da hilft auch der Umstieg auf ein Elektroauto nichts. Nach Corona gehen wir nur noch zu Fuß.

Die Maßstäbe, was akzeptabel ist und was nicht, schwanken. Das macht die Sache nicht leichter. Anfang Dezember galt der Weihnachtseinkauf noch als patriotische Tat, jetzt ist er also als asozial geächtet. Es gibt zwar keinen Beleg, dass sich Menschen in nennenswerter Zahl beim Einkaufen anstecken. Man liest von Pflegekräften, die dem Virus erliegen, aber nichts Vergleichbares über Verkäufer und Verkäuferinnen. Kann sein, dass die Ansteckung im Verborgenen geschieht. Aber dass sogar die Gewerkschaften schweigen, wenn Tausende an der Registrierkasse verheizt werden? Ich kann es mir nicht vorstellen.

Es gibt eine eigenartige Lust am Lockdown. Dass man ihn zähneknirschend als Notwendigkeit akzeptiert, um Menschen zu schützen, die sich selbst nicht schützen können – das leuchtet ein. Aber dass man das Unabänderliche begrüßt, ja geradezu herbeifleht? Das ist mir doch fremd.

Der Ton schwankt zwischen Kanzel und Kasernenhof beziehungsweise zwischen Predigt und Anschiss. „Macht den Laden zu, ihr Deppen“, rief Jan Böhmermann Anfang des Monats, wobei ich mich unwillkürlich fragte, wer denn die Deppen sind. Vermutlich Politiker, die nicht gleich spuren, wenn ein ZDF-Moderator, den sie in den Feuilleton-Etagen auf Händen tragen, die Sofort-Stilllegung des Landes verlangt. Selbst besonnene Zeitgenossen geraten plötzlich in Rage. „Lockdown jetzt“, schrie der sanfte Kollege von der „Zeit“ auf Twitter, um dann Verwünschungen gegen die „Egoisten“ folgen zu lassen, die das Gemeinwohl gefährden.

Ich werde störrisch, wenn man mich anschreit. Oder der Renitenz bezichtigt. Zu viel „Leugnung, Egoismus und Renitenz“ hätten den Lockdown unausweichlich gemacht, erklärte der ZDF-Chefredakteur Peter Frey im „heute journal“. Ich bin noch antiautoritär erzogen. Ich stamme aus einer Generation, die eine gewisse Aufsässigkeit und Widerspenstigkeit nicht als Makel, sondern als Vorzug sah und die es bis heute eigenartig findet, wenn Journalisten wie Erziehungsbevollmächtigte auftreten. Aber ich bin ja auch schon ein wenig älter.

Am vergangenen Wochenende hatten die Deppen endlich ein Einsehen und machten den Laden dicht. Aber wie das so ist, manchen gehen die Einschränkungen noch nicht weit genug. Das Lockdown-Paradies ist jetzt Irland: keine Treffen mehr zu Hause, Spaziergänge nur fünf Kilometer um die eigene Wohnung herum und die Arbeit weitgehend eingestellt.

Auch nach Lateinamerika und der in diversen Militärdiktaturen eingeübten Ausgangssperre richtet sich sehnsuchtsvoll der Blick. „Eine Peruanerin, die noch nicht lange in Deutschland wohnt, sagt: ‚Ich kann immer raus, wenn ich will? Dann ist das kein Lockdown‘“, schrieb eine ZDF-Korrespondentin an ihre Follower.

Keine Ahnung, was beim ZDF los ist. Vielleicht bleibt es nicht aus, dass man sich wünscht, andere würden das gleiche Schicksal teilen, wenn man in einer Anstalt lebt. Oder sie sind dort alle heimlich Mitglied einer Art Fernseh-Opus-Dei, bei dem nur diejenigen weiterkommen, die besonderen Glaubenseifer zeigen und sich noch mehr geißeln.

Viele Lockdown-Fetischisten sind erstaunlich unbekümmert, was die wirtschaftlichen Folgen angeht. Bei jemandem, der beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk beschäftigt ist, mag das verständlich sein. Eher tut sich der Boden unter Deutschland auf, als dass man als öffentlich-rechtlicher Mitarbeiter um seine Pension fürchten muss.

Aber wenn man bei einem Verlag arbeitet, dessen Wohlergehen von der Wirtschaftslage abhängt? Möglicherweise zeigt sich hier der viel beschworene Gemeinschaftsgeist. Ich tippe allerdings eher auf Kurzsichtigkeit. Auch in meinem Berufsstand halten erstaunlich viele Menschen Wirtschaft für etwas, das man mal eben ein- und ausschalten kann.

In der „Süddeutschen Zeitung“ las ich den Aufruf, den Lockdown als Gelegenheit zu sehen, endlich Abschied von „toxischen Traditionen“ zu nehmen. Unter toxischen Gewohnheiten listete die Autorin den Weihnachtseinkauf auf. Eine toxische Tradition von mir ist die Morgenlektüre der „Süddeutschen Zeitung“. Aber ich kenne mich, ich halte gute Vorsätze nur bedingt durch. Also lasse ich es mit den guten Vorsätzen lieber.

Ich habe auch nichts gegen Konsum. Die Verteufelung des Materiellen ist eine Spielart der Kapitalismuskritik, die ich immer für ziemlich abgehoben hielt. Man muss sich Konsumverzicht im wahrsten Sinne leisten können. Entsagung ist das Vergnügen von Leuten, die ohnehin genug haben. Oder wie der Autor Suketu Mehta in seinem fabelhaften Buch über seine Heimatstadt Bombay schrieb: Der Wendepunkt zur Wohlstandsgesellschaft ist erreicht, wenn mehr Leute darüber nachdenken, wie sie Gewicht verlieren, als darüber, wie sie Gewicht zulegen.

Unter der Oberfläche der Verzichtspredigt lauert die Verachtung für den Plebs, der saufen und kaufen muss. Die innere Welt, in die sich der Freigeist zurückzieht, steht nicht jedem offen, das wird dabei gern übersehen. Die Freude an der Einkehr setzt einen Bildungsstand voraus, der nicht allen gegeben ist. Manche sind nach getaner Arbeit auch einfach zu erschöpft zur Selbstversenkung.

Online-Einkauf ist leider ebenfalls keine sozialverträgliche Variante, wie man jetzt weiß. Wer dachte, er könne das Weihnachtsfest retten, indem er schnell noch bei Amazon bestellt, dem redete der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet ins Gewissen. Nun heißt die Losung: nicht online bestellen, sondern Gutscheine schreiben, die man dann im Januar oder im Februar einlöst – oder wann immer die Geschäfte wieder öffnen, wie Laschet in bemerkenswerter Offenheit sagte.

Ich habe eigentlich nur eine bescheidene Bitte: dass die Leute, die jetzt den Lockdown feiern, nicht im kommenden Frühjahr die Ersten sind, die dann Beiträge absetzen, in denen die Verödung der Innenstädte beklagt wird. Aber ich habe wenig Hoffnung. Dazu kenne ich meine Branche zu gut.

Seine Heiligkeit Dr. Drosten

Gegen die Verehrung, die der Berliner Chefvirologe Christian Drosten genießt, kommt selbst die Greta- Thunberg-Begeisterung nicht an. Deshalb gelten für den Mann aus der Charité auch andere Maßstäbe als für andere Wissenschaftler.

Ich muss an m einer Vorurteilsstruktur arbeiten. Ich dachte immer, der Virologe sei mehr so der verhuschte Typ, der sich ins Labor hinter seine Reagenzgläser verzieht, weil er im Gespräch die Zähne nicht auseinanderbekommt. Wie man sich als Kolumnist täuschen kann. Wenn es in der Wissenschaft Diven gibt, dann in d er Virologie. Was für Egos, was für ein Mitteilungsdrang, was auch für Empfindlichkeiten!

Professor K., Virologe in Halle, sagt über die jüngste Veröffentlichung von Professor D., Virologe in Berlin: Also, wenn man ihn frage, er finde, die Studie des Kollegen hätte so nie erscheinen dürfen. So etwas Dünnes hätte er nicht publiziert. Worauf Professor D. zum Handy greift und über Twitter mitteilt, dass Professor K. in der Wissenschafts- Community erstens keine Rolle spiele. Und man zweitens K.s Studien schon deshalb nicht kritisieren könne, weil Herr Dr. K. seit Langem nichts mehr publiziert habe. Das nennt man wohl jemanden dissen.

Eigentlich wollte ich nichts zur Causa Drosten schreiben. Warum sich mutwillig einen Entrüstungssturm an den Hals holen? Ein falscher Satz zu dem Thema, und man sticht in ein Hornissennest. Gegen die Verehrung, die der Mann aus der Charité genießt, kommt selbst die Greta-Thunberg-Begeisterung nicht an. Von der „taz“ bis zur „FAZ“ halten sie eisern zu dem sympathischen Arzt mit dem jungenhaften Lächeln, der uns wie kein anderer die wundersame Welt der Viren erklärt.

Ich würde mich nicht wundern, wenn demnächst die Ersten schreiben, er solle Kanzler werden. Oder Bundespräsident. Gerade hat ihn der „Spiegel“ auf seinen Titel gehoben. Nur zwei Wissenschaftler haben es in den 73 Jahren seit Gründung des Magazins auf die Titelseite geschafft: Albert Einstein und Stephen Hawking. Das ist die Ebene, auf der wir uns bewegen.

Außerdem habe ich mir schon einmal eine Rüge eingehandelt, das sollte mir eine zusätzliche Warnung sein. Wir haben im März an dieser Stelle zu einer Kolumne von mir eine Zeichnung veröffentlicht, die Christian Drosten als Viren- Papst zeigte. Ich fand die Zeichnung gelungen. Drosten als Papst? Da gibt es unvorteilhaftere Vergleiche.

Dr. Drosten selbst fand die Abbildung hingegen gar nicht lustig. Es gebe Zeitungen, die malten Karikaturen von Virologen, klagte er. Wenn das nicht aufhöre, komme man an den Punkt, an dem die Wissenschaft den Rückzug aus der Öffentlichkeit antreten müsse. Puh, noch mal Glück gehabt. Hätte ich geahnt, dass ich am Ende schuld sein könnte, wenn nicht nur d er berühmte Virologe verstummt, sondern mit ihm gleich die ganze Wissenschaft, für die er steht, hätte ich mir eher die Finger abhacken lassen, als mein Placet für eine solche Zeichnung zu geben. Ich will nicht wie der „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt enden, der seit seiner Auseinandersetzung als journalistischer Abschaum gilt.

Andererseits kann man sich als Kolumnist seine Themen nicht immer aussuchen. Manchmal kommen die Themen zum Kolumnisten.

Auch Menschen, die in ihrem Leben noch nie eine „Bild“- Zeitung gekauft haben, dürften über den Disput unterrichtet sein, ob sich Drosten und sein Team verrechnet haben, als sie die Viren im Hals von Kindern zählten (wie die „Bild“ behauptet) – oder ob es sich bei den zutage getretenen Mängeln letztlich um ein paar unbedeutende statistische Verzerrungen handelt (wie es Team Drosten für sich reklamiert).

 

Die Frage, wie infektiös Kinder sind, ist nicht ganz unbedeutend. Von der Beantwortung hängt ab, ob Politiker es wagen können, zum Regelbetrieb in Schulen und Kitas zurückzukehren. Auch deshalb fand die Studie, die das Forschungsteam der Charité Ende April vorlegte, solche Beachtung. Drosten selbst twitterte dazu: „Keine signifikanten Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen.“ Damit war der Ton gesetzt, der dann in unzähligen Artikeln und Überschriften aufgegriffen wurde.

Die Veröffentlichung sei nur ein Preprint gewesen, heißt es nun, da es Zweifel an der Aussagekraft gibt, eine vorläufige Publikation, die zu einer kritischen Begutachtung geradezu einlade. Mit dem armen Hendrik Streeck aus Bonn ist man allerdings nicht so nachsichtig verfahren, als er Anfang April eine Vorversion der sogenannten Heinsberg-Studie vorlegte. Streeck wurde unterstellt, dass er voreilig an die Öffentlichkeit gegangen sei, um die politischen Entscheidungen zu beeinflussen.

Als besonders engagierter Kritiker trat dabei Dr. Drosten aus Berlin auf. Noch am Abend des Präsentationstages war er im „Heute Journal“ zu Gast, um, nach einem „Glückwunsch an die Kollegen“ aus Bonn, die Studie nach allen Regeln der Kunst zu zerlegen. Es sei nicht klar, ob Labortests gemacht worden seien, um falsche Ergebnisse auszuschließen. Auch gebe es statistische Mängel. „Wenn das denn technisch alles so stimmt und statistisch auch so stimmt und auch wirklich für Deutschland repräsentativ ist …“ Ein typischer Drosten-Satz: sanft, aber vernichtend.

Inzwischen liegen die Endergebnisse der Untersuchung vor. Sie bestätigen im Wesentlichen die Zwischenergebnisse, aber das hilft Streeck nichts mehr. Er gilt jetzt als der Autor der „umstrittenen Heinsberg-Studie“. Dem „Spiegel“ habe ich entnommen, dass der Bayerische Rundfunk seinen Podcast zu wissenschaftlichen Fragen eingestellt hat.

Das kann Dr. Drosten nicht passieren. Drosten ist der Robert Habeck der Medizin. Alles an ihm stößt auf Wohlgefallen. Das Erscheinungsbild („diese süßen schwarzen Locken!“). Das verschmitzte Lächeln, das ihm etwas Jugendliches gibt. Die Sprache natürlich, die nie scharf oder verletzend wird. Drosten weiß, wie er andere in den Senkel stellt. Reichelt? Nie gehört den Namen. Streeck? Wir warten auf das Manuskript mit den Ergebnissen. Aber die Aggressivität ist immer unterschwellig, deshalb übersieht man sie schnell.

Eine Kollegin sagte, Drosten erinnere sie an eine passivaggressive Schwiegermutter, unter deren Freundlichkeit dieser leicht beleidigte Ton liege, dass andere es anders sehen könnten. Also, ich mache meinen Teig mit viel Rosinen. Wenn S. oder K. meinen, sie könnten auf Rosinen verzichten, ist das ihre Sache. Jeder macht seinen Teig, so wie er will. Ich finde halt nur, in einen guten Teig gehören Rosinen.

Diese eigenartige Verdruckstheit findet sich auch im Umgang mit der politischen Macht. Drosten war mehrfach bei wichtigen Sitzungen zugegen, im Bundesinnenministerium, bei Treffen mit den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin. Wenn man ihn darauf anspricht, sagt er, er würde ja nur die Ergebnisse der Forschung vortragen, die Schlussfolgerung daraus müssten andere ziehen. Nehmen wir es als den Versuch eines Wissenschaftlers, seine Unschuld zu bewahren, obwohl er längst Teil des politischen Spiels ist. Dürrenmatt hätte seine Freude daran gehabt.

In der Sache „Bild“ versus Drosten spricht vieles für die „Bild“. Der vom Medienkritiker Stefan Niggemeier betriebene Branchendienst „Übermedien“, der nun wahrlich kein Freund der Springer-Presse ist, kam vergangene Woche zu dem Befund, dass das Boulevardblatt die Vorbehalte an der Kinderstudie weitgehend richtig wiedergeben habe: „Die Tatsache, dass sich nahezu alle wissenschaftlichen Kritiker:innen von der „Bild“- Bericht erstattung distanzieren, liegt jedenfalls nicht darin begründet, dass sie ihre Kritik zurückziehen, sondern darin, dass sie nicht Teil einer Boulevard-Kampagne sein wollen, die Wissenschaftlichkeit insgesamt zu diskreditieren droht.“

An der Bewunderung für Dr. Drosten wird das nichts ändern. Auch Robert Habeck hat schon mehrfach danebengelegen, ohne dass es seinem Ruf geschadet hätte. So wie Habeck am nächsten Sonntag wieder in der Talkshow Ihres Vertrauens sitzt, so wird Christian Drosten uns kommende Woche die neuesten Ergebnisse aus der Corona-Forschung präsentieren. Kann man solchen Augen widerstehen?

Wenn die zweite Welle rollt

Das Einzige, was uns gegen eine neue Infektionswelle schützen kann, ist eine Tracing-App. Doch das erste Modell haben Datenschützer gleich zu Fall gebracht. Motto: lieber tot als überwacht.

Einmal war ich mit Karl Lauterbach zum Mittagessen verabredet. Wir wählten ein Restaurant am Gendarmenmarkt, das für seine gute Küche bekannt ist. Lauterbach studierte die Speisekarte. Dann winkte er den Kellner herbei und sagte, er habe sich entschieden. Ob er den von ihm gewünschten Gang auch ohne Salz bekommen könne? Der Kellner wirkte ein wenig konsterniert.

Lauterbach hat Medizin studiert, bevor er bei der SPD anheuerte und dort zum führenden Gesundheitspolitiker aufstieg. Er hat vor Jahren entschieden, komplett auf Salz zu verzichten. Wenn ich mich richtig erinnere, verwies er auf Studien, die nahelegen, dass salzlose Kost der Gesundheit zuträglicher sei als salzreiche, aber mein Eindruck war nach unserem Gespräch, dass es sich mehr um einen Selbstversuch handelt. Andere Menschen haben sich geschworen, in ihrem Leben nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren, Lauterbach hat beschlossen, dem Salz zu entsagen.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich mag Lauterbach. Ich habe ein starkes Faible für Menschen, die anders sind als andere. Meist sind sie unterhaltsamer. Außerdem gehört Lauterbach zu den wenigen Politikern, die über Humor verfügen. Ich erlaube mir nur die Einschätzung, dass jemand, der in der persönlichen Lebensführung zu extremem Verhalten neigt, auch in der Politik eher extremen Ansichten den Vorzug gibt. Das Exzentrische bleibt selten auf eine Äußerungsform beschränkt. Wenn ich auf Lauterbachs Auftritte in den letzten Wochen blicke, habe ich nicht den Eindruck, falschzuliegen. Sobald es in der Krise wieder eine düstere Prognose oder schlechte Zahl gibt: Er hat sie parat.

In dieser Woche allerdings muss ich Lauterbach recht geben, und zwar was seine Einschätzung des Thüringer Weges in der Pandemiebekämpfung angeht. Er halte es für Wahnsinn, dass Bodo Ramelow ab Juni auf landesweite Vorgaben verzichten wolle, sagte Lauterbach. Wenn der Ministerpräsident so tue, als sei das Virus besiegt, habe das Auswirkungen auf ganz Deutschland. Ich würde noch hinzufügen, dass sich in Thüringen einmal mehr die Hufeisentheorie bestätigt. Während sie bei der AfD zum Widerstand gegen die CoronaRegeln aufrufen, erklärt man bei der Linkspartei die Pandemie dort, wo man regiert, einfach für beendet. Man kann nur hoffen, dass das Virus das auch so sieht.

Bislang war ich ganz zuversichtlich, dass es mit den verbliebenen Einschränkungen gelingen könnte, die Krankheit in Schach zu halten. Inzwischen rechne ich fest damit, dass es wieder zu einem Anstieg der Infektionen kommen wird. Ein Kollege aus Berlin berichtete mir von seinem Besuch in zwei von ihm regelmäßig frequentierten Restaurants. Spätestens um neun Uhr versammeln sich alle an der Bar. Wer hinzutritt, wird mit großem Hallo begrüßt, gerne auch mit Bussi und Umarmung. Christian Linder ist, was das Umarmungsverhalten angeht, keine Ausnahme. Er hatte nur das Pech, bekannt genug zu sein, dass jemand im richtigen Moment das Handy zückte.

Die einzige Hoffnung ist, dass man die Spur der Infektionen nachverfolgt, um die Neuinfizierten ausfindig zu machen und sie in Quarantäne zu nehmen. Glücklicherweise gibt es technische Möglichkeiten, die einem das erlauben. Sie sind sogar erprobt. In Südkorea haben sie vorgemacht, wie eine Gesellschaft den Kampf gegen das Virus mit dem Handy gewinnen kann. Smartphones haben ein sehr viel genaueres Gedächtnis als Menschen, das macht sie bei der Nachverfolgung von Kontakten so nützlich.

 

Der Journalist Wolfgang Bauer hat in einem langen Text für „Die Zeit“ das südkoreanische Wunder beschrieben. Südkorea hatte schlechte Ausgangsbedingungen. Es ist ein dicht bevölkertes Land, nahe an China, und es war zu Beginn der Pandemie neben China auch am härtesten getroffen. Inzwischen haben die Südkoreaner die Neuinfektionen so weit unter Kontrolle, dass die Bürger wieder ein weitgehend normales Leben führen können. Dass sie das ohne Lockdown und ohne Schulschließungen geschafft haben, verdanken sie einem Tracing System von Korea Telecom, dem größten Telefonanbieter des Landes.

Einmal am Tag, so kann man in Bauers Reisebericht lesen, veröffentlicht Korea Telecom die Namen der Restaurants, der Läden und Parks, in denen sich ein Infizierter aufgehalten hat. Die Nummern der Buslinien, die er benutzt hat, die Uhrzeiten. Ob der Betreffende allein oder in Begleitung unterwegs war. Jeder Einwohner in der Nähe wird per SMS informiert und hat so die Möglichkeit zu überprüfen, ob er zur selben Zeit am selben Ort war. Wenn die Inkubationszeit vorbei ist, werden die Daten gelöscht.

In der Bundesregierung ist man sich einig, dass man auch in Deutschland unbedingt eine Tracing-App braucht. Technisch ist die Sache nicht so furchtbar kompliziert. Die Entwickler in Südkorea brauchten für die Programmierung wenige Tage. Wahrscheinlich hätten sie uns das System sogar überlassen, wenn wir gefragt hätten.

Der Bundesgesundheitsminister persönlich hat sich hinter die Sache geklemmt. Im Mai sollte es auch bei uns losgehen. Aber dann traten die Netzaktivisten vom Chaos Computer Club auf die Bühne und sagten, dass der Datenschutz nicht gewährleistet sei. Seitdem ist die Szene heillos zerstritten. Die beteiligten IT-Experten verbrachten mehr Zeit damit, sich gegenseitig mit Vorwürfen zu überziehen, als mit dem Coden. Vielleicht kommt die App jetzt im Juni, vielleicht auch erst im Herbst. Oder pünktlich mit dem Impfstoff.

Wie der Koreaner sagt: Eine Freiheit muss im Kampf gegen die Pandemie dran glauben. Die Koreaner haben sich entschieden, auf etwas Privatsphäre zu verzichten, um sich im Gegenzug ihre Bewegungsfreiheit zu bewahren. Wir opfern lieber die Freiheit, uns frei zu bewegen, damit unsere Daten in Sicherheit sind. Das ergibt, wenn man darüber nachdenkt, auch Sinn: Der Computernerd bleibt ohnehin am liebsten zu Hause.

Ich habe die deutsche Obsession mit dem Datenschutz nie ganz verstanden. Ich weiß noch, wie ich als 25-Jähriger über dem Fragebogen für die Volkszählung saß und mir zu erklären versuchte, warum uns die Beantwortung der Fragen zurück in die Diktatur führ en würde. Da ich den Warnungen vertraute, klebte ich trotzdem einen Aufkleber an die Tür, um dem Volkszähler zu zeigen, dass er unerwünscht sei. Ein Freund hat mich jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass die Tobereien zum 1. Mai, die in Kreuzberg seit den Achtzigern Tradition sind, im Kampf gegen die Volkszählung ihren Ursprung haben. Passt, würde ich sagen.

In der Welt der Hacker ist der Staat eine Macht, die uns überwachen und gängeln will. Glaubt man den Netzleuten, kann man nicht vorsichtig genug sein: Wer eben noch als Bürger Einsicht in seine Mobilfunkverbindungen gewährt hat, liegt morgen schon an der digitalen Kette! Ich will dagegen gar nichts sagen. Ich frage mich nur: Ist das nicht ziemlich genau das Denken, das man jetzt auch auf den sogenannten Hygiene-Demos antrifft? Eine Regierung, die ganz andere Absichten verfolgt, als sie uns sagt? Das Mobiltelefon als Einfallstor für finstere Mächte? Ein System, das jederzeit ins Totalitäre umkippen kann?

Normalerweise muss uns die Weltsicht des Hackers nicht weiter bekümmern. Wenn sich der Chaos Computer Club vor dem Merkel-Totalitarismus fürchtet, sei’s drum. Wenn die Netzgemeinde allerdings das wichtigste Instrument zu Fall bringt, das wir zur Bekämpfung des Virus bräuchten, wird es heikel. Das Leugnen und Verdrehen von Fakten könne in der Pandemie Leben gefährden, hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht mit Blick auf die Corona-Demos gesagt. Vielleicht könnte die Ministerin auch einmal ein Wort an die Netzgemeinde richten.

Der Corona-Demonstrant, der sich vor dem Virenchip fürchtet, ist nur ein Trottel. Der Netzaktivist, der die Tracing-App als Überwachungsinstrument denunziert, ist ein Gefährder.