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Rhetorik der Angst

Es gibt ein neues Wort für Leute, die jetzt zu viel Freiheit verlangen. Man spricht von Corona-Leugnern. Darunter fallen auch alle, die die Zahlen der Regierung in Zweifel ziehen. Oder die Einhaltung von Verfassungsrechten anmahnen

Neunzig Prozent der Deutschen sind mit den von der Politik verfügten Ausgangsbeschränkungen einverstanden, hat eine Umfrage ergeben. Mich hat diese Zahl aufhorchen lassen. Sie hat mich auch ein wenig erschreckt. Wann hatten wir in Deutschland zuletzt Zustimmungswerte von 90 Prozent? Das haben nicht einmal Bismarck oder der „Führer“ geschafft, soweit ich das sehe, geschweige denn eine demokratisch gewählte Regierung.

Neunzig Prozent sind also dafür, dass man in Bayern zwischenzeitlich kein Buch in der Öffentlichkeit lesen durfte, ohne dass man in Konflikt mit der Ordnungsmacht geriet? Dass jeder, der in Brandenburg in einem Kanu auf einen See hinauspaddelt, angehalten und zurück ans Ufer eskortiert wird? Dass man in Hamburg nur noch zu sechst um ein Grab stehen darf, weil das die gesetzlich vorgeschriebene Größe der Trauergemeinschaft ist?

Wahrscheinlich ist es eine Déformation professionnelle, aber immer, wenn die Mehrheiten zu groß werden, bekomme ich ein Gefühl der Beklemmung. Mir wird unheimlich, wenn sich zu viele Leute einig sind. Ich würde nicht so weit gehen, aus Prinzip das Gegenteil zu vertreten. Es wäre kindisch, nur aus Trotz eine abweichende Position einzunehmen. Aber ich finde, man sollte sich zumindest auf die Möglichkeit einstellen, dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann. Das erweitert den Horizont. Manchmal verhindert es sogar Fehlentscheidungen.

Im Augenblick läuft die Diskussion so: Alle schauen auf die Kanzlerin. Wenn die Kanzlerin sagt, dass es zu früh sei, über eine Lockerung des Ausnahmezustands nachzudenken, lautet der Konsens, dass es zu früh sei, über Lockerungen nachzudenken. Wenn die Kanzlerin zu erkennen gibt, dass sie es für angebracht hält, über eine graduelle Rückkehr zur Normalität zu reden, heißt es, eine graduelle Rückkehr sei möglich. Aber Vorsicht: nicht zu viel auf einmal davon!

Schon offene Freude über gute Nachrichten trägt einem Tadel ein. Als vergangene Woche der Bonner Virologe Hendrik Streeck Zahlen präsentierte, denen zufolge die Pandemie weniger tödlich verläuft als befürchtet, konnte man lang und breit lesen, warum die Studie womöglich nicht allen wissenschaftlichen Standards genüge. Es gibt geradezu eine Lust an der düsteren Zahl. Wer auf die sinkende Kurve der Neuinfektionen verweist, wird ermahnt, dass er falsche Hoffnungen wecke. Hoffnung sei schädlich, heißt es. Wenn die Leute Hoffnung hätten, würden sie nachlässig.

Wir verfügen über ganze Enzyklopädien zum mündigen Bürger, in jeder Sonntagsansprache gebührt ihm der Ehrenplatz. Aber wenn es ernst wird, vertraut die Politik doch lieber auf die schwarze Pädagogik. Mit dem Menschen im Lockdown verhält es sich wie mit einem trockenen Alkoholiker: eine Unvorsichtigkeit, und alles, was in mühsamer Arbeit erreicht wurde, ist verloren.

Oder wie es die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli formulierte: „Jede Lockerung setzt voraus, dass wir bleibende Einschränkungen absolut befolgen. Freiheit kommt in kleinen Schritten zurück oder gar nicht. Jede Party jetzt wirft uns alle zurück.“ Deshalb können Lockerungen auch nur auf Bewährung zugestanden werden. Wenn sich die Bevölkerung der Freiheiten nicht würdig erweist, die man ihr gewährt, ist es schnell wieder vorbei mit der Großzügigkeit. Dann heißt es eben: oder gar nicht!

Es gibt schon ein neues Wort für Leute, die zu viel Freiheit auf einmal verlangen. Man spricht von Corona-Leugnern. Niemand bestreitet die Existenz des Virus, nicht einmal der Corona-Leugner. Das ist mit dem Wort auch nicht gemeint. Gemeint sind Leute, die im Kopf Party machen, indem sie die Zahlen der Regierung in Zweifel ziehen. Oder auf Widersprüche in der Argumentation hinweisen. Oder wie die Schriftstellerin Juli Zeh die Einhaltung von Verfassungsrechten anmahnen.

Auf dem Journalismus liegt naturgemäß ein besonderes Augenmerk. Mit einem der landesweit bekanntesten Corona-Leugner, dem Publizisten Jakob Augstein, habe ich vergangene Woche einen Podcast gestartet. Er heißt „The Curve“, nach der Ansteckungskurve, die es zu senken gilt.

Ich hatte alle mögliche Kritik erwartet: dass wir zu oberflächlich seien, zu unoriginell, zu wenig ernsthaft angesichts des ernsten Themas. Aber der Einwand, der kam, war viel grundsätzlicher. Er lautete, dass wir uns als Journalisten mit einem Thema befassen würden, das man besser den Experten überlassen sollte. Das Argument wurde ausgerechnet von einem der bekanntesten Medienkritiker des Landes, Stefan Niggemeier, vorgetragen. Ich hätte verstanden, wenn ein Mediziner oder ein Mathematiker den Einwand formuliert hätte. Aber ein Journalist?

Die Rhetorik der Angst kennt keine Fragen, nur Antworten. Ihr Sujet ist das Absolute, ihre Grammatik die der Verfügung. Wer abwägt oder nach der Verhältnismäßigkeit d er an geordneten Maß – nahmen fragt, setzt sich dem Vorwurf aus, es mit d er Mor al nicht so genau zu nehmen. Er wolle wohl Wirtschaftsdaten gegen Menschenleben aufrechnen, heißt es dann. Dabei müsste man aus meiner Sicht im Gegenteil viel mehr fragen und abwägen.

Es werden jetzt verschiedene Modelle erwogen. Eines sieht vor, dass man alles tut, um die Alten und Schwachen zu schützen. Das klingt christlich. Aber hat jemand die Alten und Schwachen gefragt, ob sie wirklich alle den maximalen medizinischen Schutz wollen? Ist es nicht vorstellbar, dass viele Menschen ab einem gewissen Alter finden, dass ein Leben in der Selbstisolation es nicht wert ist, dass man dafür nahezu alles an sozialer Begegnung opfert?

An dieser Stelle erlaube ich mir eine ganz persönliche Einschätzung. Am Mittwoch vergangener Woche ist mein Vater in einem Altenheim in Hamburg gestorben. Er war 90 Jahre alt. Das Ende hatte sich seit einigen Wochen angekündigt, dennoch blieb meinem Bruder und mir keine Gelegenheit mehr, uns von ihm zu verabschieden.

Das Altenheim lässt seit März keine Verwandtenbesuche mehr zu, um die Bewohner nicht zu gefährden. Nur für meine Mutter wurde eine Ausnahme gemacht. Ich bin dafür dankbar. Auch wenn mein Vater in den letzten Monaten nicht mehr alles mitbekam, was um ihn herum geschah, so spürte er doch, wenn jemand von uns im Raum war. Es würde mich sehr quälen, wenn ich wüsste, dass er völlig vereinsamt gestorben wäre.

Ich habe Verständnis für die Quarantänebestimmungen.

Natürlich frage ich mich manchmal, ob eine Verlängerung des Lebens um einige Wochen oder Monate den Preis wert ist, den man dafür entrichten muss. Aber so ist es nun einmal entschieden worden. Außerdem sind nicht alle im Heim so alt, wie mein Vater es war. Jeder trifft für sich eine andere Risikoabwägung.

Ich habe nur einen Wunsch. Ich will nicht mehr hören, dass ich gut reden hätte. Meine Familie hat ihren Preis für die Einhaltung der Corona-Regeln bezahlt, würde ich sagen. Ich weiß im Gegensatz zu manchen, die auf der Kanzel stehen und über den Wert des Lebens predigen, was es heißt, wenn der Schutz desselben absolut gesetzt wird.

Umfragen sind trügerisch. Angeblich wünscht sich eine Mehrheit, dass die Ausgangsbeschränkungen bis in den Mai hinein verlängert werden. 16 Prozent hätten sogar gern noch strengere Regeln. Gleichzeitig zeigt die Auswertung der Bewegungsdaten von Handys, dass immer mehr Bürger die Ausgangsbeschränkungen missachten oder umgehen.

Mein Eindruck ist, dass viele denken, der Staat werde es schon richten. Wenn sich herumzusprechen beginnt, dass auch der eigene Arbeitsplatz in Gefahr ist, wird die Regierung plötzlich daran gemessen werden, was sie zur Rettung der Wirtschaft getan hat. Wir haben das in der Flüchtlingskrise gesehen: Dieselben Leute, die gestern noch die Willkommenskultur begrüßten, sind morgen oft die Ersten, die eine striktere Grenzpolitik fordern.

Wie tödlich ist das Virus?

Die Regierung sagt, sie folge bei ihren Entscheidungen zum Ausnahmezustand der Zahl der Neuinfektionen. Das klingt wissenschaftlich und rational. Leider weiß nur niemand, wie viele Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infiziert sind

Es sei zu früh, über eine Lockerung des Ausnahmezustands nachzudenken, hat die Bundeskanzlerin gesagt. Ist es zu früh? Und wann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen? Angela Merkel hat einen Hinweis gegeben, was sie für opportun hält. Sie hat gesagt, dass man über eine schrittweise Rückgabe der Freiheitsrechte an den Bürger nachdenken könne, wenn sich die Zahl der Neuinfektionen nur noch alle zwölf Tage verdoppeln würde. Besser sei im Abstand von 14 Tagen. Vor drei Wochen, als die Regierung den Ausnahmezustand über Deutschland verhängte, lag die Verdoppelungsrate bei vier Tagen. Anfang der Woche war man bei zehn angekommen.

Zwölf Tage klingt nach einem Wert, an dem man sich orientieren kann, etwas Greifbarem, woran sich Erfolg oder Misserfolg der angeordneten Maßnahmen messen lassen. Die Zahl nimmt den Entscheidungen der Regierung die Willkürlichkeit, deshalb hat sie Kanzleramtschef Helge Braun noch einmal ausdrücklich wiederholt. Seht her, soll das heißen: Wir handeln streng rational und im Einklang mit dem, was die Forschung uns sagt.

Das klingt beruhigend. Man sollte nur nicht den Fehler machen, genauer nachzufragen, wie die Zahlen, auf denen die Entscheidungen der Regierung basieren, zustande kommen. Ich lese fast alles, was man zu dem Thema finden kann. Ich sehe mir jeden Tag die Reproduktionsraten des Virus an. Ich will alles wissen und verstehen. Aber je mehr ich lese, desto mehr Fragen stellen sich mir. Man sollte meinen, dass die Wissenschaft den Verlauf der Pandemie mit jedem Tag genauer einschätzen kann, aber selbst über Grundsätzliches herrscht nach wie vor Unklarheit. Die Wahrheit ist: Je näher man herantritt, desto uneinheitlicher wird die Stimme der Forschung.

Nehmen wir die Fallzahl, die man im Kanzleramt zur entscheidenden Größe erkoren hat. Als ich diese Zeilen schreibe, haben sich knapp 100 000 Menschen in Deutschland am Corona-Virus angesteckt. Das ist d er Wert, den das Robert Koch-Institut nennt. Das Exakte erweckt immer Vertrauen. Mathematik ist immun gegen Meinungen, Vorlieben o der Interessen, das macht sie so überzeugend. Doch das, was uns als Zahl der Infizierten genannt wird, ist nicht die Zahl derjenigen, die sich mit dem Virus angesteckt haben. Es sind die Infizierten, von denen man weiß, dass sie infiziert sind. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Tatsächlich lässt sich aus der Tatsache, dass die Zahl der Infizierten steigt, noch nicht einmal ein Rückschluss auf die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus ziehen. Es spricht einiges dafür, dass sich die Geschwindigkeit beschleunigt, wenn die Zahl der erkannten Virusträger stark zunimmt. Aber genau weiß man es nicht, weil ständig die Bezugsgrößen geändert werden. Oder man die Kontrolle verschärft.

Mitte März vervierfachte sich binnen zwei Wochen die Zahl der vom Covid-19-Virus Befallenen. In derselben Zeit hatten allerdings die Gesundheitsämter ihre Testkapazitäten deutlich ausgeweitet, wie aus einer dieser Tage veröffentlichten Auswertung hervorgeht. Außerdem war man dazu übergegangen, den Kreis der Getesteten noch stärker auf Leute zu beschränken, bei denen es ein en begründeten Verdacht gab, dass sie sich mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Beides hat einen erheblichen Einfluss auf die Fallzahlen. Es ist wie mit der Kriminalitätsstatistik: Je mehr Polizei man auf die Straße schickt, desto mehr Kriminalität findet man. Das ist nahezu unweigerlich so.

Ein Kollege berichtet mir von seinem Bruder, der in Süddeutschland einen großen Handwerksbetrieb unterhält. Der Bruder hat 15 Angestellte. Fünf sind erkrankt, vermutlich an Corona. Alle zeigen die typischen Symptome, aber wirklich weiß man es nicht. Der Bruder hat sich testen lassen, nachdem er nichts mehr roch. Er hatte Chlorreiniger bestellt, um seine Werkstatt zu säubern, und dachte erst, sie hätten ihn beschwindelt und ihm Wasser verkauft, bis er darauf kam, dass der Geruchsverlust ein Symptom der neuen Krankheit sein könnte.

Ebenfalls positiv getestet: ein Mitarbeiter, den es so heftig erwischt hat, dass er ins Krankenhaus musste. Für die andern gilt: Selbstdiagnose und Selbstquarantäne. Auch die Familienangehörigen, die vermutlich ebenfalls infiziert sind, haben nie einen Arzt gesehen. Das heißt, in diesem Fall haben wir: zwei positiv Getestete sowie mutmaßlich zehn bis zwölf Menschen, die sich mit Covid-19 angesteckt haben, die aber nie in einer Statistik auftauchen werden, schon gar nicht in der des Robert Koch-Instituts.

Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten deutlich unterschätzt wird. Aus Dänemark kam Anfang der Woche die Nachricht, dass man in 27 von 1000 Blutproben, die man einer Stichprobe unterzog, Antikörper entdeckt hat. Die Stichprobe gilt als repräsentativ genug, um daraus einen Rückschluss auf den Durchseuchungsgrad der dänischen Bevölkerung zu ziehen.

Rechnet man die Zahl auf Deutschland hoch, würde das bedeuten, dass in Wahrheit bereits über zwei Millionen Bürger infiziert sind. Das wäre dann das 22-Fache der offiziell ausgewiesenen Zahl. Da beide Länder beim Verlauf der Pandemie nicht weit auseinanderliegen, ist die Annahme nicht so unplausibel. Man weiß, dass gut die Hälfte der Infizierten keine Symptome zeigt und den Virus deshalb unwissentlich weiterträgt. Das macht Sars- CoV-2, wie das Virus korrekt heißt, ja auch so flink.

Was bedeutet das für die Sterberate? Enorm viel. Es bedeutet zum Beispiel, dass die Letalität des Virus möglicherweise deutlich geringer ist als von vielen Experten vermutet. Auch wenn die Zahl derjenigen, die am Virus sterben, der Zahl der Neuinfektionen deutlich hinterherhinkt, läge die Todesrate eben nicht, wie derzeit von der WHO angegeben, bei 3,4 Prozent, sondern eher zwischen 0,1 und 0,5 Prozent.

Einer der Epidemiologen, die schon lange vermuten, dass das Virus weniger tödlich verläuft als angenommen, ist John Ioannidis von der Stanford University. Ioannidis verweist auf zwei Beispiele, die seine Argumentation stützen. Das eine ist die „Diamond Princess“, die im Februar wegen eines Corona- Ausbruchs zwei Wochen lang vor der Küste Japans festlag. Das Kreuzfahrtschiff ist ein nahezu perfektes Studienmodell, da hier eine geschlossene Gesellschaft dem Virus ausgesetzt war.

Von den insgesamt 3711 Passagieren erkrankten 697, was einer Infektionsrate von 20 Prozent entspricht. Sieben starben an den Folgen der Infektion, die Mortalität lag damit bei einem Prozent. Stellt man in Rechnung, dass die „Diamond Princess“ sehr viele ältere Passagiere an Bord hatte, und unterstellt stattdessen die normale Altersstruktur einer Gesellschaft wie den USA, sinkt die Letalitätsrate der Rechnung des Stanford-Virologen weiter, und zwar auf einen Wert zwischen 0,025 und 0,625 Prozent.

Ein anderes Beispiel, das Ioannidis anführt, ist Island, wo sich die Bevölkerung einem freiwilligen Test unterzog, der nahe an eine zufallsbasierte Stichprobe herankommt. Aus den Daten geht hervor, dass sich zum Erhebungstag 3500 Isländer, also rund ein Prozent der Bevölkerung, mit dem Virus angesteckt hatten. Bis zum 30. März war, neben einem Touristen, eine Isländerin an Covid-19 gestorben. Inzwischen sind, ausweislich der weltweiten Statistik der Johns-Hopkins-Universität, vier Tote hinzugekommen. Auch hier liegt die Sterblichkeitsrate also nicht dramatisch viel höher als bei einer schweren Grippewelle.

Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, ich wüsste es besser als die Virologen des Robert Koch-Instituts. Ich habe Philosophie und Literaturgeschichte studiert, nicht Medizin. Ich will Sie nur dafür sensibilisieren, dass die aus Berlin kommenden Zahlen eine Gewissheit ausstrahlen, die keine ist.

Der einzige Weg, sich über die Tödlichkeit des Coronavirus Klarheit zu verschaffen, führt über Stichproben. In regelmäßigen Abständen wird eine repräsentative Gruppe von Menschen untersucht, ob sie sich angesteckt hat. Dann vergleicht man das Ergebnis mit den bereits vorliegenden Zahlen. Nur so lassen sich einigermaßen verlässliche Prognosen treffen.

In München ist jetzt erstmals ein solcher Feldversuch initiiert worden. Mit ersten Ergebnissen wird im Mai gerechnet, deutlich nach den Osterferien.

Brauchen wir einen Untersuchungsausschuss?

Regelmäßig werden Katastrophenschutzübungen abgehalten. Ganze Stäbe sind in den Ministerien mit dem Ernstfall beschäftigt. Und jetzt bricht alles zusammen, weil vergessen wurde, genug OP-Masken zur Seite zu legen?

Ich habe am vergangenen Wochenende „The Looming Tower“ auf Amazon gesehen. Di e Serie handelt von den Agenten bei CIA und FBI, die es in der Hand gehabt hätten, die Anschläge vom 11. September zu verhindern, die sich aber gegenseitig so misstrauten, dass sie lieber einander bekämpften als den Feind aus den afghanischen Bergen.

In der letzten Folge der Serie sitzt Richard Clarke, der oberste Sicherheitsberater des Präsidenten, vor der Untersuchungskommission, die das Versagen aufarbeiten soll. Vor ihm waren lauter Leute an der Reihe, die beteuerten, dass sie alles getan hätten, um die Katastrophe abzuwenden. „Your government failed you. Those entrusted with protecting you failed you. And I failed you“, beginnt Clarke seine Zeugenaussage: „Die Regierung hat Sie im Stich gelassen. Diejenigen, die mit Ihrem Schutz beauftragt sind, haben Sie im Stich gelassen. Ich habe Sie im Stich gelassen.“

Wird es auch bei uns in zwei Jahren eine Untersuchungskommission geben, die der Frage nachgeht, wie es dazu kommen konnte, dass Deutschland so schlecht auf die Corona-Krise vorbereitet war? Wird dann jemand aus der Regierung dort sitzen, der bekennt, dass man nicht das getan hat, was man hätte tun müssen?

Wir hören, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben. Wir kennen inzwischen alle die Zahl der Intensivbetten und der Beatmungsgeräte, an die die Unglücklichen angeschlossen werden, die keine Luft mehr bekommen. Wir lesen, dass ganze Stationen freigeräumt wurden, um sich auf den Ansturm der Infizierten vorzubereiten.

Aber wenn man den Berichten aus Praxen und Krankenhäusern glauben kann, dann werden die Menschen in der ersten Welle nicht sterben, weil es an Beatmungsgeräten und Intensivbetten fehlt. Sie werden sterben, weil es nicht genug Atemschutzmasken, Kittel und Handschuhe für die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger gibt, um sich zu schützen.

Was kostet eine einfache Maske? Zu normalen Zeiten drei bis sechs Cent im Einkauf. Ein Kittel, wie man ihn im Umgang mit Patienten benötigt, ist etwas teurer, aber er kostet ebenfalls nichts im Vergleich mit einem Beatmungsgerät, wie es die Firma Drägerwerk nun im Akkord herstellt. Man kann das böse Ironie nennen: Das beste Gesundheitssystem der Welt geht in die Knie, weil jemand vergessen hat, rechtzeitig genug Schutzmasken zur Seite zu legen.

Es ist nicht so, dass man nicht hätte gewarnt sein können. Regelmäßig werden in Deutschland Katastrophenschutzübungen abgehalten. In den Innen- und Gesundheitsministerien sind ganze Stäbe damit betraut, für den Ernstfall zu planen. Im Jahr 2010 spielten 3000 Experten durch, was passiert, wenn Deutschland von einer verheerenden Grippewelle getroffen wird. „Wir gehen davon aus, dass diese Pandemie früher oder später kommt“, sagte damals der Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, Christoph Unger.

Was haben die Verantwortlichen in der Regierung gedacht, wie eine Pandemie verläuft? Dass sich immer nur so viele Menschen anstecken, wie es die Bestände erlauben? Oder dass es ein Land nach dem anderen trifft, sodass man jederzeit genug in China nachbestellen kann? Einige meinen, jetzt zeige sich, wie kaputtgespart das Gesundheitssystem sei. Die Gesundheitsausgaben haben sich seit 1992 von 159 Milliarden Euro auf 387 Milliarden im Jahr 2018 verdoppelt, das sind mehr als eine Milliarde Euro am Tag. Kaputtsparen stelle ich mir anders vor.

Man kann auch nicht erwarten, dass ein Land Tausende Intensivbetten nur für den Fall bereithält, dass man es mit einem Virus zu tun bekommt, bei dem sich die Zahl der Infizierten alle drei Tage verdoppelt. Aber dass genug Kleidung für das medizinische Personal auf Lager ist: Darauf sollte man eigentlich vertrauen können. Wir schreiben jedem Kreditinstitut vor, wie viel Eigenkapital es bereithalten muss, um für eine Krise gewappnet zu sein. Ist es zu viel verlangt, Krankenhäuser aufzufordern, sich einen Vorrat an Schutzmaterial anzulegen, der über zwei Wochen hinausreicht?

Die Bettelbriefe der Ärztekammern schwanken zwischen Wut und Verzweiflung. In Spanien sind sie jetzt dazu übergegangen, sich aus Müllsäcken Schutzkittel zu schneidern. In Italien wird geprobt, ob man OP-Masken mehrfach benutzen kann, wenn man sie desinfiziert. Man kann einen Trost darin sehen, wenn man will, dass es anderen nicht anders geht. Aber ich hatte ehrlich gesagt gedacht, dass wir besser gerüstet seien. Hieß es nicht immer, die Lage bei uns sei mit der in Italien und Spanien nicht zu vergleichen?

Wenn man nach einem Symbol der Krise sucht, dann ist es der Mundschutz. Ich habe mich ausführlicher mit dem Thema beschäftigt, seit ich vor drei Wochen eine Empfehlung des Robert Koch-Instituts sah, in der vom Tragen abgeraten wurde. Erstens würden Masken bei Nichterkrankten nichts bringen, stand da, und zweitens bräuchte man sie im Krankenhaus, wo Pfleger und Ärzte engen Kontakt mit Infizierten hätten. Meine Frau, der ich davon erzählte, fand das einen seltsamen Widerspruch. Ihre Reaktion war, im Internet zu schauen, ob man nicht noch etwas bestellen könne.

Ein anderes Argument lautete, Masken würden im Alltag nicht funktionieren, weil die meisten Menschen nicht wüssten, wie man sie richtig aufsetzt. Auch das ist nicht besonders überzeugend, wenn man darüber nachdenkt. Die meisten Menschen wissen augenscheinlich auch nicht genau, wie man sich gescheit die Hände wäscht. Trotzdem kommt niemand auf die Idee zu sagen: Okay, dann lasst es doch. Stattdessen stellt man überall Hinweisschilder auf und erklärt den Leuten, wie sie unter dem zweifachen Absingen von Kinderliedern befriedigende Waschergebnisse erzielen.

Auch die Masken-Forschung macht Fortschritte, wenn ich es richtig sehe. Der neueste Kenntnisstand sagt: Ja, ein einfacher Mundschutz hilft nicht zuverlässig, aber etwas Schutz ist immer noch besser als keiner. Noch zwei Wochen, und auch wir stehen vor der Entscheidung, ob man Maskentragen in der Öffentlichkeit nicht zur Pflicht machen sollte. Leider wird es eine weitgehend akademische Diskussion sein, wenn es nicht gelingt, die Heimproduktion anzukurbeln. Kleiner Tipp: Offenbar eignen sich Kaffeefilter ganz hervorragend, wenn man sie mit einem Gummiband am Kopf befestigt.

Wir haben im Bundestag schon aus den nichtigsten Gründen Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Wir haben einen Untersuchungsausschuss mit der Klärung der Frage betraut, warum unter Rot-Grün in der deutschen Botschaft in Kiew zu viele Visa ausgegeben wurden. Wir beschäftigen seit Monaten einen Untersuchungsausschuss, weil man im Verteidigungsministerium bei der Vergabe von Beratungsaufträgen die Ausschreibungsrichtlinien nicht ganz korrekt eingehalten hat. Damit verglichen, wäre ein Untersuchungsausschuss zur Corona-Krise eine lohnende Sache.

Ein Untersuchungsausschuss gibt auch Gelegenheit, Missverständnisse aufzuklären. Man könnte zum Beispiel Außenminister Heiko Maas befragen, warum er im Februar 14 Tonnen an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln nach China liefern ließ, ohne vorher einmal in den Keller zu gucken, was dann noch übrig sein würde. Auf eine Anfrage des Recherchenetzwerks „Correctiv“, wie sich dies auf die Lagerbestände in Deutschland ausgewirkt habe, teilte das Auswärtige Amt Anfang März mit, dass die Bundesregierung grundsätzlich dafür Sorge trage, „dass Spenden im humanitären Bereich keinen negativen Einfluss auf die Versorgungssituation in Deutschland haben“.

Diese Erklärung darf man als überholt betrachten.

Die Politik der Epidemiologie

Die Medizin empfiehlt der Gesellschaft die Selbstabschließung, nur so ließe sich Leben retten. Aber auch der Kollaps des wirtschaftlichen Lebens fordert Tausende Tote. Man sieht sie nur nicht gleich

Jede Krise hat ihre Priester. Nach 9/11 waren es die Terror-Experten, die in den Talkshows die Zuschauer in die Geheimnisse der islamischen Netzwerke einführten. Nach der Finanzkrise kam die große Stunde der Bankenkritiker, die einem erklärten, wie aus harmlosen Immobilienkrediten finanzielle Massenvernichtungswaffen werden konnten. Jetzt gehört die ganze Aufmerksamkeit den Epidemiologen. Was sie sagen, ist Gesetz, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der bayerische Ministerpräsident spricht vom „Primat der Medizin“, wenn er immer weiter reichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigt. „Der Maßstab ist nicht das, was wir glauben, sondern der Maßstab ist, was uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen“, erklärt die Bundeskanzlerin.

Der Epidemiologe empfiehlt die Abschließung der Gesellschaft, was soll er auch anderes empfehlen? Wo Menschen sich begegnen, zirkuliert das Virus. Also sorgt man dafür, dass jeder Kontakt unterbleibt, dann kommt die Pandemie zum Erliegen. Welche Folgen die Selbstabschließung für das soziale und ökonomische Gefüge hat, liegt außerhalb seines Fachgebiets, das müssen andere beurteilen.

Wir wissen über Covid-19 furchtbar wenig. Wie tödlich das Virus ist, ist zum Beispiel noch immer unklar. Liegt die Letalität bei neun Prozent wie in Italien (was eine Albtraumzahl ist)? Oder pendelt sie sich eher bei 0,5 Prozent ein, so wie es bislang aus Deutschland gemeldet wird? 0,5 Prozent sind immer noch schrecklich, aber eben auch nicht dramatisch viel höher als die Sterblichkeit bei einer außergewöhnlich schwer verlaufenden Grippewelle.

Da sich ohne Datengrundlage keine Entscheidungen treffen lassen, werden Verläufe simuliert. Ich habe mir viele der Modelle angesehen, die derzeit im Umlauf sind. Die Studie der Stunde stammt von Wissenschaftlern des Imperial College in London, die für Großbritannien drei Pandemie-Szenarien durchgerechnet haben.

Die Politik lässt das Virus laufen, die Seuche kommt nach vier Monaten zum Erliegen. Tote: 550 000. Die Politik versucht, das Ansteckungstempo zu verlangsamen: 250 000 Tote. Die Politik versucht, den Ausbruch so weit wie möglich zu unterdrücken, indem sie das Wirtschaftsleben einfriert: mehrere Tausend Tote, alle anderen gerettet. Wenn Sie sich fragen, was das für Deutschland bedeutet: Schlagen Sie auf die Schätzungen einfach 25 Prozent drauf.

Welche Regierung will es verantworten, eine halbe oder vielleicht sogar eine Million Tote in Kauf zu nehmen? Das sind Zahlen, bei denen sich jede weitere Diskussion erübrigt. Es drängen sich natürlich Fragen auf. Man müsste eigentlich darüber reden, ob es vorstellbar ist, dass man eine freie Gesellschaft im Lockdown hält. Was wäre in einem solchen Fall das Ergebnis für Sozialstaat und Demokratie? Aber wer solche Fragen stellt, gilt schnell als Mensch ohne Herz und Moral.

Der Verleger Jakob Augstein hat es versucht. Er hat in den vergangenen Wochen mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Kollaps des öffentlichen Lebens möglicherweise noch schlimmere Auswirkungen hätte als die befürchtete Überlastung der Krankenhäuser. Es hieß dazu, er wolle Menschenleben gegen Wirtschaftszahlen aufwiegen, was insofern eine gewisse Komik hat, als Augstein nun wirklich der Letzte ist, dem man Marktgläubigkeit vorwerfen kann.

Dem Ökonomen Thomas Straubhaar erging es nicht besser, als er in der „Welt“ den Versuch unternahm, für einen Strategiewechsel zu werben. Statt alle Deutschen in Quarantäne zu nehmen, solle man es bei den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen belassen und damit die Immunisierung der Mehrheit vorantreiben, lautete Straubhaars Vorschlag. Das sei zynisch und verantwortungslos, erhielt er zur Antwort, eine Zeitung, die so etwas publiziere, sei ein Schundblatt. Auch so erledigt man eine Debatte. Man unterstellt denjenigen, die auf die unerwünschten Folgen politischer Entscheidungen hinweisen, niedere Motive.

Weil selbst die Epidemiologen wissen, dass man eine entwickelte Volks-wirtschaft nicht einfach für zwei Jahre ins Koma versetzen kann, jedenfalls dann nicht, wenn man anschließend noch etwas vorfinden will, was einem modernen Gesundheitssystem ähnelt, schlagen sie eine Vorgehensweise vor, die unter dem Begriff „der Tanz“ Verbreitung gefunden hat.

Was nach einem Vormittag in der Waldorfschule klingt, bedeutet Koma in Raten. Man öffnet die Schulen, die Geschäfte, die Restaurants für einen Monat. Dann wird alles wieder eingefroren, bis man nach zwei, drei Monaten erneut ein wenig Leben zulässt. Auf und zu, auf und zu: In diesem Rhythmus geht es weiter, bis endlich ein Mittel gefunden ist, welches das Virus in Schach hält, oder ein Impfstoff, der uns von der Seuche erlöst.

Reden wir nicht von den sozialen Verwerfungen, die ein solches Leben im Ausnahmezustand bedeuten würde. Den Verzicht auf Begegnung und Austausch, die prolongierte Einschränkung der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die inzwischen selbst Leuten, die sonst bei jeder Polizeikontrolle einen Anschlag auf den Rechtsstaat wittern, als Quantité négligeable gilt. Bleiben wir bei den Folgen für die Gesundheit.

Auch die Politik der Epidemiologie produziert Tote. Man sieht diese Toten nur nicht gleich. Der Finanzexperte Leonhard Fischer hat auf das Beispiel von Griechenland verwiesen, an dem sich exemplarisch studieren lässt, wie der Absturz einer Gesellschaft erst die kollektive Verarmung und dann auch die Sterblichkeit nach oben treibt. Eine „Lancet“-Studie, die Fischer zitiert, beziffert den

Anstieg der Mortalitätsrate in Griechenland zwischen 2010 und 2016 auf 17,8 Prozent. Das wären, auf Deutschland übertragen, 100 000 Todesfälle mehr – pro Jahr.

Die Ersten tragen an die Kanzlerin die Aufforderung heran, sie müsse über eine „Exit-Strategie“ nachdenken, einen Ausstieg aus dem Ausnahmezustand. Aber das ist leichter gesagt als getan.

Wie findet man den Ausstieg? Die Todeszahlen aus den Intensivstationen sind real, und sie werden weiter steigen. Die Kosten jedes weiteren Tages ohne wirtschaftliche Tätigkeit sind hingegen schwer zu bilanzieren. Wer kann seriös abschätzen, wie viele Menschen sich das Leben genommen haben, weil sie die Einsamkeit nicht länger ertrugen? Wie will man beurteilen, was ein Einbruch des Wohlstands für die Behandlung Krebskranker bedeutet oder für Menschen, die auf teure Medikamente angewiesen sind? Es ist wie mit dem Klimawandel: Je weiter der Tod in der Zukunft liegt, desto schwieriger wird es für die Politik, Entscheidungen zu begründen, die künftiges Leben schützen.

„Whatever it takes“, so lautet die Maximalposition: Niemand solle an Corona sterben, weil es kein Bett für ihn gebe. Das ist ein Anspruch, den wir in Wahrheit schon zu normalen Zeiten nicht erfüllen. Bevorratung gehört zum medizinischen Geschäft. Wir nehmen an anderer Stelle bewusst Engpässe in Kauf, wie jeder weiß, der auf ein lebenswichtiges Organ wartet. Wir haben uns als Gesellschaft gerade gegen ein Organspendegesetz entschieden, dass diesen Mangel gelindert hätte. Haben wir denjenigen, die gegen eine Änderung der geltenden Regeln waren, niedere Motive unterstellt, obwohl die Entscheidung dazu führt, dass Tausende weiterhin früher sterben, als medizinisch notwendig wäre?

Ich möchte jetzt kein Politiker sein. Auch das, was heute moralisch geboten scheint, kann übermorgen unmoralische Folgen haben. Das ist eine Lage, in der es unendlich schwer ist, das Richtige zu tun.

Wissen sie, was sie tun?

Die Regierung macht die Grenze zu Frankreich dicht, aber aus dem Iran konnte man weiter ungehindert einreisen. Lauter hustende Ägypten-Urlauber im Heimatflieger, doch bei der Ankunft verzichtet man auf jede Gesundheitskontrolle

Ich kann genau sagen, wann mein Vertrauen in die Regierung einen schweren Dämpfer erhalten hat. Es war am Montagmorgen, kurz vor zehn Uhr, als Iran Air 721 Kurs auf Frankfurt nahm. Eine Bekannte, die ARD-Journalistin Natalie Amiri, hatte einen Screenshot des Fluges gepostet, man konnte über FlightStats die Route in Echtzeit verfolgen. IR 721 war um 7.40 Uhr auf dem Imam Khomeini Airport in Teheran gestartet. Um 10.06 Uhr landete der Airbus in Deutschland, 14 Minuten früher als vorgesehen.

Iran ist ein Hotspot der Corona-Krise. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort infiziert sind, weil die Regierung den Ausbruch lange heruntergespielt hat. Den offiziellen Zahlen zufolge, die Natalie Amiri am Montag nannte, zeigten von 7,5 Millionen Iranern, die binnen drei Tagen getestet wurden, 175 000 Symptome, 2200 wurden zum Arzt geschickt, 1077 gleich ins Krankenhaus.

Das war also der Stand Anfang der Woche: Die Bundesregierung verfügt Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern. An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, der Schweiz beziehen Bundespolizisten Posten, um jeden Wagen anzuhalten und gegebenenfalls zurückzuweisen. Der europäische Grenzverkehr kommt praktisch zum Erliegen. Aber aus einem der am höchsten durchseuchten Länder der Welt können Menschen ohne jeden Gesundheits-Check einreisen.

Es gab weder eine Temperaturmessung bei der Passvorlage, noch nahm man die Reisenden in Quarantäne, wie es medizinisch geboten gewesen wäre. Erst am Dienstag, nach heftigem Protest, fiel dann die Entscheidung, die EU-Außengrenze zu schließen. Das ist wiederum eine sehr viel drastischere Maßnahme als die Verordnung einer vierzehntägigen Quarantäne für alle, die nach Deutschland einreisen wollen. Niemand kann erklären, warum man binnen 48 Stunden von einem Extrem ins andere fällt. Aber es hat auch niemand gefragt.

Wissen sie in der Regierung, was sie tun? Das wäre meine Frage. Es gehe nicht darum, den Ausbruch zu verhindern, dazu sei es längst zu spät, lautet das Mantra. Es gehe darum, den Infektionsanstieg zu verzögern. Jeder kennt inzwischen das Schaubild, das zwei Kurven zeigt: eine Kurve, die steil nach oben ragt und dann ebenso schnell wieder abfällt – und eine lang gestreckte, die eher einem sanften Hügel als einem Berg gleicht.

Im unteren Drittel des Schaubildes verläuft horizontal ein Strich, der die Zahl der Intensivbetten in Deutschland symbolisiert. Beruhigenderweise bleibt die Kurve der Ansteckungen im Fall des Hügelverlaufs exakt unterhalb dieser Linie. „Flatten the curve“, lautet die Botschaft, die es zu einer Art politischem Heilsversprechen gebracht hat: Wenn es uns gelingt, die Infektionsrate zu verlangsamen, gibt es für jeden, der es braucht, ein Bett.

Ich bin ein skeptischer Mensch. Ich habe angefangen zu rechnen. Wenn es stimmt, was die Bundeskanzlerin sagt, dann werden sich 60 Prozent der Deutschen mit dem Virus anstecken. Das wären 50 Millionen Bundesbürger. Selbst wenn es uns g elänge, die Übertragung auf zwei Jahre zu strecken, würde das immer noch zwei Millionen Infizierte pro Monat bedeuten.

Bei 80 Prozent der Infizierten verläuft die Corona-Grippe harmlos, das ist die gute Nachricht. Aber fünf Prozent benötigen intensivmedizinische Betreuung. Fünf Prozent von zwei Millionen macht 100 000 Intensivpatienten, also das Vierfache dessen, was unser Gesundheitssystem bewältigen kann. Wahrscheinlich habe ich irgendwo einen Rechenfehler gemacht. Trotzdem hat mich das Zahlenexperiment beunruhigt.

Die gute Nachricht ist, man kann das Virus in den Griff bekommen, daran hat auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier gerade erinnert. In Singapur, Hongkong, Taiwan und auch Südkorea sind die Fallzahlen heruntergegangen. Was Altmaier nicht sagt, ist, dass sie in all diesen Ländern sehr viel mehr getan haben, als an die Menschen zu appellieren, sich von anderen fernzuhalten.

Wie sieht eine erfolgreiche Anti- Corona-Strategie aus? Es fängt damit an, dass man seine Bevölkerung wieder und wieder testet, um diejenigen zu identifizieren, die das Virus in sich tragen. Dann muss man sie isolieren, und zwar konsequent. In Südkorea überwachen sie die Bewegungen infizierter Personen per App. Wer sich angesteckt hat, ist über GPS als Corona-Träger sichtbar, damit alle, die gesund sind, Abstand halten können.

Ich höre schon die Datenschützer rufen, das gehe nicht, weil das einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre darstelle. Nun ja, würde ich sagen, das Infektionsschutzgesetz lässt auch ansonsten massive Einschränkungen zu. Wenn ich die Wahl habe zwischen der Isolierung Einzelner und einem dauernden Hausarrest für alle, dann bin ich für die strikte Isolierung.

Ich habe mich oft über die asiatischen Touristen mokiert, die mit einer OP-Maske vor dem Gesicht Münchner Sehenswürdigkeiten in Augenschein nahmen. Das war bis vor vier Wochen bei einem Deutschland-Besuch sicher übertrieben, aber man konnte daran sehen, dass es in asiatischen Ländern aufgrund der Erfahrung mit tödlichen Grippen eine deutlich ausgeprägtere Ansteckungsangst gibt. Deshalb wussten sie dort auch sofort, was auf sie zukommen würde, als die ersten Nachrichten aus der chinesischen Stadt Wuhan eintrafen.

Eine Atemmaske ist ein relativ einfaches Produkt. Ein bisschen Zellstoff, dazu ein Band, mit dem man das Ganze am Kopf befestigen kann – nichts, was eine Industrienation überfordern sollte. Dennoch scheint die Politik auch im dritten Monat seit Ausbruch der Corona-Epidemie nur mit großer Mühe im Stande, die Ausrüstung des medizinischen Personals mit Masken sicherzustellen, von d er Versorgung normaler Bürger gar nicht zu reden.

Auf allen Kanälen ist jetzt zu hören, dass ein Mundschutz nicht vor Ansteckung schütze. Das mag sein, aber er hilft, die Zahl der Neuansteckungen zu reduzieren. Wenn sich das Virus vor allem über Sprechatem und Husten überträgt, wie die Virologen nicht müde werden zu betonen, dann kann schon ein Tuch vor dem Gesicht Leben retten.

Der China-Korrespondent Georg Fahrion beschrieb anlässlich s eines Heimatbesuchs di e Verwunderung üb er die Nachlässigkeit der Deutschen. Natürlich trug er eine Maske, als er das Flughafengebäude verließ und ins Taxi stieg. Niemand würde in Peking auf die Idee kommen, sich mit nacktem Gesicht an einen Ort zu begeben, wo viele Leute aufeinandertreffen. Man würde auch gar nicht weit kommen.

Vielleicht sollten wir anfangen, von den Asiaten zu lernen. Am Dienstag setzte der „Bild“-Redakteur Michael Sauerbier auf Twitter folgenden Eintrag ab: „Aus Ägypten in Berlin-Schönefeld gelandet. 200 Urlauber ohne Mundschutz und Handschuhe, viele huste ten. Sie waren ein bis zwei Wochen mit Italienern, Franzosen, Engländern, Niederländern, Polen, Russen in All-inclusive- Hotels, wo alle am Büfett dieselben Löffel anfassen, 300 zeitgleich im Restaurant. Null Kontrolle bei Abflug und Ankunft, laufen jetzt durch Berlin.“

Man ist in der Politik bereit, den Einzelhandel zu zerstören, indem man Geschäften für Wochen die Existenzgrundlage entzieht. „Fair enough“, wie der Brite sagen würde. Harte Zeiten erfordern manchmal harte Maßnahmen. Aber gleichzeitig sind die Verantwortlichen nicht willens, hustende Urlauber für 14 Tage in Quarantäne zu nehmen, weil das die Laune der Urlauber beeinträchtigen würde? Das verstehe, wer will. Ich verstehe es nicht.

Was uns das Virus über uns selbst sagt

Wir hören gerne, wie aufgeklärt wir sind. Aber können wir uns selbst trauen? Ein Blick auf die leeren Nudelregale im Supermarkt zeigt, dass die Frage in einer Krise nicht so leicht zu beantworten ist

In der Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ habe ich die Meldung gelesen, dass aus mehreren Kliniken der Stadt Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken und Handschuhe entwendet wurden. Zu den Stationen, zu denen sich die Diebe Zugang verschafften, gehört auch eine Intensivstation der Charité, auf der Neugeborene und Kinder mit Leukämie liegen. Krebsstationen verbrauchen große Mengen an sogenanntem Sterilgut. Da bei der Behandlung das Immunsystem heruntergefahren wird, sind Krebspatienten darauf angewiesen, dass sie gut gegen Keime und Viren geschützt sind. Das gilt erst recht für Babys und kleine Kinder.

Zu meinen bevorzugten TV-Serien gehörte eine Zeit lang „The Walking Dead“, in der der Überlebenskampf einer Gruppe von Menschen nach der Zombie-Apokalypse geschildert wird. Der Reiz der Serie liegt nicht in der Wahrscheinlichkeit einer Zombie-Attacke. Wir können uns schnell darauf einigen, dass die Wiederkehr der Toten zu den Ereignissen gehört, vor denen wir ausnahmsweise keine Angst haben müssen. Was einen bei „The Walking Dead“ vor dem Fernseher hält, ist die Plausibilität der Veränderung menschlichen Verhaltens nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Der Zombie ist ja nur das Symbol für eine Katastrophe, die alles auf den Kopf stellt. Es könnte auch ein Meteoriteneinschlag sein. Oder ein Virus.

Wir beschwören gerne, wie aufgeklärt wir sind. Institutionen wie die EU bauen auf der Vorstellung auf, dass wir den Egoismus überwunden und in größeren Zusammenhängen zu denken gelernt haben. In der Krise zeigt sich, dass Blut doch dicker ist als Wasser, wie es so schön heißt. Der Kreis derjenigen, für die man sich verantwortlich fühlt, schrumpft dramatisch. Der Ehemann gehört dazu (in der Regel jedenfalls). Die Eltern, die Kinder. Deren Kinder.

Schon der Nachbar ist im Zweifel außen vor. Mit dem Arbeitskollegen, mit dem man seit Jahren zu Mittag gegessen hat, teilt man nicht einmal das auf der Firmentoilette entwendete Sterilium. „Erst die Hygiene, dann die Moral“, hat ein Kollege die Meldung aus Berlin kommentiert. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn die Krankenhäuser nur noch Menschen einlassen, die aufgrund ihrer Konstitution und ihres Alters eine gute Überlebenschance haben.

Eine der philosophischen Grundfragen ist, wo der Sitz der Moral sei: im Menschen oder, und das wäre die konservative Antwort, in den Institutionen, also den von ihm geschaffenen Ordnungsinstanzen. Die sonnige Antwortet lautet, dass der Mensch von Natur aus gut sei, ein friedliebendes Geschöpf, das im Einklang mit sich und seiner Umwelt lebte, wenn man ihn nicht ständig verbiegen würde. Demgegenüber steht das Konzept vom Menschen als einem selbstsüchtigen Wesen, das jederzeit zu verblüffender Gemeinheit in der Lage ist und sich nur dann zusammenreißt, wenn Strafe droht.

In der Philosophiegeschichte wurden die beiden Sichtweisen exemplarisch durch den französischen Theaterautor Jean-Jacques Rousseau vertreten, auf den die Idee von der Unschuld des Menschen im Naturzustand zurückgeht – und dem englischen Mathematiker Thomas Hobbes, dessen Weltsicht in dem einprägsamen Satz zusammengefasst ist, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei.

Dass Rousseau ein schlechter Vertreter der Auffassung von der prinzipiellen Gutherzigkeit des Menschen war, hat der Anziehungskraft seiner Idee keinen Abbruch getan (um seine intellektuelle Arbeit frei von Störungen zu halten, ließ der Autor seine fünf Kinder allesamt ins Findelhaus bringen, wo sie nacheinander elendig zugrunde gingen). Bis heute ist der Franzose dennoch populärer als sein düsterer Gegenspieler von der Insel.

Wie wir auf den Menschen sehen, hat für die politische Planung erhebliche Auswirkungen. Alle sozialistischen Utopien beruhen auf der Annahme, dass Menschen sich am wohlsten fühlten, wenn alle gleich viel besäßen und es daher keinen Grund für Neid, Gier oder Gewalt mehr gäbe, hätte man endlich diesen Idealzustand wieder hergestellt. Auch der Sozialismus kennt Fehlverhalten, klar, aber das ist ein Übergangsphänomen, das sich leicht durch Umerziehung oder Liquidierung in den Griff bekommen lässt. Wenn erst einmal das eine Prozent der Reichen erschossen ist, fügt sich alles Weitere wie von selbst. Den Rest erledigen Steuern.

Menschen sind durchaus zu kooperativem Verhalten in der Lage. Sie können sogar erstaunlich selbstlos und großherzig sein. Aus Italien wird von Nachbarschaftsinitiativen berichtet, die sich in rührender Weise um die Alten und Kranken kümmern, die nicht mehr das Haus verlassen können. Man sollte sich nur nicht zu sehr auf den Großmut verlassen.

Kann man sich selbst trauen? Ein Gang durch den Supermarkt zeigt, dass die Frage nicht so leicht zu beantworten ist. Obwohl jeder weiß, dass es vernünftiger wäre, wenn alle es beim normalen Wocheneinkauf beließen, denken manche Leute, sie sollten auf Nummer sicher gehen. Die Unvernunft der einen hat die Unvernunft der anderen zur Folge. Es braucht einen starken Charakter (oder viel Gottvertrauen), um dem Impuls zu widerstehen, sich den Wagen mit Nudeln vollzuladen, wenn man sieht, dass die Barilla zur Neige gehen.

Es gibt die Theorie, dass die Religion in dem Moment entstand, als sich der Mensch aus der Kleingruppe emanzipierte und im Zuge der Sesshaftwerdung zu größeren Verbänden zusammenschloss. Mit der Entwicklung komplexer Gesellschaften steigt die Gefahr der Trittbrettfahrerei. Die Erfindung eines Gottes, dem nichts entgeht, wäre so gesehen die Antwort auf die gelockerte Sozialkontrolle. „Beobachtete Leute sind nette Leute“, schreibt der führende Vertreter dieses Ansatzes, der Psychologe Ara Norenzayan.

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat ein Psychotherapeut angeregt, die Angst zu bekämpfen, indem man den Egoismus überwinde. Wer die Atemmasken, die er gehortet habe, in der nächsten Hausarztpraxis oder Klinik abgebe, sollte sozial belohnt werden. Das wäre der Rousseau’sche Weg, wenn man so will.

Erfolg versprechender scheint mir sein Rat, den Humor zu bewahren. Lachen ist nicht nur ansteckend, es ist offenbar auch gesund. Wer viel lacht, sorgt für eine bessere Durchblutung des lymphatischen Rachenringes, also des Immunsystems im Mundraum, wo viele Erkältungserreger ankommen. Außerdem schafft es Abstand zu sich selbst und stärkt so das Gemeinschaftsgefühl, sagt der Therapeut: „Wenn wir aber das Gefühl haben, Teil von etwas Größerem zu sein, dann sind wir viel stärker und mutiger.“ Das wäre dann die Kreuzung von Rousseau und Woody Allen.

Woran erkennt man einen Nazi?

Die Zahl der Nazis wächst mit Abstand zum Dritten Reich. Inzwischen gilt schon als Faschist, wer seiner Tochter Zöpfe flicht und den Sohn zur Leibesertüchtigung anhält. Kein Wunder, dass wir immer neue Programme gegen rechts brauchen

Die Vorsitzende der Linkspartei in Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, hat in der Fernsehsendung „Markus Lanz“ erklärt, woran man Nazis erkennen kann. Eine Methode von Faschisten sei, dass sie im Fahrstuhl dicht mit dem Gesicht an einen heranrückten und dann die ganze Zeit grinsten. Es gebe aber auch das extreme Gegenbeispiel: Nazis würden einen auf ein Getränk einladen oder ihre Hilfe in Alltagssituationen anbieten. „Gehen Sie doch mit uns Kaffee trinken“, würden sie sagen, „sollen wir Sie nicht da- und dorthin mitnehmen“, solche Sachen. Auch das sei eine Methode der Nazis, erklärte Frau Hennig-Wellsow: übertriebene Freundlichkeit.

Vielleicht bin ich zu naiv, aber ich hatte mir Nazis immer anders vorgestellt. Eher so wie den Rapper Fler, der auf Frauen, die seine Texte frauenverachtend finden, ein Kopfgeld aussetzt, damit sie nicht mehr sagen, er sei frauenverachtend. Andererseits soll ja auch Adolf Hitler im persönlichen Kontakt sehr umgänglich gewesen sein. Es gibt Berichte von Zeitzeugen, die sich erstaunt äußerten, wie normal Hitler im Gespräch gewirkt habe, gar nicht wie der Schreihals aus den Parteiveranstaltungen.

Die Frage, woran man einen Nazi erkennt, ist spätestens seit Thüringen wieder aktuell. Manchmal tarnt er sich und bringt die Vertreter der demokratischen Parteien durch seine Hinterlistigkeit in Bedrängnis, wenn man den Berichten glauben darf.

Ich habe vergangene Woche einen Test gemacht. Nachdem ich bei Twitter auf einen Beitrag gestoßen war, in dem ein Journalistenkollege unter der Überschrift „Nazis raus“ eine kurze Filmsequenz von Friedrich Merz beim Biertrinken gepostet hatte, habe ich meine Leser gefragt, was ihnen zu dem Thema Nazi einfällt. Ich bekam folgende Antworten, in ungeordneter Reihenfolge: Zöpfe. Seitenscheitel. Dass man seinen Teller aufisst und beim Essen gerade sitzt. Pünktlichkeit. Doppelhaushälfte. Beim Chinesen Nasigoreng bestellen. Morgens immer Orangensaft trinken. Im Wanderverein sein.

Das mit den Zöpfen ist nicht so weit hergeholt. Die Amadeu Antonio Stiftung in Berlin hat vor Monaten eine Broschüre herausgegeben, in der sie Erziehern und Erzieherinnen Tipps gibt, wie sie sich besser gegen rechte Gesinnung im Kindergarten wehren können. Da nicht immer unmittelbar ersichtlich ist, dass ein Kind aus einem völkischen Elternhaus kommt, braucht es Spürsinn.

Ein rechtes Kind erkenne man zum Beispiel daran, dass es im Morgenkreis schweigsam und passiv sei, da rechte Eltern viel Wert auf Gehorsam legten, heißt es in der Broschüre. Außerdem seien „traditionelle Geschlechterrollen“ im Erziehungsstil erkennbar: Die Mädchen trügen Zöpfe und Kleider, die Jungs hingegen würden „stark körperlich gefordert“. Meine Tochter ist blond und heißt Greta. Sie singt glücklicherweise laut im Morgenkreis und hasst Zöpfe und Kleider.

Der Punkt ist, es gibt nach wie vor echte Nazis, also Leute, die finden, dass der Nationalsozialismus seine guten Seiten hatte und Hitler alles in allem ein famoser Politiker war. Der Verfassungsschutzbericht schätzt die rechtsextreme Anhängerschaft auf 24000 Personen. Selbst wenn man die Leute hinzurechnet, die ihre Hitler-Liebe still ausleben und deshalb nicht im Verfassungsschutzbericht auftauchen, kommen die wirklichen Nazis in Deutschland kaum über den Promillebereich hinaus.

Zu einer respektablen Größe bringen sie es erst, weil ihnen der Einfachheit halber auch alle Menschen zugeschlagen werden, die im Verdacht stehen, etwas gegen Fremde, Schwule oder die Gleichberechtigung von Frauen zu haben. Wenn von Nazis die Rede ist, sind in der Regel Rassisten und Sexisten gemeint beziehungsweise diejenigen, die man dafür hält.

Das Problem, das ich bei dieser Art von Nazi-Hochrechnerei sehe, ist, dass man die Zahl der Nazis damit groß macht, ohne dass die Nazis etwas tun müssen. Wäre ich Nazi, wäre es mir ganz recht, dass man mich überschätzt.

Interessanterweise schwankt man auch bei der versammelten Antifa, was die Gefährlichkeit des Faschismus angeht. Einerseits lebt man in ständiger Furcht, dass die braunen Horden morgen wieder durchs Brandenburger Tor ziehen. Jede Äußerung eines AfD-Politikers gilt als Beleg, dass es demnächst wieder so weit ist. Andererseits möchte man dem Gegner auch nicht zu viel an Bedeutung zugestehen. Als der „Spiegel“ vor vier Wochen den AfD-Führer Björn Höcke als „Dämokrat“ auf den Titel hob, regte sich sofort Protest. Man dürfe Höcke nicht so groß machen, hieß es. In Wirklichkeit sei er doch eine lächerliche Figur, bestenfalls ein Führerlein.

Ich bin ein praktisch veranlagter Mensch. Wenn Leute neben ihren Namen „Nazis raus“ schreiben, frage ich mich, was daraus folgen soll. Ich bin sehr für ein nazifreies Deutschland. Auf Leute, die Andersdenkenden am liebsten den Schädel einschlagen würden, kann ich gerne verzichten. Da in einer Demokratie Zwangsmaßnahmen wie die Verschickung in Strafkolonien ausscheiden, bleibt es allerdings meist beim frommen Wunsch. Wie man sieht, ist es ja noch nicht einmal möglich, Leute wie Björn Höcke daran zu hindern, mit ihrer Stimme die Wahl eines Ministerpräsidenten zum Spektakel zu machen.

Tatsächlich beschränken sich die Vorschläge gegen rechts im Wesentlichen auf die Forderung nach Auftrittsverboten im Fernsehen. Sie werden von mir nur Gutes über die Bedeutung von Talkshows hören, aber dass die AfD nun verschwindet, weil man sie nicht mehr zu „Anne Will“ einlädt, daran mag ich nicht glauben.

Das andere, was helfen soll, sind neue Anti-Extremismus-Programme. Grüne und SPD fordern ein „Demokratiefördergesetz“, das noch einmal knapp 100 Millionen Euro bereitstellen soll, zusätzlich zu den 115 Millionen Euro, die das Familienministerium schon jetzt jedes Jahr für den Kampf gegen rechts ausgibt. Auch da habe ich Zweifel, was die Wirksamkeit angeht.

Ich halte die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unter beschäftigungslosen Politologen für ein gesellschaftlich wichtiges Anliegen. Ich fürchte nur, es wird nicht helfen, Fanatiker vom Fanatismus abzuhalten. Oder meint jemand ernsthaft, dass sich der Attentäter von Halle besonnen hätte, wenn ihm der „Verein Neue deutsche Medienmacher*innen“ beizeiten erklärt hätte, wie man Menschen mit Migrationshintergrund angemessen anredet?

Deutschland hatte schon einmal ein Problem mit Nazis, 70 Jahre zurück. Damals waren die echten Nazis noch so zahlreich vertreten, dass man über eine breit angelegte Entnazifizierung nachdenken musste. Das Programm, das man auflegte, funktionierte im Grunde nach dem Prinzip „Nazis rein“: Statt die Leute an den Rand zu drängen, eröffnete man ihnen die Möglichkeit zur Rückkehr ins normale Leben. Wer bereit war, sich als guter Demokrat zu erweisen, bei dem sah man über sein Vorleben hinweg. An der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik gemessen, war es wahrscheinlich das erfolgreichste Anti-Extremismus-Programm der Welt, und das ganz ohne Geld des Familienministeriums.

Heute gehen wir den anderen Weg. Selbst die FDP gilt nach Thüringen als quasiextremistische Partei. Die FDP sei nicht mehr Teil der politischen Mitte, hat der Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, vergangene Woche bei einer Diskussion auf „Bild TV“ verkündet. Der chinesische Künstler Ai Weiwei, so etwas wie der Lars Klingbeil der Kunstwelt, hat in einem Interview die Deutschen jetzt insgesamt zu Nazis erklärt. Das ist, wenn man so will, die Maximalposition.

Wenn alle Nazis sind, dann ist es irgendwann keiner mehr.

Können Worte töten?

Was in der Debatte um Amokläufe die Videospiele sind, das sind nach der Tat von Hanau die Texte bestimmter Autoren. Wer den Terror von rechts bekämpfen wolle, müsse auch gegen die Stichwortgeber vorgehen, heißt es jetzt. Ist es so einfach?

Im Frühjahr 1972, nachdem die erste Generation der RAF längst den Weg in den Untergrund gefunden hatte, betrat ein neuer Tätertypus die politische Bühne: der Sympathisant. Sympathie ist eigentlich etwas Positives. Wer mit anderen mitfühlt, gilt normalerweise als guter Christenmensch. Nun fielen unter den Begriff alle, bei denen eine ideologische Nähe zum Terrorismus vermutet werden konnte. Dazu reichte es schon, dass man das Vorgehen des Staates kritisierte.

Der Sympathisant war vor allem in der Szene der Intellektuellen zu finden, unter Schriftstellern, Journalisten und Hochschulprofessoren. Wenn der Terroristenjäger Horst Herold davon sprach, dass man den Sympathisantensumpf trockenlegen müsse, waren Leute wie Heinrich Böll oder Günter Wallraff gemeint.

Der Sympathisant ist zurück – und mit ihm die Gesinnungsjagd. Die Bölls von heute heißen Tichy, Broder oder Sarrazin. Sie sind es, die der Gewalt den Weg bereiten, die sich dann in Taten wie in Hanau entlädt – jedenfalls wenn man den aufgeklärten Zeitgenossen glauben darf. Wer den Terror von rechts bekämpfen wolle, müsse nicht nur Waffengesetze verschärfen und den Fahndungsdruck erhöhen, heißt es, er müsse auch gegen die Anstifter an den Schreibtischen vorgehen. „Wir müssen die Stichwortgeber benennen“, forderte der Fernsehmoderator Jan Böhmermann vergangene Woche.

Es ist Mode geworden, Deutschland im Jahr 2020 mit der Weimarer Republik der zwanziger Jahre zu vergleichen, jenem fiebrigen Jahrzehnt, das in der Raserei des Nationalsozialismus endete. Ich habe das immer für Unsinn gehalten. Weder durchlebt Deutschland eine Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, noch gibt es einen Versailler Vertrag, der die Nation beschwert. Wenn man nach Referenzpunkten in der Geschichte suchen will, liegt der Vergleich mit den siebziger Jahren sehr viel näher. Das ist das Jahrzehnt, das sich als historische Parallele anbietet.

Alles ist wieder da: das Gefühl, dass freiheitliche Ordnung und Rechtsstaat in Gefahr sind; die Erschütterung der politischen Elite, die nicht weiß, wie sie reagieren soll; die Unversöhnlichkeit, mit der sich Linke und Rechte gegenüberstehen. Auch der Terror ist zurück und mit ihm die Frage, welche Verantwortung Leute tragen, die von aufmerksamen Zeitgenossen als Stichwortgeber identifiziert wurden. Sogar die alte Sprache feiert ein Comeback. Erstmals seit Längerem ist in den Leitartikeln wieder vom „Sumpf“ die Rede, den es auszutrocknen gelte.

Glaubt man den Sympathisantenjägern von heute, ist die Sache denkbar einfach: Erst redet eine AfD-Politikerin im Bundestag über „Kopftuchmädchen“ und „Messermänner“. Dann schreibt es ein Journalist auf, nicht in diesen Worten, aber dem Sinn nach. Anschließend nimmt jemand in Hanau oder anderswo sein Gewehr aus dem Schrank, weil er sich ermuntert fühlt, in die Tat umzusetzen, was andere nur denken. Was in der Debatte um Amokläufe an Schulen die Videospiele sind, sind jetzt die Texte rechter Blogger und Autoren. Seht her, heißt, es, so etwas kommt von so was. Oder wie der „Spiegel“ vor 40 Jahren schrieb: „Mord beginnt beim bösen Wort.“

Aber ist es so einfach? Natürlich haben Worte Folgen, manchmal sogar dramatische. Sprache ist gelenktes Denken, wie man in Abwandlung eines Wortes von Jean-Paul Sartre sagen könnte. Deshalb sollte man sich jeder aufpeitschenden und hetzerischen Sprache enthalten, wenn man nicht will, dass die Welt um einen herum aufgepeitschter und hetzerischer wird. Diese Zurückhaltung ist erst recht Journalisten zu empfehlen. Wer in den Schützengraben steigt, verliert schnell den Überblick – egal, auf welche Seite er sich stellt.

Ich weiß allerdings aus Erfahrung, wie flüchtig Menschen Texte lesen und auf welche absurden Deutungen sie manchmal kommen. Müsste ich bei jedem Satz abwägen, ob die Gefahr besteht, dass ihn jemand falsch versteht, könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Wer einen Autor für die Handlungen seines Publikums in Haftung nimmt, inklusive des Teils, der verrückt ist, bürdet ihm eine Verantwortung auf, die beängstigend ist. Aber vielleicht soll sie das ja auch sein?

Dass der Schütze von Hanau unter einer Störung litt, die eine Behandlung hätte angezeigt sein lassen, ist inzwischen hinreichend etabliert. In gewisser Weise ist jeder Attentäter psychisch lädiert, wäre es anders, würde er nicht zum Attentäter. Trotzdem ist die Frage der Zurechnungsfähigkeit für die Klärung der Schuldfrage wesentlich.

Wo die Grenze zwischen Krankheit und Extremismus verläuft, vermag die forensische Psychiatrie ziemlich genau zu sagen. Es deutet viel darauf hin, dass der Täter von Hanau kein fanatisierter Ideologe war, den seine Überzeugungen immer tiefer in seine Wahnwelt führten, sondern dass der Wahn der Ideologie vorgelagert war, sich die psychische Störung also nachträglich politisierte.

Der Psychotiker füllt seinen Wahn durch radikale Inhalte auf, wie das die Psychiaterin Nahlah Saimeh beschrieben hat. Manche Zwangsvorstellungen eignen sich dafür besser als andere. Dass die Bundesregierung insgeheim daran arbeite, das deutsche Staatsvolk auszutauschen, ist als Zwangsidee anschlussfähiger als der Glaube an den Tod der Biene und ein dadurch ausgelöstes Massensterben der Menschheit. Grundsätzlich sind allerdings alle Ängste als Themen in den Wahn einbaubar. Es würde sie nicht wundern, wenn demnächst der Klimawandel in das psychotische Denken eingebaut würde und Menschen mit einer akuten Psychose bizarre Dinge tun würden, um den Klimawandel aufzuhalten, hat Saimeh vor Monaten zu Protokoll gegeben.

Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein radikalisierter Psychotiker zur Waffe greift, also eine der Opportunität. Wer der Meinung ist, dass die Ausländer unser Unglück seien, kann eine Shisha-Bar aufsuchen und jeden erschießen, der irgendwie anders als er selbst aussieht. Wer ein Fanal gegen den Klimawandel setzen will, hat es da schwerer. Gegen wen soll sich der Anschlag richten: Gegen Lufthansa-Piloten? Oder die Vorstände großer Tourismuskonzerne?

Ich glaube, wir wären ein großes Stück weiter, wenn man sich darauf verständigen könnte, dass man nicht laufend die Maßstäbe verändert, nur weil es einem opportun erscheint. Wer bei jedem Anschlag, bei dem der Täter „Allahu akbar“ schreit, darauf besteht, dass der Attentäter kein Islamist, sondern lediglich ein verwirrter Geist sei, ist in einer schlechten Ausgangsposition, um jetzt alle psychologischen Erklärungen vom Tisch zu wischen. Das gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Wenn das führende AfD-Personal meint, dass die Morde in Hanau nichts mit Ideologie zu tun haben, muss die Frage erlaubt sein, warum sie dann bei jedem Muslim die Religion ins Schaufenster stellen.

Ausgerechnet der damalige Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau erinnerte 1977 in einem „Spiegel“-Beitrag an den Unterschied zwischen dem Radikalismus der Tat und dem Radikalismus im Denken: „Das Strafrecht kennt den Begriff des Sympathisanten nicht. Es unterscheidet ‚Täter‘, ‚Gehilfen‘, ‚Begünstiger‘. Da wird nicht mit Vermutungen operiert. Da müssen Tatsachen bewiesen werden, Tatsachen, aus denen hervorgeht, welchen Beitrag einer zur Tat geleistet hat.“ Auch das sind Sätze, an die zu erinnern sich wieder lohnt.

Der Sozialist als Wutbürger

Bodo Ramelow gilt als Vorzeigedemokrat, der erst ans Land und dann an die Partei denkt. Dabei gibt es kaum einen Politiker, der so mit sich selbst beschäftigt ist wie der Mann aus Thüringen. Schon die leiseste Kritik führt ihn an seine Belastungsgrenze

Er sei das Bürgerlichste, was in Thüringen herumlaufe, hat der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt. Das hat mir zu denken gegeben.

Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, in der es als Stigma galt, als bürgerlich zu gelten. Heute wollen alle bürgerlich sein – die AfD, die Sozialdemokraten, die Grünen ohnehin. Jetzt also auch die Leute von der Linkspartei. Was früher ein Zeichen von Langeweile und Spießigkeit war, steht nun für Verlässlichkeit und Solidität. Bürgerlich zu sein ist die Zusicherung, dass man als Politiker keinen Quatsch macht, wenn man an die Regierung kommt. Seht her, ihr könnt mir vertrauen, lautet das Versprechen.

Wenn man sich Ramelow ansieht, muss man sagen: Bürgerlicher geht’s nicht. Er verlässt nie ohne Anzug und Krawatte das Haus. Sein Hund, ein Jack-Russell-Terrier namens „Attila“, ist fast so berühmt wie er selbst. Allerdings sieht auch Björn Höcke sehr bürgerlich aus. Auch Herr Höcke legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung und trägt immer Anzug, wenn er vor die Tür tritt.

Der äußere Schein kann trügen, weshalb in den vergangenen Wochen verschiedentlich darauf hingewiesen wurde, dass Bürgerlichkeit vor allem eine Frage der inneren Haltung ist, die mit Selbstbeherrschung, politischer Reife und einer freundlichen Gelassenheit angesichts der Zumutungen der Welt einhergeht.

Gelassenheit ist nicht Ramelows stärkste Seite. Schon die einfachsten Fragen führen ihn an seine Grenzen. Ich spreche hier aus Erfahrung. Ramelow ist der einzige Politiker, den ich getroffen habe, der ein Interview abbrach, weil ihm die Zielrichtung nicht passte.

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, aber während eines Gesprächs in seinem Büro beklagte er sich bei mir, dass er jahrelang vom Verfassungsschutz beobachtet worden sei, worauf ich erwiderte, dass ich vollstes Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden hätte und deshalb selbstverständlich davon ausginge, dass der Verfassungsschutz seine Gründe gehabt habe. Das reichte, um mich des Zimmers zu verweisen. Ein Kollege hat dann das Interview ohne mich zu Ende geführt.

Ramelow hat auch schon Interviews mit dem MDR oder dem Video-Blogger Tilo Jung zwischendurch abgebrochen. Vergangene Woche saß er bei Sandra Maischberger. Als sie ihn als „sozialistischen Ministerpräsidenten“ ansprach, war es fast wieder so weit, dass er aufgestanden und gegangen wäre. Gleich im ersten Satz des Parteiprogramms der Linkspartei steht, dass sie eine „sozialistische Partei“ sei. Ich kann mir den Widerspruch nur so erklären, dass Ramelow wie viele autoritär veranlagte Menschen an einem Übermaß an Ichbezug leidet. Wer alles auf sich bezieht, verliert irgendwann den Kontakt zur Realität.

Wie sehr ihn der Verlust seines Amtes getroffen hat, offenbarte er in der Sendung bei „Maischberger“, als er über die „schweren Zeiten“ sprach, die er durchlitten habe. Er habe das Massaker am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt erlebt und den Hungerstreik der Kalikumpel in Bischofferode, sagte er, „aber so was, was ich seit Mittwoch erlebe, was meine Familie erlebt, das haben wir noch nicht erlebt“.

Ich glaube gern, dass eine Wahlniederlage für einen Politiker eine traumatische Erfahrung sein kann. Demokratie ist manchmal einfach Mist. Aber so tragisch wie ein Amoklauf? Hoffen wir, dass die Überlebenden des Schulmassakers am Gutenberg-Gymnasium um 22.45 Uhr nicht mehr vor dem Fernseher sitzen. Ich denke, sie würden Herrn Ramelow sonst gern darüber aufklären, dass es sicher schlimm ist, wenn sich die eigenen Karrierepläne zerschlagen, aber das es deutlich schlimmer ist, wenn man Mitschüler im Kugelhagel verliert.

Überall kann man jetzt lesen, dass die Linkspartei eine Partei wie alle andern sei (ausgenommen die AfD selbstverständlich, mit der will niemand verglichen werden). Die Digital-Intellektuelle Marina Weisband brachte diese Einschätzung vorbildhaft auf den Punkt, als sie zum Vergleich von AfD und Linkspartei schrieb, dass man Faschismus und kostenlose Kitaplätze nicht gleichsetzen könne.

Ich vermute, dass vielen Menschen bei SED mehr einfällt als kostenlose Kitaplätze, korrigieren Sie mich, wenn ich falschliegen sollte. Außerdem kann eine Partei trotz sozialer Wohltaten ein Verein sein, den man besser nicht wählt. Was den Ausbau des Sozialstaats angeht, kann man auch den Nationalsozialisten keinen Vorwurf machen. Eine Reihe von sozialen Errungenschaften, auf die wir bis heute stolz sind, verdanken wir dem „Führer“, angefangen beim Kindergeld oder dem Mieterschutz.

Jede Partei hat ihren Narrensaum, bei der Linken ist der Saum allerdings besonders reich verziert. Zwei Namen: Die Vizechefin der Fraktion der Linken im Bundestag, Heike Hänsel, ist ein so glühender Fan des venezolanischen Diktators Maduro, dass der „Spiegel“ sie neulich als „Vertreterin einer verrückten Sekte“ einstufte. Über die stellvertretende Parteivorsitzende Janine Wissler kann man auf ihrer Wikipedia-Seite lesen: „Janine Wissler lehnt den Kapitalismus als ‚unmenschliches, grausames System‘ ab. Das Einführen einer ‚klassenlosen Gesellschaft’ könne nicht durch ‚Parlamente und Regierungen‘ geschehen.“

Mag sein, dass Leute wie Hänsel oder Wissler in der Linkspartei nicht viel zu sagen haben. Ich will trotzdem nicht von Politikern regiert werden, die auf Pilgerfahrt nach Caracas gehen oder darüber nachsinnen, wie man das parlamentarische System aushebeln könne. Nennen Sie mich altmodisch: Ich habe es einfach lieber, wenn an der Regierung Parteien beteiligt sind, die kein Fall für den Verfassungsschutz sind.

Eine gewisse Doppelbödigkeit gehört zum politischen Geschäft. Aber wer die Toten von Buchenwald exhumiert, um sich gegenüber dem politischen Gegner in Szene zu setzen, muss sich strengere Maßstäbe an moralische Konsistenz gefallen lassen. Ausgerechnet bei der Vergangenheitsbewältigung nimmt es die Linkspartei selbst nicht so genau. Die DDR ein Unrechtsstaat? Das könne man so nicht sagen, findet Ramelow. Schießbefehl an der Grenze? Nicht wirklich bewiesen, sagt er. Wer weiß, vielleicht lernen wir demnächst, dass die Mauer eigentlich gar keine Mauer war.

Ich habe für solche Verrenkungen sogar Verständnis. Wer viele Ehemalige in den eigenen Reihen hat, tut gut daran, sie nicht zu verärgern. Das war bei der CDU bis in die siebziger Jahre nicht anders, weshalb man auch dort verlässlich die schützende Hand über die alten Kameraden hielt. Nur sollte man sich dann vielleicht nicht zu sehr ins Zeug legen, wenn es um die Verfehlungen bei anderen geht.

Im Netz machte über das Wochenende ein kurzer Videoclip Karriere, in dem zu sehen ist, wie Ramelows Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff wenige Tage vor der Ministerpräsidentenwahl erklärte, weshalb es kein Beinbruch sei, wenn eine rot-grüne Minderheitsregierung ihre Gesetze mithilfe von Stimmen aus der AfD durchbringe. Zwei Wochen später gilt jede Unterstützung durch die AfD als unentschuldbarer Tabubruch.

Ich glaube, dass Ramelow in China ein sehr glücklicher Mensch wäre. In China gibt es weder freche Journalisten noch eine Öffentlichkeit, die einen mit alten Äußerungen oder Ankündigungen in Verlegenheit bringen könnte.

Die Demokratie der anderen

Bei der Korrektur der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen geht es um viel mehr als das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur AfD. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine Neudefinition der politischen Mitte

Anfang der sechziger Jahre entwickelten amerikanische Politikwissenschaftler eine Idee, die als „Realignment Theory“ Bekanntheit erlangte. Sie besagte, dass es Wahlen gibt, die in der Geschichte einer Nation herausragen, weil mit ihnen eine dramatische Neuordnung der politischen Landschaft einhergeht. Programme, Wählerbindung, mögliche Allianzen – alles muss anschließend neu bewertet werden.

Der Begriff „Realignment“ ist schwer zu übersetzen, es gibt kein richtiges deutsches Äquivalent. Vielleicht „Neuausrichtung“ – aber das ist zu schwach, weil es den gewaltsamen Aspekt des Vorgangs verkennt. Bis heute gilt das Realignment als eine Art Heiliger Gral der Politik. Wem es gelingt, die Polit-Geografie in seinem Sinne zu formen, kann seine Gegner auf Jahre in die Defensive bringen.

Auch wir werden gerade Zeuge eines Realignments. Zu glauben, bei der Korrektur der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen gehe es um das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur AfD, hieße, die Dinge zu unterschätzen. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine Neudefinition der politischen Mitte und damit eine grundlegende Transformation der Statik, auf der das politische System seit 70 Jahren ruht.

Die Definition, wer zur Mitte gehört und wer nicht, ist weit mehr als ein semantischer Akt. Es ist eine Verständigung darüber, wer ins Zentrum der Macht vorstoßen kann und darf. Bislang gab es in der Bundesrepublik die Übereinkunft, dass die Mitte zwischen den politischen Lagern liege, also zwischen ganz links und ganz rechts. Das entspricht auch dem Gefühl der Wähler.

Wer sich zu weit nach außen entfernte, dem traute man vielleicht die Beteiligung an einer Landesregierung zu, aber der Weg ins Kanzleramt blieb versperrt. Voraussetzung für den Eintritt in die Bundesregierung war eine Entradikalisierung, erst des Programms und dann des Personals. Das galt für die SPD, die erst den Kanzler zu stellen vermochte, nachdem sie sich in Bad Godesberg vom Sozialismus losgesagt hatte. Und das galt auch für die Grünen bei ihrem Marsch durch die Institutionen.

Wie die neue Mitte aussieht, ist bislang nur in Umrissen erkennbar. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass ihre Demarkationslinien durch unerschlossenes Territorium verlaufen. Die Vorsitzende der Linkspartei in Thüringen hat eine erste Grenze abgesteckt, als sie davon sprach, dass CDU und FDP die Chance hätten, die „Reihen der Demokraten wieder zu schließen“, indem sie sich hinter Bodo Ramelow versammelten.

Die Reihe der Demokraten beginnt nach diesem Verständnis beim Marxistischen Forum beziehungsweise den Maduro-Fans, die das Loblied des venezolanischen Diktators singen, und endet bei den fortschrittlich gesinnten Kräften im bürgerlichen Lager, die nach dem Debakel von Erfurt bereit sind, jeden Schwur zu leisten, damit man ihnen vergibt. Alles, was jenseits liegt, angefangen bei Unions-Politikern, die der Linkspartei genauso misstrauen wie der AfD, ist Teil des dunklen Deutschlands.

Wie alle abrupten Verschiebungen, vollzieht sich auch das Realignment nicht ohne Fissuren. Man sieht es zuerst im Sprachgebrauch. Sprache gibt Bahnen vor. Wenn die Leute plötzlich neue Brücken oder Abzweigungen einbauen, gerät man manchmal an Ziele, die man gar nicht erreichen wollte. Man nennt das Demagogie, könnte man in Verwendung eines Gedankens von Frank Schirrmacher sagen.

Eine demokratische, verfassungsrechtlich einwandfreie Wahl wird zum „Zivilisationsbruch“ und gerät damit sprachlich in die Nähe des Holocaust. Ein Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nimmt den Ball auf und spricht in einem Fernsehkommentar von „Endstation Buchenwald“. Ein abgewählter Ministerpräsident verschickt Bildchen, auf denen er den FDP-Vorsitzenden im Landtag mit Hindenburg vergleicht und den AfD-Vorsitzenden mit Hitler.

Dann folgen die personellen Erschütterungen. Wer nicht schnell genug Gefolgschaft gelobt oder sich für Gesinnungsfehler entschuldigt, findet sich im Abseits wieder. Im Zweifelsfall reicht ein zu früh abgesetzter Gratulationsgruß, um seinen Posten zu verlieren. Und das ist immer nur der Anfang. „Ihm werden viele folgen müssen“, schrieb der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert nach der Entlassung des Ostbeauftragten der Bundesregierung im Stil eines Mini-Danton, während sich der Mob vor den FDP-Parteibüros austobte.

Am Ende steht der Bruch formaler oder rechtlicher Prinzipien. Die Kanzlerin agiert so, als ob sie weiterhin Parteivorsitzende wäre, was die Demission der eigentlichen Parteivorsitzenden zur Folge hat. In Thüringen überlegt man, vor der nächsten geheimen Ministerpräsidentenwahl eine Dokumentationspflicht einzuführen, damit man sicher sein kann, dass Bodo Ramelow nicht mit Stimmen der AfD ins Amt zurückgehievt wurde.

Die CDU zur dominanten Kraft im linken Lager zu machen ist eine Strategie, die Angela Merkel seit Langem beharrlich verfolgt. Die große Koalition war bei ihren Vorgängern immer als Ausnahme gedacht, bevor man zur natürlichen Ordnung zurückkehren konnte, worunter die Koalition mit den Freidemokraten verstanden wurde. Merkel hat es nie so ausgesprochen, aber für sie war das Bündnis mit der SPD eine politische Heimatfindung.

Dass man Rot-Grün jetzt in der Union ganz neu denkt, also als Pakt mit den Grünen und, wenn es die Lage erfordern sollte, dann auch mit der Linkspartei, ist so gesehen nur konsequent. Man darf sich nicht täuschen: Der Unvereinbarkeitsbeschluss, der jede Zusammenarbeit mit der Linken verbietet, ist bestenfalls das Papier wert, auf dem er steht.

Die Wähler empfinden noch anders. Dieses Realignment ist ja nicht Ausdruck des Volkswillens, sondern eines von oben verordneten Kulturkampfs. Auch deshalb wird mit großem rhetorischem Aufwand versucht, dem Vorgang eine nachträgliche Legitimation zu verschaffen.

Kaum etwas hat die Linke immer schon so gehasst wie die Totalitarismusthese, wonach Nationalsozialismus und Kommunismus neben großen Unterschieden eben auch frappierende Ähnlichkeiten aufweisen. Es sei die Hufeisentheorie, die ins Unglück geführt habe, heißt es jetzt, also die Vorstellung, dass sich die Extreme berühren würden.

Genau besehen ist schon der Begriff „Mitte“ verdächtig, weil er ja insinuiert, dass es zwei Ränder gibt, also einen linken und einen rechten Rand. Dass es genau dieses Denken sei, das den Aufstieg der AfD erst möglich gemacht habe und das, wenn man nicht aufpasse, in Buchenwald ende, ist das Mantra der Stunde.

Unter den Bedingungen der Demokratie ist es wahnsinnig schwer, 30 bis 40 Prozent der Wähler von der Einflussnahme auf parlamentarische Prozesse auszuschließen. Und auf 30 bis 40 Prozent kommt man, wenn man zur AfD die Teile von CDU und FDP hinzuzählt, die nun unter Faschismusverdacht geraten sind. Man muss sich also etwas einfallen lassen.

In Nordrhein-Westfalen hat die SPD jetzt ein Gesetz vorbereitet, das verhindern soll, dass Gesetze den Landtag passieren, an denen sich die parlamentarische Rechte beteiligt hat. Wie sich dieses Anti-AfD-Dokumentationspflicht-Gesetz mit der Gewissensfreiheit des Abgeordneten verträgt, ist ein Rätsel. Aber wer weiß, vielleicht hat jemand ja noch eine gute Idee.

Rot-grüner Mainstream: Die zwei Gründe, weshalb Journalisten viel linker als das Land sind

Journalisten sehen sich gern als mutige Streiter wider den Mainstream. Leider legen die Zahlen nahe, dass es mit dem Widerspruchsgeist nicht so weit her ist. Die meisten Medienmenschen bewegen sich in einem Umfeld, in dem fast alle so denken wie sie selbst.

Ein typischer Tag beim Deutschlandfunk verläuft so: Eine Mode-Bloggerin erklärt anlässlich der Berlin Fashion Week, warum sie gegen Mode sei – weil Mode den Klimawandel befördere.

Ein junger Sprachwissenschaftler berichtet über die neuesten Initiativen, mithilfe gendergerechter Sprache zu einem besseren Verhältnis der Geschlechter zu kommen. Lehrer heißen bei dem in Köln beheimateten Sender nicht länger „Lehrer“, sondern „Lehrende“, wie man bei der Gelegenheit erfährt.

Es folgt ein Beitrag über „rassistische Elemente“ im Werk des berühmten „Brücke“-Malers Otto Müller. Das Bild „Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ zeige Frauen als „exotische Verführerinnen“ und tradiere so Klischees über Sinti und Roma, weshalb sich das Museum entschlossen habe, das Bild nur noch in Verbindung mit einem Dokumentarfilm zu zeigen.

Sie denken, ich übertreibe? Dann haben Sie seit Längerem nicht mehr Deutschlandfunk gehört. Weil auch anderen Hörern aufgefallen ist, dass weite Teile des Programms so klingen, als führten Annalena Baerbock und Robert Habeck die Oberaufsicht, hat sich ein Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ neulich einem Selbstversuch unterzogen. Sein Fazit: Früher hätten Konservative die öffentlich-rechtlichen Anstalten als „Rotfunk“ geschmäht, heute müsste man von einem „Grünfunk“ reden.

Insofern war ich doch überrascht, auf der Seite des Senders einen langen Text zu finden, warum es gar nicht wahr sei, dass das Herz des deutschen Journalisten links schlage. Tatsächlich sei es ein Vorurteil zu glauben, die Mehrheit in den Medien tendiere zu Rot-Grün.

Insbesondere linke Journalisten hören es nicht gern, wenn man sie links nennt, die Erfahrung habe ich schon öfter gemacht. Ich glaube, das hängt mit dem Selbstbild zusammen. Journalisten sehen sich gern als mutige Streiter wider den Mainstream. Wenn man sagt, dass sie in einem Umfeld arbeiten, indem die meisten so denken wie sie, schmälert das ein wenig den Heroismus. Wer gilt schon gern als Mitläufer?

Leider legen die Zahlen nahe, dass es mit dem Widerspruchsgeist nicht so weit her ist. Es gibt nicht viele Studien zu den politischen Vorlieben von Medienmenschen. Eine der größten stammt von 2005 und kommt vom Hamburger Institut für Journalistik. Danach verteilte sich die politische Sympathie wie folgt: Grüne 35,5 Prozent, SPD 26 Prozent, CDU 8,7 Prozent, FDP 6,3 Prozent, sonstige 4 Prozent, keine Partei 19,6 Prozent.

Jüngere Studien kommen zu einem ähnlichen Befund. Mal ist die Zahl derjenigen größer, die sich politisch nicht zuordnen wollen. Mal liegen die Sozialdemokraten besser, mal liegen sie schlechter. Aber am Trend ändert sich nichts: Wenn deutsche Journalisten den Bundeskanzler stellen könnten, käme der nicht aus dem bürgerlichen Lager.

Selbst in Redaktionen, in denen man es nicht erwarten sollte, gibt es eine klare Mehrheit für Rot-Grün. Bei der „Welt“, dem konservativen Flaggschiff des Springer-Konzerns, weiß man es genau, seit die Redaktion vor ein paar Jahren anlässlich einer Bundestagswahl eine Testwahl unter den Kollegen durchführte. Das Ergebnis hing dann zwei Wochen am schwarzen Brett des Springer-Hochhauses in Berlin, bis der Vorstand es abnehmen ließ, weil man nicht jedem Besucher auf die Nase binden wollte, dass der heimliche Lebenstraum eines „Welt“-Redakteurs ein Platz bei der „Süddeutschen“ ist.

Linke Medienkritiker weisen gern darauf hin, dass die Chefredakteure oft sehr viel konservativer sind als die Mannschaft. Das mag stimmen, aber es hat im Redaktionsalltag weniger Auswirkungen, als man annehmen sollte (oder sich der Chefredakteur einbildet). Es gibt viele Möglichkeiten, die Anweisung von oben zu unterlaufen – ich spreche aus Erfahrung. Themenvorschläge werden ignoriert, oder der Chefredakteur bekommt zu hören, dass sich leider keine Belege für seine These finden ließen.

Warum sind so viele Journalisten links eingestellt? Ein Grund ist das, was die Soziologie Selektionsverzerrung nennt. Der typische Journalist hat Germanistik, Geschichte oder Politik studiert. Jura oder Ingenieurwissenschaften, also Studiengänge, in denen man linken Gedanken abwartend gegenübersteht, kommen eher selten vor. Weshalb tendieren Geisteswissenschaftler so stark nach links? Die Betroffenen würden vermutlich sagen, weil ihnen die Gerechtigkeit besonders am Herzen liegt. Meine Antwort wäre, dass es sich um eine Art Kompensationshandlung handelt.

Mein Freund Roger Köppel, heute Chefredakteur der „Weltwoche“, hat das einmal so beschrieben: Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Bill Gates zur Schule gegangen. Jetzt sitzen Sie vor dem Fernseher, während eine Dokumentation über Ihren ehemaligen Klassenkameraden läuft. Der Kopf Ihrer Frau dreht sich, sie spüren schon den unausgesprochenen Vorwurf: „Bill Gates hat 50 Milliarden, du hast es nur zum Redakteur einer mittelgroßen Zeitung gebracht, was ist schiefgelaufen?“ Da haben Sie nur eine Chance, wie Sie sich herauswinden können. Sie sagen: „Das stimmt schon, Bill Gates ist viel reicher als ich. Aber ich habe mich nicht korrumpieren lassen. Ich bin nicht zum Kapitalistenschwein geworden.“

Ist es schlimm, dass die Mehrheit der Journalisten mit linken Ideen sympathisiert? Konservative klagen oft über die Voreingenommenheit der Medien. Was die Ungleichbehandlung der politischen Lager angeht, haben sie zweifellos Recht. Als Grüner kann man anstellen, was man will, ohne dass man schlechte Presse fürchten muss. Selbst der größte Unsinn wird mit Nachsicht quittiert. Wenn sich die bayerische Spitzengrüne Katharina Schulze bei „Markus Lanz“ um Kopf und Kragen redet, heißt es anschließend: Okay, der Auftritt war nicht optimal, aber sie ist eine so nette Person, da muss man doch nicht gleich draufhauen.

Die tröstliche Nachricht ist: Die Voreingenommenheit spielt für die Wahlentscheidung eine weit geringere Rolle, als man vermuten sollte. Wäre es anders, hätte Helmut Kohl nie Bundeskanzler werden können. Was wurde der Mann nicht verspottet, als Gimpel, als Tor, als Birne: Trotzdem wählten ihn die Deutschen mit so schöner Regelmäßigkeit, dass sich am Ende kaum noch jemand an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte. Woran man erkennen kann, dass sich die Leute eine eigene Meinung erlauben, allen Kommentaren oder auch Kolumnen zum Trotz.

Es wird übrigens nicht besser werden, was die politische Einseitigkeit angeht, das lässt sich schon jetzt sagen. Als ich auf der Journalistenschule war, gab es wenigstens noch ein paar Leute, die nicht Germanistik studiert hatten. Die sind heute alle verschwunden, in die Kanzleien oder in die Wirtschaftswelt.

Wer heute Journalist wird, muss entweder finanziell unabhängig sein – oder er ist sehr intrinsisch motiviert, also von einem starken Missionsgeist erfüllt. Es ist im Prinzip schön, wenn Menschen von ihrer Sache sehr überzeugt sind. Es kann leider nur furchtbar nerven, wenn sie alle ständig daran teilhaben lassen.

Wann sind wir bloß alle so empfindlich geworden?

Wir sind eine Gesellschaft unter permanentem Entschuldigungszwang. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt. Niemand sagt: „Reiß dich zusammen! Weine woanders!“ Dabei würde genau das helfen

Ein Bekannter erzählte mir beim Abendessen eine Geschichte. Sein Vater traf bei einem Empfang in München auf Gerhard Schröder. Der Abschied aus dem Kanzleramt lag zu diesem Zeitpunkt vier Monate zurück, über die Anschlussverwendung bei Gasprom hatten die Medien breit berichtet. Alle tranken Bier, nur Schröder hielt ein Glas Rotwein in der Hand.

„Na, das hat wohl Gasprom bezahlt“, sagte der Vater, in der Absicht, Schröder zu provozieren. Der erwiderte leichthin: „Wenn Gasprom bezahlt hätte, wäre das Glas deutlich größer.“

Manchmal wünsche ich mir Schröder zurück. Nicht unbedingt seine Politik, obwohl auch die ihre Vorzüge hatte. In jedem Fall aber die Coolness im Umgang mit Vorhaltungen und Kritik an seinem Lebensstil. Uns wird heute gesagt, so wie Schröder dürfe man nicht mehr auftreten. Ich höre schon das Stöhnen derjenigen, die sagen, einer wie Schröder sei völlig aus der Zeit gefallen. Das mag sein, der Mann ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber die Nonchalance, mit der er es ablehnte, sich für sein Verhalten oder seine Ansichten zu entschuldigen, finde ich vorbildlich.

Wir sind eine Gesellschaft unter permanentem Entschuldigungszwang. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt, sodass man aller Welt versichern muss, wie sehr es einem leidtue, welches Unrecht ihm und seinesgleichen widerfahren sei. Niemand sagt: „Reiß dich zusammen! Deal with it! Weine woanders!“ So etwas zu sagen gilt als unschicklich und schrecklich unsensibel.

Der Hang zur Empfindlichkeit ist keine Sache der politischen Präferenz. Was die Kränkungsbereitschaft angeht, hat die Rechte zur Linken aufgeschlossen. Man kann die Empfindlichkeit aber geografisch einengen. Wenn es so etwas wie einen Hotspot des eruptiven Beleidigtseins gibt, dann ist es die Universität. Nirgendwo ist die Wahrscheinlichkeit, einem Menschen mit fragilem Gemüt zu begegnen, größer als auf einem Campus.

Kaum eine Woche, in der nicht irgendwo Studenten die Fassung verlieren, weil entweder jemand auftritt, der nach ihrer Meinung nicht auftreten sollte. Oder weil ein Thema behandelt wird, von dem sie finden, dass es besser unbehandelt bliebe. Vorletzte Woche war es Frankfurt, wo eine Diskussion über das Kopftuch so aus dem Ruder lief, dass die Polizei kommen musste. Davor machte die Hamburger Uni mit Getobe rund um die Vorlesungsreihe des Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke Schlagzeilen.

Es wird auch immer bizarrer. Zum Jahreswechsel kündigte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch den Besuch einer Veranstaltung zu „Klimawandel und Gender“ an der Freien Universität Berlin an. Sie interessiere brennend, was der Klimawandel mit dem Geschlechterverhältnis zu tun habe und ob Männer und Frauen unterschiedlich betroffen seien, schrieb sie. Das war erkennbar ironisch gemeint. Anderseits: Soll man nicht froh sein, wenn eine AfD-Abgeordnete ihr Milieu verlässt, um Neues zu erfahren? Wer weiß, vielleicht hört sie ja Dinge, die sie ins Nachdenken bringen. Man könnte es auf einen Versuch ankommen lassen.

Aber nein, kaum hatte Frau von Storch ihre Ankündigung verbreitet, forderte die Studentenvertretung von der Universitätsleitung ein „klares Zeichen gegen rechte Hetze“ und verlangte ein Hausverbot. Weil selbst in Berlin ein Unipräsident nicht einfach Leute aussperren kann, wie er lustig ist, wurde die Veranstaltung kurzerhand von den Organisatoren abgesagt. Selbstauflösung aus Angst vor der Seminarteilnahme einer bald 50-jährigen Politikerin: Das hat es in der deutschen Universitätsgeschichte noch nicht gegeben, würde ich vermuten.

Wir haben noch nicht amerikanische Zustände, wo sich die Studenten in spezielle Sicherheitszonen flüchten, wenn sie fürchten müssen, mit Gedanken oder Meinungen konfrontiert zu werden, die sie erschüttern könnten. Aber wir sind nicht mehr weit davon entfernt. Aus dem nichtigsten Anlass fallen junge Menschen von einer Ohnmacht in die andere. Wenn nicht gerade irgendwelche Gleichstellungsaktivisten aufschreien, dass man über ihre Gefühle getrampelt sei, findet sich sicher eine feministisch bewegte Person, die geltend macht, dass man sich sexistisch oder rassistisch geäußert habe.

Es nützt einem auch nichts, wenn man zuvor als Kämpfer für die gute Sache hervorgetreten ist. Der Dekan der juristischen Fakultät der Leipziger Universität, Tim Drygala, gilt als aufrechter Mann, seit er sich gegen einen Kollegen stellte, der mit islamfeindlichen Bemerkungen aufgefallen war. Als Drygala Anfang der Woche auf Twitter einen Witz riss, der als unsensibel empfunden wurde, gab es trotzdem kein Pardon.

Der Witz lautete: „In der Revisionsklausur müssten die Frauen eigentlich besser abschneiden. Sie sind geübt darin, anderer Leute Fehler zu finden.“ Das reichte, um den Professor vor den Fakultätsrat zu zerren. Drygala hat jetzt alle Twitter-Aktivitäten eingestellt. Wenn man auf sein Profil geht, erscheint der Hinweis, dass man einem Nutzer zu folgen versuche, den es nicht mehr gebe.

Was ist da los? Eine Erklärung wäre, dass wir es mit einer Generation von Studenten zu tun haben, die durch die Hände sogenannter Helikoptereltern gegangen sind, also Eltern, die überall Gefahren sehen und von morgens bis abends über das Wohlergehen ihrer Kleinen wachen. Dass sich die Überbehütung nachteilig auf die Psyche auswirkt, haben Erziehungswissenschaftler schon länger vermutet. Jetzt ist der Beweis erbracht, würde ich sagen.

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat darauf hingewiesen, dass der Versuch, Kinder vor Nussallergien zu bewahren, indem man Nüsse grundsätzlich von ihnen fernhält, das Gegenteil von dem bewirkt, was man erreichen wollte. Das Immunsystem lernt nicht, dass Nüsse harmlos sind, was wiederum die Zahl der Allergien in die Höhe treibt.

So geht es auch mit Ideen, sagt Haidt. Wer Kinder vor bösen Gedanken schützen will, verhindert, dass sie eine Abwehr aufbauen, die ihnen erlaubt, den Kontakt mit fremden Ideen unbeschadet zu überstehen. Wenn sie dann tatsächlich einmal einer als anstößig empfundenen Meinung ausgesetzt sind, erleiden sie einen Schock. Anstatt ruhig und gefasst Gegenargumente zu sammeln, sind sie nur noch fähig, um Hilfe zu rufen, bis die Polizei kommt.

Was kann man tun? Die naheliegendste Lösung ist, die Frustrationstoleranz zu erhöhen. Wenn sich Kinder auf den Boden werfen und mit den Händen auf den Teppich trommeln, weil man ihnen einen Wunsch versagt hat, soll man ihnen Trost spenden, aber nicht nachgeben. Erwachsenwerden bedeutet zu lernen, sein seelisches Gleichgewicht auch unter widrigen Umständen zu behalten.

Gerhard Schröder hatte übrigens keine einfache Kindheit, er musste sich nach oben durchboxen. Vielleicht ist er deshalb heute von solch heiterer Gelassenheit.

Sieg des Sentimentalismus

Harry und Meghan als Hoffnungsträger aller Opfer von Diskriminierung? Die politische Bewertung des Rückzugs des britischen Adelspaars zeigt, dass es mit den richtigen Sätzen selbst der Multimillionär zum linken Emanzipationssymbol bringen kann.

Eine feste Größe in der Berichterstattung der bunten Blätter ist die reiche, aber unglückliche Frau, die unter den Umständen leidet. Sie mag Millionen auf dem Konto haben und mehr Adelstitel besitzen als andere Leute Unterhemden: Wenn es ums Lebensglück beziehungsweise -unglück geht, ist sie nicht besser dran als du und ich, also ganz nah bei den Lesern.

Das ist selbstredend Quatsch, wie alles, was auf Sentimentalität beruht. Aber es ist tröstlicher Quatsch, deshalb verkauft er sich. Meine linken Professoren hätten gesagt, dass die Regenbogenpresse den Leuten ihre bunten Geschichten unterjubele, damit sie die Machtverhältnisse nicht infrage stellten. Das war vielleicht etwas zu marxistisch gedacht. Sie können sich trotzdem mein Erstaunen vorstellen, als ich jetzt ausgerechnet beim „Spiegel“ auf die linke Version der Herzblatt-Geschichte stieß.

Für jeden klarsichtigen Menschen ist der Privatisierungsentschluss des Herzogs und der Herzogin von Sussex die Folge einer Fehlkalkulation bei der Eheschließung. Für den „Spiegel“-Redakteur Jonas Schaible ist der Rückzug der beiden nach Kanada eine „Botschaft der Selbstfindung, Emanzipation, aber auch der nicht-weißen Vielfalt“, wie es im schönsten Proseminar-Jargon in einer „Analyse“ hieß, die vergangene Woche online ging.

Bündnispartner bei dem Ausbruchsversuch seien nicht die traditionellen Fans des Königshauses, von denen wenig Verständnis zu erwarten sei, ließ der Autor seine Leser wissen. Alliierte seien vielmehr alle, „die nicht in die alten Strukturen der britischen Gesellschaft passen“: Schwarze, Muslime, Frauen, Einwanderer, kurzum diejenigen, die „die Selbstermächtigung eines jeden und einer jeden über das Anspruchsdenken der anderen stellen, die sich von den auferlegten Lebenswelten emanzipieren wollen, die für Antirassismus und Feminismus eintreten“.

Ich bin vor Lachen fast vom Stuhl gekippt, als ich das las. Harry und Meghan als Hoffnungsträger aller Diskriminie- rungsopfer? Wenn es jemanden gibt, der sich vor Bewun- derung nicht retten kann, dann das britische Adelspaar. Es gibt auch nicht viel, was Meghan und Harry mit, sagen wir, einer polnischen Putzfrau oder einem rumänischen Klemp- ner verbindet, außer dass die einen die Steuern zahlen, von denen die andern ihre Häuser renovieren lassen. Aber so nüchtern können selbst linke Journalisten die Dinge im Meghan-Rausch nicht sehen.

In Wahrheit ist der Megxit die Geschichte eines Missverständnisses. Eine junge Frau aus Hollywood verliebt sich in einen Prinzen. Als er ihr die Ehe anträgt, glaubt sie, Disney würde wahr. Dass das Leben als Royal eine endlose Abfolge von Repräsentationsterminen bedeutet, das hat ihr keiner gesagt – oder sie wollte es nicht hören. Morgens Altenheim, mittags Veteranenverband, danach Besuch im Krankenhaus, um den Moribunden Zuspruch zu spenden: So zieht es sich dahin. Dazu eine Presse, die jeden Protokollverstoß hämisch kommentiert. Kein Wunder, dass man da als Hollywood-Aktrice schlecht drauf kommt.

Der Text im „Spiegel“ weist auf ein grundsätzliches Problem hin, deshalb habe ich ihn ausführlicher zitiert. Ich habe die Linke immer für ihren klaren ökonomischen Blick auf die Welt geschätzt. Wer in Interessenlagen denkt, ist relativ immun gegen Sentimentalismus und falsche Solidarität. Leider gibt es die marxistisch geschulte Linke, die in Interessengegensätzen zu denken vermochte, kaum noch. An ihre Stelle ist eine akademische Linke getreten, der die Frage nach der Zugehörigkeit wichtiger ist als jede Klassenfrage.

Was heute unter dem Begriff „Identitätspolitik“ läuft, ist die Aufgabe ökonomischer Kategorien zugunsten von psychologischen. Statt danach zu fragen, wie man für materiellen Ausgleich sorgen kann, kümmert man sich lieber darum, dass jeder sich wertgeschätzt und anerkannt fühlt. Das hat kurzfristig politisch durchaus Vorteile. Anerkennung ist leichter zu organisieren als materieller Aufstieg. Es reicht, dass man die richtigen Worte findet oder Anteilnahme zeigt, wenn jemand es schwer im Leben hat. Billiger ist Fortschritt nicht zu haben, würde ich sagen. Mit den entsprechenden Postings bei Facebook oder Instagram wird selbst die millionenschwere Glamour-Amsel zum Emanzipationssymbol – oder wie es heute heißt: zu einer Botschafterin der „Selbstermächtigung“ und „Selbstverortung“.

Der Nachteil des Strategiewechsels ist allerdings ebenfalls evident. Den Erfolg klassischer Sozialpolitik konnte man am Haushaltseinkommen ablesen und, wenn es gut lief, an den Studienabschlüssen der Kinder. Kultureller Fortschritt ist sehr viel schwerer zu ermessen. Wann kann die schwarze, lesbische Frau muslimischen Glaubens von sich sagen, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist? Wenn niemand sie mehr fragt, wo sie herkommt? Oder wenn die Zahl schwarzer, lesbischer Musliminnen in Vorstandsetagen dem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Gleichberechtigung ist als politisches Programm unendlich, deshalb wächst der Bedarf ja auch mit dem Bemühen um mehr Gerechtigkeit. Es ist kein Zufall, dass noch nie so viel über Benachteiligung geklagt wurde, obwohl sich die Lage von Minderheiten über die letzten 30 Jahre entscheidend verbessert hat.

Vermutlich ist die Vernachlässigung der Klassenfrage der zentrale strategische Fehler der Linken, weil Identitätspolitik ein Gefühl der Solidarität annimmt, das so nicht existiert. Die traditionelle Klientel mag in Wahrheit nicht einsehen, warum sie Mitleid mit Leuten haben soll, deren Lebenswirklichkeit himmelweit von der eigenen entfernt ist.

Nicht jede Verkäuferin zerfließt in Tränen, wenn sie vom Schicksal einer migrantisch bewegten Soziologiestudentin hört, deren größtes Problem im Leben es ist, dass sie öfter danach gefragt wird, woher sie denn stamme. Manche würde gerne mal auf ihren Namen oder ihre vermutete Herkunft angesprochen. Es wäre eine nette Abwechslung in einem ansonsten relativ monotonen Arbeitsalltag.

Ich bin erklärtermaßen Fan des britischen Komikers Ricky Gervais. Bei einer seiner Golden-Globe- Moderationen hat er die Schauspielerin Jennifer Lawrence aufs Korn genommen, die gerade mit der Forderung nach „Equal Pay“ die Herzen der Presse erobert hatte. „Sie bekam Unterstützung von Leuten von überallher“, sagte Gervais. „Es gab Demonstrationen von Krankenschwestern und Fabrikarbeitern, die sich fragten: Wie, in Gottes Namen, kann eine 25-Jährige nur von 52 Millionen Dollar im Jahr leben?“

Als er Anfang des Monats wieder an der Reihe war, endete Gervais seine Moderation mit der Bitte an die Gäste, sich ihre Preise abzuholen und dem Fernsehpublikum ansonsten Kommentare oder politische Statements zu ersparen. „Ich mache mich nicht über Hollywoods Millionäre her, weil sie ein Haufen Linker sind. Ich bin selbst ein Linker“, erklärte er im Anschluss. „Ich habe sie mir vorgenommen, weil sie ihre linken Überzeugungen wie Orden vor sich hertragen.“

Wie rechts darf man als Schriftsteller sein?

Der Schriftsteller als Mahner und kritische Instanz hat in Deutschland eine lange Tradition. Heinrich Böll und Günter Grass haben diese Rolle in Vollzeit bekleidet. Warum reagiert das Feuilleton also so allergisch, wenn der Erfolgsautor Uwe Tellkamp die Tradition wiederbelebt?

Das Lingnerschloss am Dresdner Elbhang ist eine der prachtvollsten Villen in der an Villenpracht reichen Stadt. Von der Terrasse hat man einen imposanten Blick über das Elbtal, entsprechend beliebt ist das zwischen 1850 und 1853 errichtete Palais bei Hochzeitspaaren und Festgesellschaften.

Im Januar sollte hier eine neue, von der Kulturzeitschrift „Tumult“ ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe beginnen. Für die Auftaktveranstaltung hatte man den Autor Uwe Tellkamp verpflichten können, mit einer Lesung aus seinem neuen, noch unveröffentlichten Roman. Doch daraus wurde nichts, und es wird auch nichts daraus werden. Überraschend zog das Lingnerschloss seine Zusage zurück. Die Veranstaltungsreihe und mithin der Auftritt Tellkamps widerspreche dem Neutralitätsgebot, dem man sich verpflichtet fühle, erklärte der zuständige Förderverein.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Vorgang. Tellkamp ist nicht irgendein Autor, sondern der bekannteste Autor der Stadt. Was Günter Grass für Lübeck und Heinrich Böll für Köln, das ist der ausgebildete Chirurg für Dresden. Große Teile seines Erfolgsromans „Der Turm“, der es nach seinem Erscheinen 2008 zu einer schwindelerregenden Auflage brachte, spielen hier. Tellkamp selbst hat von den Tantiemen im Stadtteil Weißer Hirsch eine Souterrainwohnung gekauft, in der er seitdem am Nachfolgebuch arbeitet.

Der Verweis auf ein Neutralitätsgebot, das es zu achten gelte, ist auch deshalb eigenartig, weil der Veranstalter nicht eine politische Veranstaltung, sondern eine Lesung angekündigt hatte. Die Rolle, in der Tellkamp seinem Publikum gegenübertritt, ist die des Schriftstellers, dafür wird er verehrt; dass er sich hin und wieder politisch äußert, ist eher der Gelegenheit geschuldet. Seine politischen Einlassungen sind auch nicht außergewöhnlich. Ausweislich der Umfragen (und der Wahlergebnisse der AfD) teilen über 25 Prozent der Bürger in Sachsen seine Meinung. Außergewöhnlich ist, dass ein Suhrkamp-Autor sich kritisch zur Flüchtlings- oder Europapolitik der Regierung äußert.

Ich habe Tellkamp in den vergangenen zwei Jahren mehrfach getroffen. Das erste Mal sahen wir uns anlässlich einer Lesung in Weimar. Es war Tellkamps erster öffentlicher Auftritt, nachdem er ein paar Monate zuvor bei einer Diskussionsveranstaltung im Dresdner Kulturpalast sein Debüt als Kritiker des Zeitgeschehens gegeben hatte. Tellkamp hatte bei einer Diskussion mit dem Schriftstellerkollegen Durs Grünbein unvorsichtigerweise seine Sympathie für den Teil des ostdeutschen Publikums zu erkennen gegeben, der grundsätzlich mit der Regierungspolitik hadert. Ich meine mich an einen Artikel in einer führenden Zeitung zu erinnern, in dem stand, dass man von nun an keine Tellkamp-Bücher mehr lesen könne.

Der Schriftsteller als Seismograf und gesellschaftlicher Mahner hat in der Bundesrepublik Tradition, so ist es nicht. Ich persönlich habe meine Zweifel, ob Autoren notwendigerweise auch politisch weitsichtige Menschen sind. Nur weil jemand großartig über innere Vorgänge oder menschliche Verwicklungen schreiben kann, ist er nicht automatisch ein besonders scharfsinniger Denker. Doch die Öffentlichkeit billigt dem Autoren eine besondere moralische Kompetenz zu. Vielleicht ist es die Sensibilität, die man Künstlern unterstellt, oder die Leser denken, dass der eher meditative Lebensstil tiefere Einsicht begünstigt.

Im Grunde knüpft Tellkamp also nur an eine Rolle an, die Leute wie Grass und Böll als Vollzeitstelle bekleidet haben. Aber so einfach lässt man ihn nicht davonkommen. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob der kritische Geist von links oder rechts weht.

Ich würde auch immer einwenden, dass es das Privileg des Schriftstellers sei, Unsinn zu verzapfen. Böll hat als Kommentator hanebüchenes Zeug von sich gegeben, ohne dass dieses seinem Ruf als moralischer Instanz Abbruch getan hätte. Unvergessen ist der „Spiegel“-Essay, in dem Böll die erste Generation von RAF-Terroristen als fehlgeleitete Idealisten gezeichnet hatte, die vom Staat in den Untergrund getrieben worden seien. Auch Grass war von erstaunlicher Eigenwilligkeit im Umgang mit Fakten. Erst als er auf seine alten Tage sein Engagement bei der Waffen-SS allzu salopp der eigenen Biografie einzugliedern versuchte, merkten diejenigen im Feuilleton auf, die bis dato jede seiner Einlassungen als gottgleich hingenommen hatten.

Tellkamp ist ein scheuer Mensch. Ihm fehlen das Selbstbewusstsein und die Robustheit des von einer politischen Mission überzeugten Großschriftstellers. Wenn er sich zu Fragen der Einwanderung äußert, dann eher aus Verbitterung über die Hochnäsigkeit, mit der im Westen über die Landsleute geurteilt wird, denen er sich zugehörig fühlt. Dass man den Menschen aus Sachsen and Thüringen den politischen Verstand abspricht, weil sie sich anders äußern, als man es in München oder Hamburg erwartet, erzeugt bei ihm eine Gereiztheit, die sich in impulsiven Gelegenheitsauftritten entlädt.

Als wir im Herbst das letzte Mal sprachen, saß er an der Endfassung seines neues Romans. Die Arbeit sei im Wesentlichen abgeschlossen, sagte er, aber das muss bei ihm nichts heißen. Wer seine Arbeitsweise mit dem von Dombaumeistern vergleicht, denkt in anderen Zeiträumen. Tellkamp las dann aus einem Kapitel, das in einer Außenstelle der „Tausendundeine Nacht“-Abteilung des Verkehrsministeriums spielte, dem der Held zugeordnet ist. Von der Leyen tauchte auf, camoufliert als „Flintenbrigitte“, die Kanzlerin sowie eine Reihe ihrer Vasallen. Wenn man nach den Seiten, die er vortrug, auf das Buch schließen müsste, das dem „Turm“ folgen soll, erwartet den Leser eine ins Dystopische gewendete Vision der Merkel-Jahre.

Bei Suhrkamp lebt man in banger Erwartung des Buchs. Tellkamp gehört zu den wenigen Schriftstellern, die man nicht ins Weihnachtsgeschäft hieven muss, um Auflage zu machen. Die Wahrheit ist, dass viele der Suhrkamp-Autoren Tellkamp ihre Vorschüsse verdanken. Die Geschäftsgrundlage von Buchverlagen beruht auf einer Mischkalkulation, wo die Einnahmen des einen die Honorare der anderen subventionieren. Jemand wie Durs Grünbein, der Tellkamp als „Heimatautor“ verhöhnt, könnte ohne dessen Heimatschriftstellerei niemals von seinen eigenen anämischen Auflagen leben.

Selbstverständlich schlägt der Erfolg nicht zugunsten des Mannes aus Dresden aus. Tellkamp berichtete mir von der Begegnung mit einem Kollegen, der ihm nach dem Auftritt im Kulturpalast damit drohte, man werde dafür sorgen, dass Suhrkamp nichts mehr von ihm drucke, wenn sich so ein Vorgang wiederhole. Eine Art Orwell von rechts ist nicht das, was in der Suhrkamp-Welt geschätzt würde. Man darf vermuten, dass es da noch einen Tanz geben wird.

Der Förderverein des Lingnerschlosses hat jetzt angekündigt, selbstverständlich könne Tellkamp auftreten. Die Ausladung habe sich gegen die Zeitschrift „Tumult“ gerichtet, die die Veranstaltungsreihe ersonnen hatte, nicht gegen den Schriftsteller selbst. Der „Tumult“-Herausgeber Frank Böckelmann kommt übrigens von ganz links. Er hat mit Leuten wie Rudi Dutschke die Studentenrevolte angeführt, bevor er in die Kommunikationswissenschaft abbog. Böckelmann würde vermutlich sagen, dass er sich in seinem politischen Engagement treu geblieben sei. 

Kann uns nur noch die Kernenergie retten?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto. Leider gibt es nach Lage der Dinge nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie

Bei einem Besuch in London habe ich vor einigen Jahren ein Buch mit dem schönen Titel „Strange Days Indeed: The Golden Age of Paranoia“ erstanden. Der Autor Francis Wheen beschreibt darin die seltsam fiebrige Stimmungslage Mitte der siebziger Jahre, als die eine Hälfte im Westen den Untergang der Zivilisation wegen der Hippie-Kultur für unausweichlich hielt und die andere Hälfte die Menschheit den Atomtod sterben sah. Auf dem Rückumschlag ist ein Mann abgebildet, der an einem Strand an lauter Badenden mit einem Schild vorbeiläuft, auf dem „The End Is Near“ steht.

Die Untergangsangst ist zurück. Selbst kluge Köpfe sind von der Überzeugung befallen, dass das Ende der Menschheit kurz bevorstehe, diesmal nicht wegen der Atom-, sondern wegen der Klimakatastrophe. Sie könne weinen, wenn sie daran denke, wie gering die Chancen ihrer Tochter seien, anno 2076 60 Jahre alt zu werden, schrieb neulich Marina Weisband, eine durchaus nachdenkliche Frau, die sich nach ihrem Ausscheiden bei den Piraten als Digitalexpertin einen Namen gemacht hat.

Lassen Sie uns nicht darüber diskutieren, wie berechtigt oder unberechtigt Ängste sind. Ich selbst halte es für extrem unwahrscheinlich, dass die menschliche Rasse ab dem Jahr 2076 nicht mehr existieren wird. Menschen neigen nun einmal zu Zwangsvorstellungen. Eine Freundin von mir kann über keine Brücke fahren. Sie ist von der Angst geplagt, dass die Brücke in dem Moment, in dem sie darüberfahren würde, einstürzen könnte, deshalb nimmt sie bei Reisen entsprechende Umwege in Kauf. Es ist völlig sinnlos, sie auf die Unwahrscheinlichkeit des von ihr befürchteten Ereignisses hinzuweisen.

Nehmen wir also an, wir alle seien dem Hitzetod geweiht. Wäre es dann nicht an der Zeit, über die einzige Maßnahme nachzudenken, die geeignet ist, das Schicksal abzuwenden? Nach Lage der Dinge gibt es nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie. Was die CO2-Bilanz angeht, ist die Kernkraft sogar der Solarenergie überlegen. Nur Windenergie und Wasserkraft können klimapolitisch mithalten.

Wo ich mit den Apokalyptikern übereinstimme, ist der Pessimismus, die Erderwärmung ließe sich durch Selbstdisziplin begrenzen. Ich glaube, Leute wie Marina Weisband haben zu 100 Prozent Recht, wenn sie der Politik die Fähigkeit absprechen, das Ruder noch rechtzeitig herumzureißen. Bis wir so weit sind, dass wir den Laden mit Sonne und Wind am Laufen halten, sind die Eisberge längst geschmolzen.

Ich kenne alle Argumente gegen die Nutzung der Kernenergie. Die Frage der Müllentsorgung ist nicht hinreichend geklärt. Es gab in der Vergangenheit mehrere schwere Unfälle. Aber wenn ich davon ausgehe, dass nur wenige Monate bleiben, um zu verhindern, dass die Erde unbewohnbar wird, ist es dann nicht klüger, auf eine Technologie zu setzen, bei der nur ein theoretisches Risiko besteht, dass sie uns im Stich lässt?

Bislang hieß es: Ja, sicher, dass sich Tschernobyl oder Fukushima wiederholen, ist extrem unwahrscheinlich – aber ein Atomunfall reicht, um einen ganzen Landstrich zu verwüsten. Dieses Argument hat sich erledigt. Wenn wir weitermachen wie bisher, so sagen uns die CO2-Experten, dann ist nicht nur ein Landstrich verwüstet, sondern der ganze Globus.

Auch an der Kernkraft ist der Fortschritt nicht vorbeigegangen, das kommt hinzu. Die neuen Meiler haben mit den alten AKWs, von denen bei uns die letzten 2022 außer Betrieb gehen, kaum etwas gemein. Moderne Reaktoren, die auf flüssiges Natrium als Kühlmittel setzen, wären in der Lage, aus abgebrannten Brennelementen Energie zu gewinnen, was auch den Blick auf das Problem mit dem Atommüll schlagartig ändert.

Tatsächlich kommt eine ganze Reihe von Experten zu dem Schluss, dass nur eine Renaissance der Atomenergie uns vor einem globalen Anstieg der Temperaturen bewahren kann. Selbst Greta Thunberg hat in einem unbedachten Moment zu erkennen gegeben, dass sie in der Kernkraft einen positiven Beitrag sieht. „Atomkraft kann laut Weltklimarat IPCC ein kleiner Teil einer großen neuen, kohlenstofffreien Energielösung sein“, postete sie auf Facebook. Sie hat das dann mit Rücksicht auf die Befindlichkeit der „Fridays for Future“-Aktivisten relativiert, indem sie ein paar Tage später hinzusetzte, sie persönlich sei natürlich gegen die Kernkraft. Aber das war eher ein taktisches Manöver.

Es ist mitnichten so, dass die Kernenergie tot ist. Sie spielt nur in Deutschland keine Rolle mehr. Schon ein paar Kilometer jenseits der deutschen Grenze, in Frankreich, stehen die ersten von insgesamt 58 Reaktorblöcken, von deren Stromerzeugung wir übrigens unmittelbar abhängen, wenn bei uns der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Auf der anderen Seite, in Tschechien, verrichten insgesamt sechs Atommeiler ihren Dienst, ohne dass jemand daran denkt, sie abzuschalten.

So kann man fortfahren: Schweiz fünf Meiler, Belgien und Spanien je sieben. Selbst das wegen seiner Klimaneutralität gelobte Schweden mag nicht auf die Kernenergie verzichten. In Finnland, das bereits über vier Reaktoren verfügt, wird gerade um einen Neubau gerungen.

Ich habe Angela Merkel vor ein paar Jahren einmal gefragt, was sie dazu bewogen habe, über Nacht die deutsche Energiepolitik umzustoßen. Im Nachhinein ist die Entscheidung, das Land vom Atomstrom abzukoppeln, möglicherweise der schwerwiegendste Fehler ihrer Regierungszeit.

Auch sie habe es mit der Angst zu tun bekommen, als sie die Bilder aus Fukushima gesehen habe, gab die Kanzlerin als Antwort. Das fand ich für eine Frau, der man nachsagt, kühl kalkulierend auf die Welt zu sehen, eine bemerkenswerte Aussage. Es wurde dann im weiteren Verlauf der Diskussion noch etwas hitzig, weil ich erwiderte, dass ich nicht gedacht hätte, dass eine CDU-Kanzlerin einmal wie Claudia Roth reden würde.

Vielleicht hat Angela Merkel mit ihrer Entscheidung auch einfach der deutschen Gemütslage Rechnung getragen. Die Wahrheit ist ja, dass von den Unionsanhängern unter dem Eindruck von Fukushima ebenfalls eine Mehrheit für die Sofortabschaltung aller hiesigen Kernkraftwerke war. Es ist in Japan kein Anwohner wegen Strahlen gestorben, die Toten waren alle Opfer des Tsunamis. Aber was zählen schon Zahlen, wenn das Gefühl regiert?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto, der Widerwille gegen das Tempolimit und die besondere Wertschätzung von schön dicht schließenden Fenstern. Man kann das auch politisch einordnen. Je weiter jemand nach links tendiert, desto größer seine Strahlenangst, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in jedem sozialdemokratischen Haushalt eine große Sache war, wie ich aus eigenem Erleben weiß.

Vielleicht sollten wir die Klimakrise nutzen, an uns selbst zu arbeiten. Manchmal führt eine Krise ja dazu, dass man über sich selbst hinauswächst. Das gilt auch für Nationen.

Das Ende der Biologie

Wie viele Geschlechter gibt es? Sind es drei, fünf oder sogar 60? In jedem Fall haben Mann und Frau als Kategorien ausgedient. Wer heute noch an die Biologie glaubt, ist ein Hinterweltler, Düber den man nur den Kopf schütteln kann 

Die Kinderbuchautorin Joanne K. Rowling hat sich zu Fragen der Biologie geäußert. Rowling ist Mutter dreier Kinder, außerdem die Erfinderin der Harry-Potter-Welt. Dass sie drei Kinder großgezogen hat, erwähne ich, weil niemand, der Kinder hat, an den Grundfragen des Lebens vorbeikommt, wie erfolgreich er oder sie auch sein mag. Rowling hat geschrieben, dass sie nach wie vor davon ausgehe, dass es Männer und Frauen gebe und dass für sie das biologische Geschlecht nichts Erfundenes sei, sondern real.

Ich wurde darauf aufmerksam, weil sich augenblicklich ein Sturm der Entrüstung erhob. Wer wie die britische Autorin behaupte, dass es nur zwei Geschlechter gebe, werte Transmenschen ab, hieß es. Ihre Äußerung sei diskriminierend und perfide. Es folgte der Aufruf zum Boykott ihrer Bücher.

Frau Rowling wird den Aufruf, ihre Bücher zu meiden, verschmerzen können. Ich finde den Fall bemerkenswert, weil er zeigt, wie selbstverständlich in einem Teil der akademischen Linken die Vorstellung geworden ist, die Unterscheidung in Mann und Frau sei eine rückständige, um nicht zu sagen repressive Idee, die kein aufgeklärter Mensch mehr vertreten könne.

Die Frage, ob es mehr als Mann und Frau gibt, beschäftigt die akademische Öffentlichkeit schon seit Längerem. Der Theorie zufolge, die Einzug in die Seminarräume gehalten hat, ist Geschlecht nichts, was man vorfindet, so wie Gene oder Hormone, sondern Definitionssache und damit eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft. Wie viele Geschlechter es gibt – ob es drei sind, fünf oder wie bei Facebook 60 –, das ist Teil der akademischen Debatte. Aber dass die sogenannte binäre Ordnung der Vergangenheit angehöre, darüber besteht Einigkeit.

Man darf sich nicht täuschen: Nur weil etwas absonderlich wirkt, heißt das nicht, dass es nicht Wirkung entfalten kann. Tatsächlich hat kaum eine Disziplin eine solche Karriere hingelegt wie die Gender-Wissenschaften, wobei man von Wissenschaften im engeren Sinne eigentlich nicht sprechen kann. Keine der vorgetragenen Thesen hält einer Überprüfung durch die Biologie oder die Neurowissenschaften stand.

Im Grunde funktionieren die „Gender Studies“ wie Homöopathie. Es existiert eine Reihe von Hypothesen und Annahmen, die nicht durch das Prinzip von Bestätigung oder Falsifikation, sondern allein durch Wiederholung Wahrheitskraft erlangen. Dennoch gibt es inzwischen in Deutschland über 150 Lehrstühle.

Wie bei allen Theorien, die lange genug im Umlauf sind, verselbstständigt sich die Sache irgendwann. Aus Lübeck erreicht uns zum Jahreswechsel die Nachricht, dass die Stadtverwaltung einen Leitfaden zur „gendersensiblen Sprache“ verfasst hat, damit sich alle Bürger angesprochen fühlen, auch jene, „die sich nicht als Frau oder Mann beschreiben“. Bevor Mitarbeiter der Stadt in näheren Kontakt mit einem Lübecker treten, sollen sie zuerst ermitteln, welches Geschlecht der oder diejenige bevorzugt. Die Empfehlung zur Ansprache lautet: „Guten Tag Name Vorname, wie darf ich Sie in Zukunft ansprechen?“

Selbst in bayerischen Gemeinden wird inzwischen überlegt, ob man in Grundschulen nicht Toiletten für das dritte Geschlecht einführen sollte, also für Kinder, die angeblich nicht genau sagen können, ob sie nun Jungen oder Mädchen sind oder das nicht sagen wollen.

Wenn ich im Gemeinderat von Taufkirchen säße, würde ich mir die Frage stellen, ob es ein einziges Kind gibt, das durch den Toilettengang dokumentieren will, dass es grundsätzlich anders ist als alle anderen. Der sicherste Weg, zum Mobbing-Opfer zu werden, besteht doch darin, sich als Außenseiter zu outen. Aber solche Überlegungen spielen keine Rolle, wenn es darum geht, sich als aufgeschlossen und aufgeklärt zu beweisen. Vermutlich kämen die Gemeindemitglieder arg ins Schwimmen, wenn sie sagen sollten, was genau sie unter dem drittem Geschlecht verstehen. Sind Intersexuelle gemeint, also Menschen, die beide Geschlechtsmerkmale besitzen und deshalb wirklich nicht sagen können, ob sie Mädchen oder Junge beziehungsweise Frau oder Mann sind? Die Zahl ist allerdings sehr gering. Der Prozentsatz von Kindern, die als Zwitter geboren werden, liegt deutlich unter 0,1 Prozent.

Oder sind vielmehr Transsexuelle das Ziel der Baumaßnahme? Dann allerdings wäre die Investition in gesonderte Toiletten für die Katz. Der Transsexuelle besteht ja gerade darauf, ein Mann oder eine Frau zu sein, nur unglücklicherweise im falschen Körper beheimatet. Dass die Krankenkasse die Kosten für eine Geschlechtsumwandlung übernimmt, lässt sich nur damit begründen, dass Geschlecht eben keine Frage der Definition, sondern eine der Hormone ist. Wäre es anders, könnte man sich die Kosten für die Behandlung sparen. Dann müsste man dem Transsexuellen lediglich sagen, dass die binäre Ordnung ohnehin passé sei.

Je ausführlicher man sich mit der Materie beschäftigt, desto verwirrender wird es. In Kanada ist eine Gender-Aktivistin vor Gericht gezogen, weil sich die Mitarbeiterinnen mehrerer Schönheitsstudios geweigert hatten, ihr die Hoden zu wachsen. Die Aktivistin machte geltend, die Weigerung stelle eine Diskriminierung als Frau dar. Der Komiker Ricky Gervais hat die Geschichte zum Teil seines Stand-up-Programms gemacht, womit er sich augenblicklich den Vorwurf der Minderheitenfeindlichkeit einhandelte.

Manchmal lohnt es sich, ein wenig Abstand zu gewinnen. Ich bin seit zwei Wochen in Kenia und Tansania unterwegs. Ich kann natürlich nicht genau einschätzen, wie viele Menschen hier der Meinung sind, dass eine Romanautorin verdammt gehört, weil sie nach wie vor an die Biologie glaubt. Meine Vermutung wäre: Es sind weniger als 0,1 Prozent. Die meisten Menschen, die in Afrika leben, wissen noch nicht mal, was ein Gender-Stern ist. Würde man ihnen sagen, dass sich Frau und Mann als Geschlechter überholt haben, würden sie nur den Kopf über den verrückten Weißen schütteln.

In Wahrheit lassen sich die Zentren der neuen Geschlechtertheorie auf einer Weltkarte relativ gut eingrenzen. Es sind die amerikanischen Hochschulen an den beiden Küsten der USA sowie die europäischen Universitätsstädte, wobei Deutschland als Verbreitungsgebiet besonders hervorsticht. Was zu einer interessanten Frage führt: Wenn die Gender-Theorie den Anspruch erhebt, für alle Menschen zu gelten, muss man dann nicht unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass die Bewohner Afrikas besonders rückständig sind?

Vielleicht sollten die Vertreter der „Gender Studies“ mal mit den Kollegen von den „Kolonialismusstudien“ reden. Eine Tür weiter könnte man ihnen sagen, warum die Zeiten, als man im Westen glaubte, dem Rest der Welt überlegen zu sein, eigentlich vorbei sind.

Die große Bildungsillusion

Immer mehr Schüler haben Abitur, die Zahl der Einser-Abiturienten steigt und steigt. Was nach einem großen Erfolg der Bildungspolitik aussieht, ist in Wahrheit das Ergebnis eines kleinen, aber entscheidenden Tricks

Sind Menschen in Ländern, die von der SPD regiert werden, dümmer als anderswo und wählen daher SPD? Oder werden sie dümmer, weil die SPD regiert, und schneiden deshalb bei Bildungstests schlechter ab?

Seltsame Frage, werden Sie jetzt vielleicht sagen: Wie kommt Fleischhauer denn darauf? Ganz einfach, wäre meine Antwort: Ich habe mir die Ergebnisse der Studien angesehen, in denen der Kenntnisstand von Schülern ab der vierten Klasse erhoben wird. Überall, wo die SPD regiert, hängen die Kinder hinterher. Es gibt also, so muss man daraus schließen, einen Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Bildungsniveau.

Man kann es auch konkret machen: In Bayern und Sachsen schneiden Schüler mit weitem Abstand am besten ab. In Schleswig-Holstein, Hessen und dem Saarland sind die Ergebnisse immer noch sehr manierlich. Weit hinten liegen regelmäßig Berlin, Bremen oder das schöne Rheinland-Pfalz, egal, ob man nun nach den Rechenkünsten oder dem Lesen fragt.

In Bremen hinken die Schüler ihren Altersgenossen im Süden leistungsmäßig ein Jahr hinterher. Was umgekehrt bedeutet: Wer in Bayern lebt, kann sein Kind jede Woche einen Tag zu Hause lassen, ohne dass es auffallen würde, wenn er nach der Grundschule in den Norden zöge. Vielleicht sollte man die Teilnahme an „Fridays for Future“ vom Wohnort abhängig machen: Demo-Verbot für alle SPD-regierten Länder. Dann haben sie dort möglicherweise endlich eine Chance, zu Bayern und Sachsen aufzuschließen.

Bildungspolitik ist ein vernachlässigtes Feld. Dabei ist das, was an den Schulen geschieht (oder vielmehr: nicht geschieht), für die Zukunft des Landes mindestens so bedeutsam wie die Frage, wie viele Kohlekraftwerke das Land verträgt. Was wir heute nicht in die Köpfe der Kinder bekommen, werden wir auch in 20 Jahren dort nicht vorfinden.

Hin und wieder steigen aus dem Schulalltag beunruhigende Nachrichten auf. Vergangene Woche machte das Ergebnis der neuesten Pisa-Untersuchung die Runde, wonach jeder fünfte Jugendliche im Alter von 15 Jahren schon bei einfachen Satzkonstruktionen an seine Grenzen stößt. Aber das beschäftigt die Medien gerade mal einen Tag, dann sind sie wieder beim Klimagipfel in Madrid oder dem Wunschzettel der SPD für die große Koalition.

Manchmal gibt es Streit. Bayern und Baden-Württemberg haben ankündigt, den Nationalen Bildungsrat zu verlassen. Ich habe nicht ganz verstanden, worum es geht. Offenbar fürchten die Bayern, dass es an bayerischen Schulen bald so zugehen könnte wie im Rest der Republik, wenn sie einem zentral ausgehandelten Abitur zustimmen.

Mich macht schon mal misstrauisch, wenn ausgerechnet der Berliner Bürgermeister Michael Müller von einem Affront spricht. Ich habe zehn Jahre lang in Berlin gelebt, ich kenne die Berliner Schullandschaft aus eigener Anschauung. Lassen Sie es mich so sagen: Man kann auch in Berlin für seine Kinder eine gute Schule finden. Man muss allerdings sehr lange Fahrwege in Kauf nehmen.

Ich glaube, Bildung ist deshalb kein großes Thema, weil im Prinzip alles zu laufen scheint. Immer mehr Schüler haben Abitur. Inzwischen verlässt fast jeder zweite Jugendliche die Schule mit dem Ausweis der Hochschulreife. Die Schüler werden auch immer besser. Die Zahl der Einser-Abiturienten ist binnen zehn Jahren von 20 auf 25 Prozent gestiegen. Was zwei Deutungen zulässt: Wir haben es heute mit der klügsten Generation zu tun, die jemals in Deutschland zur Schule gegangen ist. Oder jemand hilft nach, und damit meine ich nicht den Nachhilfelehrer. Die Lebenserfahrung spricht für die zweite Annahme.

Ich habe mich darüber lange mit dem Frankfurter Didaktikprofessor Hans Peter Klein unterhalten. Klein ist Biologe. Zur Bildungspolitik kam er, weil er jedes Jahr in seinen Vorlesungen mit den Absolventen der deutschen Bildungsanstalten zu tun hat. Vielen Erstsemestern fehlen heute selbst Grundkenntnisse, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich waren. Die Durchfallquoten im Grundstudium nähern sich in einigen Fachbereichen dem Wert von 70 Prozent. Also begann Klein sich für die Frage zu interessieren, was im Abitur eigentlich geprüft wird.

Die erste Erkenntnis war: Die Kultusminister sind dazu übergegangen, den Schwerpunkt von der Vermittlung von Wissen auf die Vermittlung von Kompetenz zu verlagern. Im Abitur wird folgerichtig nicht mehr geprüft, was jemand an Wissen erworben hat, sondern ob der Prüfling in der Lage ist, Wissen anzuwenden. Das ist weit mehr als eine semantische Nuance, es ist eine fundamentale Änderung des Bildungsauftrags.

Wenn nicht der Erwerb von Wissen, sondern die Anwendung von Wissen entscheidend ist, müssen sich die Fragestellungen ändern. Klein hat eine Reihe von Abituraufgaben zusammengetragen, an denen man sehen kann, dass in der Frage bereits alle für die Antwort wichtigen Informationen enthalten sind. Es reicht also, die Aufgabe aufmerksam zu lesen, um zum richtigen Ergebnis zu kommen.

Weil ihm niemand so richtig glauben wollte, dass man heute auch ohne Kenntnisse in der Sache durch eine Prüfung kommt, hat Klein in einer Art Guerilla-Experiment die Abituraufgabe im Fach Biologie in Nordrhein-Westfalen einer neunten Klasse vorgelegt. Das Ergebnis: vier Fünfer, 14 Vierer, fünf Dreier, drei Zweier und eine Eins. Womit bewiesen wäre, dass in NRW jeder, der Lesen und Schreiben kann, theoretisch in der Lage ist, die Hochschulreife zu erwerben.

Den Kultusministern ist es natürlich unangenehm, wenn die Bildungsillusion auffliegt, deshalb machen sie ein großes Geheimnis ums Abitur. Wie groß die Bildungsunterschiede in Deutschland sind, fällt nur dann wirklich auf, wenn ausnahmsweise einmal ungestützt gefragt wird, was ein Kind weiß. Eines der Bundesländer, die sich der Bildungsschummelei verweigert haben, ist Bayern. Auch in Sachsen und Baden-Württemberg hält man das Pauken von Zahlen und Fakten nicht per se für einen Zopf, der eingemottet gehört.

Viele Reformer klagen seit Langem darüber, dass die Bildungspolitik Ländersache ist. Kaum ein Reformaufruf kommt ohne die Forderung aus, endlich die Kleinstaaterei in der Bildung zu beenden. Ich bin da entschieden anderer Meinung. Dass in einigen Bundesländern die Kinder noch etwas lernen, das über den Erwerb von „Kompetenz“ hinausgeht, haben wir allein dem Föderalismus zu verdanken.

Wir hätten heute überall Berliner Verhältnisse, wenn die Bundesregierung auch in der Schulpolitik entscheiden dürfte. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Sozialdemokratisierung der Gesellschaft hätte ausgerechnet vor dem Gymnasium halt gemacht?

Der eigentliche Skandal guter Bildung ist, dass sie Unterschiede besonders sichtbar macht und gerade nicht nivelliert. Das mittelbegabte Kind wird mit der richtigen Förderung besser, das überdurchschnittlich intelligente wird seinen Klassenkameraden weit enteilen. Schule kann immer nur das fördern, was bereits da ist.

Deshalb steht die Gemeinschaftsschule links der Mitte ja auch so hoch im Kurs: Lieber alle gleich schlecht als die einen schlecht und die anderen sehr gut.