Wurde uns nicht China eben noch als Labor der Moderne angepriesen? Und nun? Nun stecken sie Teststäbchen in Lachse und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt
Ich bin in meinem Leben in vielen Ländern der Welt gewesen. Ich gehöre zu einer Generation, die noch ohne schlechtes Gewissen fliegen durfte. Eigentlich hat es mir überall gut gefallen.
Ich war auch einmal in China. Ich war bei einem Staatsbesuch dort, als Mitglied der journalistischen Entourage des Bundespräsidenten.
Touristisch gesehen lässt sich nichts aussetzen. Das Land hat atemberaubende Landschaften zu bieten. Die Verbotene Stadt gehört zu den architektonischen Wunderwerken, die man gesehen haben muss. Shanghai ist eine Megalopolis, die so schnell ihr Gesicht ändert, dass alle sechs Monate der Stadtplan überholt ist.
In Peking waren wir zu einem Staatsbankett eingeladen. Wir saßen an 12er-Tischen. Mein Sitznachbar zur Rechten war irgendein hohes Tier im Staatsapparat, mein Nachbar zur Linken machte was mit Finanzen.
Wenn Sie jemals eine Einladung zu einem Staatsdinner erhalten sollten, überlegen Sie es sich gut, ob Sie teilnehmen wollen. Es ist in der Regel eine sterbenslangweilige Veranstaltung. Das lässt man sich natürlich nicht anmerken. Schließlich ist man ja nicht als Privatperson eingeladen, sondern als Vertreter seines Landes. Also versucht man, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Ich bemühte mich auf Englisch, ein Gespräch ins Laufen zu bringen. Aber da war ich erkennbar an die Falschen geraten. Der Chinese zu meiner Rechten tippte die ganze Zeit ungerührt in sein Handy, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Nachbar zur Linken drehte mir den Rücken zu und telefonierte ungezwungen, während er gleichzeitig seine Suppe schlürfte. Der einzige Trost war: Meinen Mitreisenden erging es nicht besser, wie mir ein Blick über die anderen Tische sagte.
Ich muss zugeben, diese Erfahrung hat mein Bild von China als Kulturland ein wenig getrübt. Ich bin überzeugt, es gibt auch ganz reizende, bescheidene Chinesen, die wissen, wie man sich Fremden gegenüber so benimmt, dass sie nicht das Gefühl haben, Gastfreundschaft sei ein Schimpfwort. Ich habe sie nur nicht kennengelernt.
Das Irre an den Chinesen ist: Sie halten sich für die Krone der Schöpfung. Ich glaube, es gibt kein Volk, das so von sich eingenommen ist wie das chinesische. Jeder, der nicht so ist wie sie, gilt als Mensch zweiter Klasse – wenn’s hochkommt. Ich hätte gedacht, bei einer Nation, der man mühsam abgewöhnen muss, nicht bei jeder Gelegenheit auf den Boden zu spucken, sei zivilisatorisch noch Luft nach oben, wie es so schön heißt. Aber das ist vermutlich diese typische europäische Hochnäsigkeit.
Warum diese kleine Vorrede? Weil ich seit Wochen in den Zeitungen Berichte finde, wie sie in Shanghai einen Lockdown nach dem anderen verhängen. Auch in Peking fürchten die Bürger eine neue Ausgangssperre.
Niemand darf die Wohnung verlassen, nicht einmal für den Gang mit dem Hund. Durch die Straßen patrouillieren Roboter, die die Menschen ermahnen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Sie hungern. Seit Bewohner in Shanghai auf ihren Balkon traten, um ihre Verzweiflung herauszuschreien, ist auch das Betreten des Balkons verboten. Wer dabei erwischt wird, wie er das Balkonfenster öffnet, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen.
Noch schlimmer dran sind nur diejenigen, die das Unglück haben, in einem der Quarantänezentren zu landen. Die hygienischen Bedingungen in den Lagern sind so katastrophal, dass man sich garantiert ansteckt, wenn nicht mit Covid, dann mit einer anderen schrecklichen Krankheit. Es gibt Berichte über alte Menschen, die sie nachts aus ihren Betten zerren, um sie abzusondern. Kinder werden von ihren Eltern getrennt, Babys von ihren Müttern. Niemand ist mehr sicher.
Ich lese die Berichte aus Shanghai mit einer Mischung aus Faszination und Grusel. Wurde uns nicht China bis eben noch als Mekka der Hochtechnologie angepriesen? Als das Land, in dem alles zehnmal so schnell geht wie bei uns? Als Zukunftslabor des Kapitalismus und Leuchtturm der Moderne? Und nun stecken sie Teststäbchen in Lachse, weil das Virus angeblich über norwegische Lachsbestände eingeschleppt wurde, und verdammen Millionen zu Hausarrest bei Glückskeksen und abgelaufenem Joghurt. Ich habe mir die Moderne anders vorgestellt.
Überall in der Welt beginnt das Leben wieder normal zu laufen, nur in China nicht. Warum? Weil den Chinesen der Nationalstolz verbietet, sich mit einem Impfstoff impfen zu lassen, der funktioniert. Es gibt einen chinesischen Impfstoff, doch der taugt nichts gegen Omikron. Es ist halt eine Sache, Adidas-Sneaker oder Kettensägen von Stihl zu kopieren, und eine ganz andere, einen mRNA-Impfstoff abzukupfern. Mit Biontech gibt es einen Vertrag über die Lieferung von 100 Millionen Impfdosen, aber es fehlt die Zulassung, weil die Staatsführung den Einsatz als Eingeständnis der Schwäche sieht. Also bleibt nur der Dauerlockdown. Zero Covid Forever.
Ich habe nie verstanden, wie man es in China aushalten kann. Diese Mischung aus Crony-Kapitalismus, Kontrollsucht und unverstellter Aggressivität würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber ich bin vielen Leuten begegnet, die von China schwärmten. Die Geschwindigkeit, sagten sie, die Effizienz! Von Asien lernen hieße Siegen lernen.
Das galt auch lange für Corona. Erinnern Sie sich noch, vor zwei Jahren, als bei uns in den Talkshows lauter junge Frauen mit asiatischem Migrationshintergrund saßen, die uns genau erklären konnten, was sie weit im Osten alles besser machen würden als wir? Es ist um die No-Covid-Freunde erkennbar stiller geworden.
Ein ganz großer China-Fan war Angela Merkel. Sie bekam leuchtende Augen, wenn sie von ihren Besuchen bei Xi Jinping sprach. Kein Kanzler hat die Volksrepublik so oft besucht wie sie. Zwölfmal war sie in ihrer Amtszeit dort. Ich glaube, sie bewunderte Xi Jinping insgeheim dafür, wie er das Land regierte. Einmal so durchregieren können wie er, ohne dummerhafte Reinquatschereien von der Seite, das wäre auch ihr Traum gewesen. Man würde gerne wissen, wie sie das heute sieht. Aber sie ist ja verschwunden.
Vielleicht sollten wir in Zukunft genauer hinsehen, von wem wir uns wirtschaftlich abhängig machen. Ich bin nicht dafür, sich abzuschotten oder die Globalisierung zurückzudrehen, ganz und gar nicht. Aber es wäre doch schön, wir würden nicht den Fehler wiederholen, den wir mit Russland gemacht haben. Wer 1,5 Millionen Menschen in Umerziehungslager steckt, nur weil sie einer Religionsgemeinschaft angehören, der sie an der Staatsspitze misstrauen, dem ist alles zuzutrauen, auch im Bösen.
Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping hat vor einem Jahr über den Kampf gegen Covid-19 gesagt: „Beurteilt danach, wie die Pandemie von unterschiedlichen Regierungen und politischen Systemen gehandhabt worden ist, können wir klar sehen, wer besser ist.“ Da sah es noch so aus, als würde China als Musterland durch die Krise kommen.
Xi Jinping will im Herbst wiedergewählt werden. Dafür hat er extra die Verfassung ändern lassen. Er ist dann noch länger an der Macht als Mao. Ich sehe keinen Grund, ihm zu widersprechen. „Beurteilt nach den Ergebnissen…“: klar, warum nicht?