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Der Drift: Wie aus dem Top-Beamten Maaßen der große Aussätzige der Politik wurde

Wie gerät einer der besten Juristen des Landes zur Überzeugung, die Regierung arbeite an einem verschwiegenen Plan, das deutsche Staatsvolk durch Migranten zu ersetzen?

In der CDU würden sie gerne ihr Parteimitglied Hans-Georg Maaßen loswerden. Am Montag hat man ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder er geht freiwillig oder man will ihn zum Parteiaus-tritt zwingen.

Die SPD hat drei Anläufe gebraucht, um Thilo Sarrazin aus der Partei auszuschließen. Über zehn Jahre zog sich das Verfahren hin. Der Parteivorstand hatte dazu einen eigenen Stab eingerichtet und mehrere Anwälte engagiert. Wir werden sehen, ob die CDU mehr Glück hat. Aber die entscheidende Botschaft kommt auch so an: Mit diesem Kerl wollen wir nichts mehr zu tun haben! Maaßen ist jetzt endgültig Persona non grata, der große Aussätzige der deutschen Politik.

Ich kenne Maaßen aus der Zeit, als er noch Verfassungsschutzpräsident war. Wenn er in München zu tun hatte, rief gelegentlich sein Büroleiter an, ob man sich nicht sehen wolle. Ich habe Maaßen von diesen Begegnungen als jemand in Erinnerung, der die Dinge in kühler Schärfe betrachtete, konservativ, sicher, aber eher zurückhaltend im Urteil. Der Mann, den ich kannte, war alles andere als ein Fanatiker.

Etwas ist in der Zwischenzeit passiert. Und damit meine ich nicht den Verlust seines Postens als Verfassungsschutzchef. Er hängt komischen Ideen an und lässt sich mit komischen Leuten ein.

Das erste Mal, als ich mich fragte, „Was ist denn da los?“, war vor anderthalb Jahren. Da stieß ich in der „FAZ“ auf einen Text, der einen Ausflug in die Gedankenwelt des Jungpolitikers Maaßen unternahm. Der Artikel führte aus, dass Maaßen zur Überzeugung gelangt sei, dass eine Elite von „Wirtschaftsglobalisten“ daran arbeite, eine Herrschaft der 1000 reichsten Familien der Welt zu errichten – mit Unterstützung durch das Weltwirtschaftsforum in Davos und, überraschende Pointe, durch die Grünen.

„Globalisten?“, dachte ich. So reden sie doch normalerweise in den Kreisen, in denen man sich zuraunt, dass in Wahrheit eine kleine Clique von Finanzjongleuren an der Wall Street die Fäden in der Hand halte.

Es ist seitdem nicht besser geworden, soweit man das beurteilen kann. Maaßen hinterlässt auf Twitter Beiträge, die so schräg sind, dass er sie anschließend schnell wieder löscht. Er empfiehlt Videokanäle, in denen über Chemtrails gefaselt wird und darüber, dass Deutschland ein Vasallenstaat der Amerikaner sei.

Auch seine Sprache hat sich verändert. Journalisten nennt er jetzt grundsätzlich „Gesinnungsjournalisten“, ohne diesen Zusatz kommt er nicht mehr aus. Die andere Lieblingsvokabel ist „öko-woke“, wie in: „öko-woke Juristen“, „öko-woke Medien“ oder „öko-woke Gegenseite“. Mir gehen die Grünen auch furchtbar auf den Zeiger, aber ich würde mir schon aus stilistischen Gründen Varianten der Kritik überlegen. Man gewinnt nicht an Überzeugungskraft, wenn man sich sprachlich versteift.

Ist Maaßen ein Rassist oder Antisemit, wie ihm unterstellt wird? Dafür gibt es keine Belege, jedenfalls sind bislang keine überzeugenden präsentiert worden. Aus der Tatsache, dass jemand anderen vorwirft, sie würden einer rassistischen Idee anhängen, lässt sich nicht im Umkehrschluss folgern, dass er selbst Rassist sei. Wäre es so, müsste man große Teile der Linken des Rassismus verdächtigen. Unstreitig ist hingegen, dass sich bei Maaßen die Vorstellung festgesetzt hat, die Regierung arbeite heimlich an einem Austausch des deutschen Staatsvolkes. Das scheint sich bei ihm zur fixen Idee entwickelt zu haben.

Wenn ich mir Robert Habeck und Annalena Baerbock anschaue, dann sehe ich zwei Politiker, die sich mehr oder weniger erfolgreich bemühen, nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Selbst wenn sie den Wunsch hätten, die Deutschen durch den Zuzug arabischer Großfamilien zu ersetzen, wären sie mit der Umsetzung heillos überfordert. Mir ist es ein Rätsel, wie man auf so einen Quark kommen kann. Klar, wenn man seine Abende im Kreis rechter Spökenkieker verbringt, dann ja. Aber als einer der besten Juristen des Landes, der gewohnt ist, die Dinge von der kalten Warte des Rechts zu beurteilen?

Wie soll man diese Reise an den Rand des politischen Spektrums nennen? „Selbstradikalisierung“ ist ein Begriff, der sich anbietet. Aber trifft er? Radikalisierung beginnt ja immer bei einem selbst. Es ist eher ein Abdriften. Eine merkwürdige Verschiebung und Verengung der Perspektive, die einen nur noch Dinge sehen lässt, die andere nicht sehen – was einen dann umso mehr anstachelt.

Ich habe das schon einmal erlebt, bei meinem langjährigen Freund Matthias Matussek. Matussek war einmal einer der berühmtesten Reporter des Landes. Egal, ob er über Prinzessin Di oder Heinrich Heine schrieb: Es waren Texte zum Niederknien, kraftvoll, witzig, mit plötzlichen Wendungen ins Unvermutete, dem Autor in ihrer Unberechenbarkeit nicht unähnlich. Und heute? Sitzt er in einem Kaff irgendwo an der Schlei und schreibt Putin-Apologien. Vom Freigeist zum Bänkelsänger des Autoritären – weiter kann man sich von seinen alten Lesern nicht entfernen.

Am Anfang des Drifts steht meist eine Kränkung, ein Unglück, das einen nicht mehr loslässt und den Blick verengt. Bei Maaßen war es die Entlassung als Chef des Verfassungsschutzes. Wo es nur noch Schwarz oder Weiß gibt, werden auch die imaginierten Gefahren immer größer. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass Deutschland dem Untergang geweiht ist, finden Sie jeden Tag Belege, die Sie in Ihrer Einschätzung bestätigen.

Viele Anwürfe sind ungerechtfertigt, das gilt auch im Fall Maaßen. Man ist heute schneller Nazi, als man Papp sagen kann. Aber statt den Anschluss zurück zur Mitte zu suchen, indem man einlenkt, verführt der Drift dazu, sich immer weiter nach außen zu bewegen. Jede Geste des Entgegenkommens gilt nun als Opportunismus, jedes Einlenken als Verrat. Das Paradoxe ist: Die Gegner legen es genau darauf an. Sie sagen zwar, sie wünschten, der Angegriffene würde Einsicht zeigen, aber in Wahrheit kann er ihnen keinen größeren Gefallen tun, als sich immer weiter an den Rand zu begeben.

Es gibt natürlich auch Fans. Auf jeden Hater kommen zwei, die „Halte durch!“ rufen. Das macht es allerdings nicht besser, im Gegenteil. Maaßen könnte, wenn er wollte, morgen bei der AfD anheuern. In dieser Szene ist er ein Held. Aber er will die Reputation nicht verlieren, die mit einer Mitgliedschaft in der CDU einhergeht. Deshalb klammert er sich an sein Parteibuch. Es ist das Letzte, das ihn mit der Welt, aus der er kommt, verbindet.

Was kann man gegen den Drift tun? Wenn ich ein Entradikalisierungsprogramm auflegen sollte, dann wäre meine erster Tipp: öfter Twitter ausschalten und stattdessen mehr meditieren. Meine zweite Empfehlung: den Kontakt zu Menschen halten, die ganz anders denken als man selbst.

Ich bin bis heute mit einer Reihe von Leuten verbunden, die knalllinks sind und mich das auch bei jeder Gelegenheit wissen lassen. Es gibt Menschen, die stolz sind, das halbe Internet gesperrt zu haben. Ich gehöre nicht dazu. Ich empfand es noch nie als Vorteil, nur das zu hören, was ich bereits kenne. Es ist zugegeben manchmal etwas anstrengend, aber es bewahrt vor größerem Unfug.

Man mag zu dem Ergebnis kommen, dass Maaßen einen Knall hat. Aber die Politik hält aus gutem Grund auch für Knallköppe einen Platz bereit. Das Haus des Herren hat viele Zimmer, das gilt zumal für Parteien. Deshalb sind ja auch die Hürden bei einem Ausschluss so hoch.

Ich wage die Prophezeiung, dass bei einem Parteiordnungsverfahren nicht viel herauskommen wird. Vermutungen reichen nicht vor Gericht, auch nicht vorm Partei-gericht. Außerdem kann Maaßen darauf verweisen, dass er mit fast allem, was ihm zur Last gelegt wird, unbehelligt bei der Linkspartei oder Teilen der SPD weitermachen könnte. Das wilde Herumfuchteln mit der Rassismuskeule, die merkwürdige Theorie, dass die USA uns in den Krieg treiben, damit wir uns von Russland entfremden und die Amis uns wieder dominieren können: All das findet sich auch links der Mitte.

Wenn die vergangenen Monate eines gezeigt haben, dann, wie nahe sich ganz links und ganz rechts sind. Das Hufeisen ist in Wahrheit ein Kreis.

© Michael Szyszka

Alles gewusst, alles vorausgesehen

Wenn es einen Preis für Selbstgerechtigkeit gäbe, Angela Merkel würde ihn mühelos gewinnen. Sie verpasst keine Gelegenheit, um zu sagen, wie sehr sie mit sich im Reinen sei. Und nun kommen auch noch die Memoiren!

Vor vier Monaten saß Angela Merkel im Berliner Ensemble und sagte, sie werde nach ihrem Abschied aus dem Kanzleramt nur noch Wohlfühltermine wahrnehmen. Das war eine kleine Gemeinheit gegenüber dem neben ihr sitzenden Reporter Alexander Osang, weil man sich unwillkürlich fragte, ob der Gesprächsabend mit ihm auch schon als Wohlfühltermin angelegt war. Aber man durfte ihre Aussage so verstehen, dass sie sich in Zukunft rarmachen würde.

Leider hat sie sich nicht daran gehalten. Es vergeht keine Woche, ohne dass die Kanzlerin a.D. nicht irgendwo auftaucht und Ratschläge erteilt. Ende September war sie bei der Eröffnungsfeier der Kohl-Stiftung in Berlin, wo sie über sich, Kohl und Putin sprach. Dann hielt sie die Festrede zum 1100-jährigen Stadtjubiläum in Goslar, natürlich mit einem Blick nach Russland. Dann eine Woche später schon die nächste Festrede, diesmal anlässlich des 77. Geburtstags der „Süddeutschen Zeitung“, ebenfalls unter Berücksichtigung des deutsch-russischen Verhältnisses.

Zwischendurch war sie in New York, um den Preis des UN-Flüchtlingswerks für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise entgegenzunehmen, gefolgt von einem Auftritt in Lissabon, wo sie erklärte, weshalb sie ihre Entscheidung, bei der Energieversorgung ganz auf Russland zu setzen, in keiner Weise bereue.

Sie will recht behalten. Unbedingt.

Wandel durch Handel? Hat sie nie dran geglaubt. Putin als Kriegsherr? Hat sie sich nie Illusionen gemacht. Der Überfall auf die Ukraine? Hat sie lange kommen sehen.

Natürlich weiß sie auch genau, wie man es besser machen müsste. Den Verantwortlichen in der Regierung rät sie, mehr Führung zu zeigen. Für die Außenministerin hält sie den Ratschlag bereit, schon jetzt daran zu denken, wie man Russland wieder in die europäische Sicherheitsarchitektur einbinden könne. Das eigentlich Bemerkenswerte ist, würde ich sagen, dass die Leute nicht vor Lachen vom Stuhl kippen, wenn die 16-Jahre-Kanzlerin zu ihnen spricht. Aber so kann wahrscheinlich nur jemand denken, der nicht bei der „Süddeutschen“ beschäftigt ist.

Ich habe über alle Bundeskanzler geschrieben. Adenauer hielt keinen seiner Nachfolger für so geeignet wie sich selbst. Auch Kohls Dickfelligkeit war legendär. Wer nicht für ihn war, der war gegen ihn, dazwischen gab’s für ihn nichts. Aber in puncto Selbstgerechtigkeit bewegt sich Angela Merkel noch einmal in einer ganz eigenen Liga.

Man sieht es ihr auch an. Sie hat diesen Hals von Menschen bekommen, die meinen, alles im Leben richtig gemacht zu haben. Der Kopf sitzt so fest, dass nicht mehr viel Spielraum bleibt, außer für ein Nicken der Selbstzustimmung.

Der „Spiegel“ hat vergangene Woche das Ergebnis einer verdienstvollen Recherche zur Haltung ihrer Regierung zu Nord Stream 2 vorgelegt. Ein Redakteursteam hatte sich über Monate um Einsicht in das bislang geheim gehaltene Gutachten bemüht, in dem das damals noch von Peter Altmaier geführte Wirtschaftsministerium die Risiken einer weiteren Gaspipeline nach Russland bewerten sollte. Es gab Warnungen, vor allem aus Osteuropa und den USA, dass Deutschland durch die Inbetriebnahme in noch größere Abhängigkeit vom Kreml geraten würde.

Sonnigste Einschätzung hingegen aus Berlin: Die neue Pipeline werde die europäische Versorgungssicherheit nicht schwächen, sondern im Gegenteil erhöhen. Gazprom habe grundsätzlich keinen Einfluss auf die durchgeleitete Liefermenge, es stelle nur den Transport sicher. Mehr Röhren, mehr Gas, mehr Verlässlichkeit – so lautete das Fazit vier Monate vor Kriegsausbruch und acht Monate bevor Putin den Gashahn schloss.

Alles vorausgesehen? Alles richtig gemacht?

Von den vielen Ministern, die Angela Merkel dienten, war Peter Altmaier immer der Treueste der Treuen. Nie hätte er es gewagt, gegen die Chefin aufzumucken oder eine Entscheidung in die Wege zu leiten, die sie hätte unglücklich machen können. Man darf also seine Einschätzung durchaus der Kanzlerin zurechnen. Die Sache ist eindeutig: Keine Regierung hat uns so abhängig gemacht von der Energiezufuhr durch einen uns feindlich gesonnenen Staat wie die von Angela Merkel. In ihrer Amtszeit ist die Abhängigkeit von russischem Gas von 43 Prozent auf 55 Prozent gestiegen. Aber wie gesagt: auf weiter Flur kein Grund zur Reue.

©Silke Werzinger

Das Dumme ist: Es wird nicht besser. Im Kanzleramt sitzt ein Mann, der so sein will wie seine Vorgängerin. Wenn es für ihn ein Vorbild gibt, an dem sich Olaf Scholz orientiert, dann die Frau mit dem Selbstbewusstsein einer göttlichen Kaiserin. Als er in den Wahlkampf zog, war sein Versprechen: Ich bin so wie Angela Merkel, nur ohne Raute. Man hat ihn dafür verspottet. Aber die Leute, die Merkel wiedergewählt hätten, wenn man sie gelassen hätte, waren zahlreich genug, um ihn ins Kanzleramt zu bugsieren.

Noch besser, als im Nachhinein recht zu behalten, ist es, alles vorher gewusst zu haben. Auftritt Olaf Scholz beim Maschinenbau-Gipfel am Dienstag vergangener Woche. Putin setzt Gas als Waffe ein? Zitat Scholz: „Ich war mir immer sicher, dass er das tun würde.“

Gerhard Schröder konnte immerhin von sich sagen, dass er in Putins Reptilienaugen das Gute gesehen habe. Merkel und Scholz haben sich nach eigener Aussage nie Illusionen hingegeben. Wie soll man ihr Verhalten nennen? Sie wussten, wozu Putin in der Lage ist, und haben ihm trotzdem die Gaswaffe in die Hand gedrückt und sogar noch durchgeladen? Blauäugigkeit fällt als Erklärung damit aus. Wäre ich Rechtsbeistand der beiden, würde ich sagen: Vorsicht, eine Klage wegen Landesverrats ist schnell auf den Weg gebracht. Besser sich auf Fahrlässigkeit herausreden. Klingt nicht so gut, erspart einem aber im Gegensatz zu Vorsatz eine Menge Scherereien.

Würde das Eingeständnis, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, die Situation, in der wir uns befinden, besser machen? Würde es nicht. Aber es könnte dazu beitragen, dass man den gleichen Fehler nicht wiederholt. Vergangenheitsbewältigung ist immer auch Gegenwartsvorsorge. Wer erkennt, wo er mit seiner Einschätzung danebengelegen hat, ist das nächste Mal möglicherweise gewarnt.

Die meisten denken bei China an den riesigen Absatzmarkt. Aber wenn wir nicht aufpassen, tauschen wir gerade bei der Energieproduktion eine Abhängigkeit gegen die andere ein. Keine anderen Energiequellen verschlingen, über ihren Lebenszyklus gerechnet, so viele seltene Metalle und Erden wie Photovoltaik und Windkraft. Und raten Sie mal, wo ein Großteil der Metalle herkommt, die man benötigt, um Solarpaneele und Windräder herzustellen? Es ist leider nicht Europa, sondern das Land der Mitte.

Angela Merkel arbeitet jetzt an ihren Memoiren, zusammen mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann. „Das Buch wird einen exklusiven, persönlichen Einblick geben in das politische Leben und Wirken der Bundeskanzlerin a.D.“, heißt es in der Verlagsankündigung von Kiepenheuer & Witsch, wo die Biografie im Herbst 2024 erscheinen soll. Die Autorin lässt sich mit dem Satz zitieren: „Ich freue mich, zentrale Entscheidungen und Situationen meiner politischen Arbeit zu reflektieren und sie, auch mit Rückgriff auf meine persönliche Geschichte, einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.“

Man muss kein Hellseher sein, um zu sagen, was in den Memoiren stehen wird. Unsere ehemalige Bundeskanzlerin ist mit sich im Reinen. Ihre Politik war im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Wer es anders sieht, hat nichts begriffen und nichts verstanden. Ein ideales Geschenk für Masochisten. Aber auch davon gibt es in Deutschland genug, sodass zumindest einer schönen Platzierung auf der Bestsellerliste nichts im Wege steht.

Die Absage

Will Friedrich Merz Bundeskanzler werden? Man weiß es nicht. Was wir dafür jetzt wissen: Er ist der Typ Mensch, auf den man nur so lange bauen kann, wie es keinen Ärger gibt

Wie ruiniert man als führender Politiker den Ruf eines Menschen? Man sagt seine Teilnahme bei einer Konferenz zu. Es gibt Kritik wegen des geplanten Auftritts. Der Mensch, mit dem man zu einem öffentlichen Gespräch verabredet ist, gilt als rechter Hardliner.

Man sagt die Teilnahme wieder ab – allerdings nicht wegen des Treffens mit dem Hardliner, für das man angegriffen wurde, sondern weil man angeblich im Rahmenprogramm auf zwei Namen gestoßen ist, die eine Teilnahme unmöglich machen. Botschaft Nummer eins: Mit dem rechten Trump-Freund hätte man sich ja noch getroffen, aber nicht mit den beiden anderen Vögeln. Botschaft Nummer zwei: Wer die beiden künftig wieder auf ein Podium einlädt, ist nicht ganz bei Trost.

Ich bin mit der Familie im Sommerurlaub in Amerika. Da erreichen einen viele Nachrichten aus der Heimat mit Verspätung. Aber dass der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz seinen Auftritt bei einer Konferenz in Berlin abgesagt hat, weil dort neben dem republikanischen Senator (und Trump-Freund) Lindsey Graham auch der Journalist Henryk M. Broder sowie der Anwalt Joachim Steinhöfel sprechen sollten, das habe ich sogar im fernen Connecticut mitbekommen. Manches mag länger brauchen, bis man davon erfährt, dafür ärgert man sich nachhaltiger.

Ich kenne Henryk Broder, seit ich vor 30 Jahren für den „Spiegel“ von Hamburg nach Berlin wechselte. Ich würde nicht sagen, dass wir befreundet sind, auch wenn wir in manchem Kampf auf einer Seite standen. Freundschaftlich verbunden, das trifft es vielleicht am ehesten. Möglicherweise nehme ich mir die Geschichte deshalb so zu Herzen.

Broder hat schon gegen die Narren links und rechts der Mitte gekämpft, als viele noch glaubten, wahre Idioten gäbe es nur bei den Rechten. Jedes Interview mit ihm enthält mehr in Sottisen verpackte Wahrheit, als die meisten Journalisten in ihrem ganzen Leben an Wahrheit und Sottisen zustande bringen. Vor allem ist er absolut unkorrumpierbar. Vor sechs Wochen hat er sein Engagement bei der „Weltwoche“ beendet, weil er fand, dass er da nicht mehr hinpasst.

Und nun muss ich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lesen, bei näherem Studium der Teilnehmerliste des „Transatlantischen Forums“, also jener geplanten Veranstaltung mit Merz und Graham in Berlin, sei im Büro Merz aufgefallen, dass auch Henryk M. Broder und Joachim Steinhöfel als Redner vorgesehen waren, „zwei Maulhelden jenes rechten Randes des demokratischen Spektrums, mit dessen parteipolitischer Vertretung, der AfD, CDU und CSU in keiner Form zusammenarbeiten möchten“?

Keine Ahnung, was bei der „FAZ“ beziehungsweise in der CDU-Parteizentrale unter Zusammenarbeit verstanden wird: Die Teilnahme an einem Forum, bei dem unterschiedliche Meinungen aufeinanderstoßen, fällt nach landläufiger Auffassung jedenfalls nicht darunter. Man hätte sich vermutlich nicht mal gesehen. Der Auftritt von Merz war für 14 Uhr vorgesehen, der von Broder und Steinhöfel für 10 Uhr. Das Programm stand auch seit Wochen fest, aber vielleicht liest man im Adenauer-Haus aus Prinzip keine Tagungsprogramme über den Auftritt des Parteivorsitzenden hinaus.

Was die AfD-Nähe angeht, scheint ebenfalls der Wunsch Vater der Behauptung zu sein. Broder hat mal einen Vortrag vor der AfD-Fraktion gehalten, zu dem man ihm nur gratulieren kann, wenn man ihn gelesen hat. Steinhöfel hat seinen Rechtsbeistand zugesagt, als der damalige Parteivorsitzende Jörg Meuthen nach einem Anwalt suchte, der willens war, die AfD im Parteiausschlussverfahren gegen Nazis wie den Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz zu vertreten. Die Nazihaftwerdung der AfD schritt dann trotz des Kalbitz-Rauswurfs voran, worauf Steinhöfel sein Mandat wieder niederlegte.

Ich weiß nicht, welche Pläne Friedrich Merz noch hat. Möglicherweise reicht es ihm, Parteivorsitzender und Fraktionschef der CDU zu sein, das wäre ihm zu wünschen. Vielleicht will er aber auch Bundeskanzler werden. Ab einem gewissen Level trauen sich Politiker alles zu, das scheint nahezu unausweichlich. Wenn man Manuela Schwesig fragen würde, ob sie nicht finde, dass sie das Zeug zur Bundeskanzlerin habe, sagte sie garantiert Ja.

Stellen wir uns Merz als Bundeskanzler vor. Wir wissen jetzt: Er ist der Typ Mensch, auf den man nur so lange bauen kann, wie es keinen Ärger gibt. Ich hatte zwischenzeitlich einen anderen Eindruck gewonnen. Ich hielt ihn für einen, der unter Druck Standfestigkeit zeigt. Jetzt weiß ich, er ist doch nur ein Würstchen. Ein sehr reiches Würstchen, keine Frage, mit einer schönen neuen Brille und einem Pilotenschein. Der Pilotenschein hat mich sofort für ihn eingenommen. Franz Josef Strauß hatte ebenfalls einen. Aber das ist leider auch alles, was Merz mit Strauß verbindet.

Die Krux der modernen Konservativen ist, dass sie bei den falschen Leuten ankommen wollen. Ein Linker käme nie auf die Idee, den Beifall der anderen Seite zu suchen. Entweder ist es ihm egal, wie sie im Lager des Gegners über ihn denken. Oder er ist im Gegenteil sogar stolz, dass sie ihn dort hassen. Wer ihn nicht wählt, kann ihm gestohlen bleiben.

So kann der Konservative nicht denken. Konstantin von Notz von den Grünen schreibt auf Twitter, dass Merz nicht mehr alle Latten am Zaun habe? Im Team Merz schlottern ihnen vor Angst die Hosen. Die „Süddeutsche“ findet, dass es sich für den Anführer der größten Oppositionspartei nicht schickt, einen Mann wie Graham zu treffen, der Trump prima findet? Oh Gott, wie kommen wir aus der Nummer wieder heraus? Sagen wir einfach, wir haben das Programm nicht gekannt!

Natürlich würde man sich bei den Linken auch niemals vorschreiben lassen, mit wem man sich zusammensetzen darf und wem nicht. Hans-Christian Ströbele hat als Anwalt sogar waschechte Terroristen vertreten, die nicht nur davon träumten, das System aus den Angeln zu heben, sondern das mit der Waffe in der Hand versuchten.

Hat das die Grünen davon abgehalten, ihn als Direktkandidaten für die Bundestagswahl aufzustellen? Selbstverständlich nicht. Saß er dann im Geheimausschuss des Bundestages, ohne dass die anderen Fraktionen Einspruch erhoben hätten? Aber sicher. Wenn jemand geschrieben hätte, dass man mit Leuten wie Ströbele wegen seiner Mandate nicht zusammenarbeiten dürfe, sie hätten sich bei den Grünen totgelacht.

Manchmal denke ich an Helmut Kohl zurück. Wie hätte Kohl reagiert? Ganz einfach: Wenn einer wie Notz rumkrakeelt hätte, wäre er gleich zweimal zu der Konferenz gekommen, von der man ihm gesagt hätte, dass man da nicht hingehen darf. Im Zweifel stand er auch noch für Fehler ein, die andere gemacht hatten.

Die beste Lebensversicherung eines Ministers in Nöten waren Kommentare, die seine sofortige Absetzung verlangten. Da hielt Kohl schon aus Prinzip an der Person fest, deren Kopf nun allenthalben gefordert wurde. So überlebte Manfred Wörner den Kießling-Skandal, für den er als Verteidigungsminister eigentlich sofort seinen Hut hätte nehmen müssen, und Rita Süssmuth ihre Flugaffäre.

Merz war einer der Ersten, die sich von Kohl lossagten. Man müsse die Distanz vergrößern, den Ton verschärfen, erklärte er, als die Spendenaffäre losbrach. Da war er Fraktionsvize und Kohl gerade als Kanzler abgewählt. Schon von der Mutter habe er gelernt, dass „die Hand, die segnet, zuerst gebissen wird“, vertraute Kohl darauf seinem „Tagebuch“ an.

Merz brauchte 22 Jahre, bis er endlich das wurde, was zu werden er schon damals erhofft hatte. Der Verrat zahlt sich für den Verräter nicht immer aus.

©Michael Szyszka

Apokalypse und Filterkaffee

Die Parteien überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern beistehen könne. Noch mehr als Putin fürchten sie in Berlin den Zorn der Straße. Was, so die bange Frage, wenn der Deutsche wieder andere Seiten aufzieht

Kein Bürger werde alleingelassen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt. Das sollte vermutlich beruhigend wirken. Bei mir löst eine solche Ankündigung eher Beklemmung aus. Ich mag es nicht, wenn man mir zu sehr auf die Pelle rückt, erst recht nicht von Staats wegen.

In allen Parteien überschlagen sie sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern in der Krise beistehen könne. Die SPD will Hilfen für Mieter durchsetzen, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Weil der schwarze Peter dann bei den Vermietern hängen bleibt, soll den Vermietern selbstverständlich ebenfalls geholfen werden.

Die CDU hat eine Verlängerung des Tankrabatts sowie ein verbilligtes Bahn-Ticket ins Programm aufgenommen. Die Grünen würden am liebsten die Kündigung von Mietern ganz aussetzen. Moratorium nennen sie das, was nur der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Kündigungsschutz sein kann. Die einzige Partei, die keine neuen Hilfen verspricht, ist die FDP. Sie will stattdessen zur Schuldenbremse zurück. Vielleicht liegt sie deshalb in den Umfragen so weit hinten.

Das Blöde an Steuergeschenken ist, dass auch für sie jemand bezahlen muss. Dieses ökonomische Gesetz kann selbst die beste sozialstaatliche Förderung nicht außer Kraft setzen. Da es nicht die Politiker sind, die für die Entlastungen geradestehen, die sie versprechen, müssen andere ran, im Zweifel die Leute, die gerade beschenkt wurden.

Die Zustimmung zum Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Illusion, dass man zu den Gewinnern zählt. Auf die eine oder andere Weise profitiert fast jeder von seinen Segnungen. Da verbilligte Operntickets ebenso zum Angebot zählen wie VHS-Kurse, in denen man in die Kunst des sanften Atmens eingewiesen wird, ist es für viele gar nicht so einfach zu sagen, ob sie am Ende nun draufzahlen oder nicht.

Jetzt geht es also gegen die Gaskrise. Niemanden im Stich lassen zu wollen klingt nobel. Was ist gegen Hilfe in der Not zu sagen? Wenn man genau hinhört, durchzieht die Ankündigungen allerdings ein weiteres Motiv: eine klammheimliche Angst vor dem Bürger. Noch mehr als Wladimir Putin scheinen sie in Berlin den Zorn der Straße zu fürchten. Von der Fürsorge zum Versuch der Ruhigstellung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat es offen ausgesprochen, als sie vor Protesten wegen steigender Energiepreise warnte. In der Corona-Zeit hätten Menschen zusammen mit Rechtsextremisten ihre Verachtung für die Demokratie rausgebrüllt, sagte sie. Diese Gefahr bestehe wieder. Der thüringische Verfassungsschutz-Chef spricht von Aufmärschen, gegen die alle Corona-Demos ein „Kindergeburtstag“ gewesen seien.

Ungeklärt ist noch die Frage, wie jemand heißt, der Anstoß an ständig steigenden Heizkosten nimmt. Energieleugner? Wobei, die Energiepreisleugner sitzen ja eher im Lager derjenigen, die bis vor Kurzem jede Inflationsgefahr bestritten. Also vielleicht: Energiewendequerdenker. Das klingt hinreichend bedrohlich.

Es ist eigenartig: Auf der einen Seite sehen wir uns als eine der fortschrittlichsten Nationen der Welt. Gerade erst hat die Bundesregierung unter großem Beifall ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln kann. Seinen Nachnamen ändern zu lassen ist in Deutschland in Zukunft schwieriger als die Überwindung der Biologie. Andererseits gelten wir Deutsche als latent rückfallgefährdet. Kaum droht im Winter die Heizung kalt zu bleiben und schon marschieren auf den Meinungsspalten die braunen Horden durchs Brandenburger Tor.

Lauert unter der Oberfläche das Böse? Wartet der Nazi in uns nur darauf, wieder durchzubrechen? Das ist die große Frage. Der Politologe Herfried Münkler, mit dem ich die Tage zum Mittagessen zusammensaß, unterscheidet drei Wege, wie sich offen revisionistische Mächte einhegen lassen: Appeasement, Abschreckung und Agressionsabbau durch Wohlstandszuwachs.

Deutschland war auf dem dritten Weg spektakulär erfolgreich. Je dicker und zufriedener die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, desto demokratischer wurden sie auch. Aber damit bleibt natürlich der Verdacht, dass die Deutschen die Demokratie nicht um ihrer selbst lieben, sondern weil sie sich Vorteile versprachen. Das verleiht der Diskussion um den Gasnotstand ihren existenzialistischen Touch: Was, wenn der Wohlstand schrumpft? Schrumpft dann auch die Demokratietreue?

Ich habe die Diskussion in anderen europäischen Ländern nicht so genau verfolgt. Aber mein Eindruck ist, dort nimmt man die Krise mit größerer Gelassenheit. Ein Freund, der vor zwei Wochen seinen Schreibtisch in München mit dem Balkon am Lago Maggiore tauschte, berichtet, dass die Gasknappheit in den italienischen Zeitungen kein großes Thema sei. Auch in Paris oder Amsterdam ist die Lage vergleichsweise ruhig.

Ist es schlau, dass unsere Regierungsvertreter jeden Tag über ihre Ängste sprechen? Ich habe da meine Zweifel. Wie man sieht, fühlt sich Putin durch das sorgenvolle Händeringen, wie schlecht wir ohne sein Gas dastünden, ermuntert, uns unsere Abhängigkeit jede Woche aufs Neue vor Augen zu führen. Mal gibt es 40 Prozent der zugesicherten Gasmenge. Dann gar nichts mehr. Dann wieder etwas. Dann nur noch 20 Prozent. Man kennt das aus dem Tierreich. Es gibt Hunderassen, die erst recht zubeißen, wenn ihnen ein Tier die Kehle zeigt.

Auch im Hinblick auf die innenpolitische Lage scheint es mir nicht besonders klug, Alarmstimmung zu verbreiten. Wenn man als Politiker ständig davon redet, dass die Leute revoltieren könnten, sagen sie sich irgendwann: Dann lass uns das doch mal versuchen.

In Wahrheit misstraut die Politik dem Bürger, deshalb die fürsorgliche Belagerung. Sie hält ihn für ein Mängelwesen, politisch ungefestigt und in Alltagsdingen überfordert.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burnout und guckt Fernsehsendungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmissen, weil die Auswahl immer größer wird und er alles für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Natürlich ist er auch leicht verführbar durch einfache Antworten, wie die Schalmeienklänge der Populisten heißen. Der Politikbetrieb spricht vom „verletzlichen Verbraucher“. Lässt sich ein schöneres Wort für den Gegenentwurf zum mündigen Bürger denken?

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angeregt, die Deutschen sollten länger arbeiten, um sich ihren Wohlstand zu erhalten. Es gab sofort Protest. Aber ich glaube, viele wissen insgeheim, dass er recht hat. Am Anfang des deutschen Wirtschaftswunders, das uns zu guten Demokraten gemacht hat, stand nicht die 35-Stunden-Woche, sondern eine kollektive Kraftanstrengung. Das haben außerhalb der Sozialverbände noch nicht alle vergessen.

Wer weiß, vielleicht sind die Deutschen robuster, als viele Politiker denken. Klar, wir müssen dankbar sein, dass wir nach dem Krieg so gründlich pazifiziert wurden, dass heute schon der Ausfall der Klimaanlage im ICE den Anwalt auf den Plan ruft. Aber könnten wir uns nicht ein kleines bisschen auf den Durchhaltewillen besinnen, den diese Nation einmal auszeichnete? Nur vorübergehend, im Streckbetrieb sozusagen, bis die kalten Monate vorbei sind und in Wilhelmshaven endlich das erste Flüssiggasterminal steht?

Wir müssen ja nicht gleich wieder bis nach Stalingrad durchmarschieren. Zwei Pullover übereinander und die Heizung bei 18 Grad, das würde für den Anfang reichen.

©Silke Werzinger

Frieren mit Frau Dr. Merkel

Deutschland bereitet sich auf die Notzuteilung von Gas vor: Wer bekommt was, wo wird abgeschaltet? Sollte dabei das Verursacherprinzip gelten, würde es bei der ehemaligen Bundeskanzlerin sehr kalt werden

Die Bundesregierung solle nicht mehr über die vergangenen 16 Jahre reden, hat Friedrich Merz im Bundestag gesagt. Die Wirtschaftskrise, vor der das Land stehe, sei jetzt ihre Herausforderung. Alles, was komme, falle allein in die Verantwortung der neuen Regierung.

Ich schätze Merz. Wirklich. Er ist das Beste, was der CDU nach der verlorenen Wahl passieren konnte. Aber ich finde, er macht es sich ein klein wenig zu einfach. Sosehr ich den Wunsch verstehe, die Vergangenheit hinter sich zu lassen: So schnell wird man sie nicht los, wie man – aus der Vergangenheit – weiß.

Deutschland steht mit dem Rücken zur Wand. Der Wirtschaftsminister spricht vom „Albtraumszenario“, die Bundesnetzagentur entwirft Pläne für die Notbevorratung mit Gas, und die Bürger ordern Heizgeräte. Was bei der Pandemie das Klopapier war, sind nun Radiatoren.

Für alle, die keinen Heizlüfter mehr ergattern können, gibt es praktische Spartipps. In Berlin hat der Gasag-Chef dazu aufgerufen, die Hände kürzer zu waschen. Die Angst vor der Gasarmut ist noch größer als die Angst vor dem Virus. Und da soll man sich nicht fragen, wie wir in diesen Schlamassel geraten sind?

Alle tun jetzt ganz überrascht, dass der Mann im Kreml die Macht nutzt, die wir ihm verliehen haben. Was genau haben sie im Kanzleramt all die Jahre gedacht, wie Putin reagieren würde, wenn man ihn mit Sanktionen bedroht? Dass er weiterhin brav seine Lieferverpflichtungen erfüllt, weil er das so zugesagt hat? Ich würde in meiner Naivität immer davon ausgehen, dass jemand, der Giftgas auf Kinder regnen lässt, kein Problem damit hat, den Gashahn zuzudrehen, wenn er meint, dass ihm das nutzt. Aber ich bin ja auch kein Kanzlerberater.

Die Russen hätten doch immer geliefert, heißt es zur Entschuldigung, trotz Kaltem Krieg, der Hilfe für Assad und Krim-Annexion. In Wahrheit hat Putin sein Gas schon mehrfach als Waffe eingesetzt – gegen die Ukrainer, gegen Weißrussland, gegen Estland. Wir haben nur vorgezogen, das nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Man hätte also leicht wissen können, dass man es mit einem Gangster als Hauptlieferanten zu tun hat. Und sich entsprechend vorbereiten. Stattdessen machte man sich in der Kanzler:innenetage am Spreebogen lieber über die Bilder lustig, auf denen der starke Mann aus Russland mit nacktem Oberkörper beim Taiga-Ritt posierte. Was für ein lächerlicher Macho! So gestrig! Hahaha!

Alles, worauf eben noch die deutsche Energieversorgung beruhte, liegt nun in Trümmern. Fragt man bei der Frau nach, die in den vergangenen 16 Jahren die Verantwortung trug, bekommt man zur Antwort, die Abhängigkeit sei eine Folge der Liberalisierung des Energiemarktes. Weil das russische Gas immer in ausreichendem Maße vorhanden gewesen sei, habe niemand in der Wirtschaft Interesse gezeigt, sich nach Alternativen umzusehen. Die Politik als Zaungast.

Nun ja. Nationale Sicherheit, kritische Infrastruktur – all das scheint in Angela Merkels Welt kein Begriff gewesen zu sein. Bei anderer Gelegenheit zeigte sie außerdem nicht so viel Skrupel. 2011 entschied die Kanzlerin den Ausstieg aus der Kernenergie, 2017 folgte das Verbot des Fracking. Wenn es ums Aussteigen aus heimischer Energieproduktion ging, war sie immer bereit, sich über die Interessen der Wirtschaft hinwegzusetzen.

Merkels langjähriger außenpolitischer Berater, der Diplomat Christoph Heusgen, berichtete kürzlich, der Anteil russischen Gases an der Energieversorgung sei im Kanzleramt nie Thema gewesen. Der Anteil stieg binnen zehn Jahren von 37 auf 55 Prozent. Er könne sich nicht erinnern, jemals solche Zahlen gesehen zu haben, sagt Heusgen. Wie soll man das nennen? Sorglos? Fahrlässig? Von allen guten Geistern verlassen?

Es ist ja nicht so, dass niemand gewarnt hätte. Als es der Bundesregierung gefiel, auch noch den größten Gasspeicher des Landes in die Hand der Russen zu geben, waren es die Grünen unter Führung des Abgeordneten Oliver Krischer, die vor den Folgen warnten. „Die Versorgungssicherheit ist nicht gefährdet“, lautete die Antwort. Der Satz wurde standardmäßig verschickt.

Krischer ist heute Umweltminister in Nordrhein-Westfalen, er wird sich an den Disput erinnern. Der Füllstand in Rehden, dem Sitz von Deutschlands größtem Gasspeicher, lag im Februar bei 3,7 Prozent. Jetzt sind wir bei 29 Prozent, immer noch viel zu wenig, um durch den Winter zu kommen. Wir stünden deutlich besser da, wenn einer von Merkels Leuten mal nachgeschaut hätte, was sie in Rehden so treiben. Aber es hat nie jemanden interessiert, ob die Russen auch tatsächlich Gas einlagern.

Was die Regierung Merkel angeht, könnten die Grünen einiges erzählen. Habeck hat dem „Spiegel“ berichtet, wie sie im Kanzleramt den Bau eines Flüssiggas-Terminals in Brunsbüttel hintertrieben. RWE wollte größere Gasmengen abnehmen, die Verträge waren unterschriftsreif. Aber die Kanzlerin zeigte kein Interesse. Die Sache musste abgeblasen werden.

Es könnte sich auch lohnen, mal bei Joschka Fischer nachzufragen, warum aus Nabucco nichts geworden ist. Der eine oder andere wird sich erinnern: Das war die Pipeline, über die Gas aus Aserbaidschan nach Deutschland fließen sollte. Fischer war bei dem Projekt als Chefberater angestellt. Am Ende musste er sich gegen die Gazprom-Mafia geschlagen geben – eine der wenigen, wirklich schmerzhaften Niederlagen seines Lebens.

Werden wir aus Schaden klug? Man wird sehen. Der neue Traum heißt: Abkehr von fossiler Energie. Der Abschied von allen fossilen Brennstoffen steht ganz oben auf der grünen Agenda.

Ich fürchte, auch das wird ein Traum bleiben. Ein entwickeltes Industrieland von der Größe der Bundesrepublik lässt sich nicht vollständig mit erneuerbaren Energien betreiben, jedenfalls dann nicht, wenn man Industrieland bleiben will. Es braucht immer einen Energieträger, auf den sich das produzierende Gewerbe verlassen kann. Aber die Welt als Wille und Vorstellung ist ein Konzept, das bis heute nichts von seinem Reiz eingebüßt hat.

Nur ein Detail: Im Koalitionsvertrag steht, dass ab Januar 2025 jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll. Öl- und Gasheizungen scheiden damit aus. Lediglich die Wärmepumpe erreicht diesen Wert. Ich habe mit meinem Klempner gesprochen, weil ich im Winter meine alte Gasheizung austauschen lassen wollte. Mein Haus ist von 1993. Klassische Doppelhaushälfte, 140 Quadratmeter, nichts Besonderes. „Keine Chance“, sagte er. „So eine Wärmepumpe ist viel zu groß für Ihren Keller. Außerdem brauchen Sie eine ganz andere Dämmung, damit die Sache funktioniert.“

In der „FAZ“ habe ich daraufhin gelesen, dass das Gros des Hausbestandes in Deutschland für den Einbau von Wärmepumpen ungeeignet ist. Das hält die Regierung selbstredend nicht davon ab, an ihrem Ziel festzuhalten. Man kann Hausbesitzern also nur raten, vor 2025 noch schnell die alte Gastherme durch eine neue zu ersetzen. Danach ist es verboten – Energiebilanz hin oder her. Das ist genau die Geisteshaltung, die uns in die Gaskrise geführt hat. Sorry, dass ich das so sage.

Man soll ja nicht nachtragend sein. Andererseits bin ich ein Anhänger des Verursacherprinzips. Wenn demnächst Gas bevorratet wird, hätte ich einen bescheidenen Wunsch. Könnte man nicht in den Plänen, bei wem zuerst das Gas abgestellt wird, vor der Industrie die Verantwortlichen für das Debakel auflisten?

Wir haben uns entschieden, Gerhard Schröder seine Mitarbeiter und sein Büro zu streichen. Damit verglichen wären ein paar kalte Wochen für Angela Merkel und den Architekten der Russlandfreundschaft, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, vergleichsweise milde Einschränkungen.

Außerdem: Mit zwei Pullovern und etwas Treppensteigen könne man gut durch den Winter kommen, sagt der Gasag-Chef in Berlin. Das gilt bestimmt auch für die Wohnung der Kanzlerin und fürs Schloss Bellevue.

©Michael Szyszka

Der Rabauke

Viel spricht gegen Friedrich Merz als neue Führungsfigur der CDU: Er ist arrogant, eitel, unbeherrscht. Aber vermutlich verkörpert er das einzige Stück Hoffnung, das zwischen Partei und Abgrund steht

Ich war immer gegen Friedrich Merz als Parteivorsitzender. Ich glaube keine Sekunde, dass die CDU mit ihm an der Spitze besser gefahren wäre als mit Armin Laschet.

Das größere Publikum sieht ihn skeptisch, um mit dem Offensichtlichen zu beginnen. Merz ist der Kandidat für diejenigen, die schon überzeugt sind – der Prediger für die Konvertierten. Da kommt er toll an, egal, wie enttäuschend sein Auftritt im Zweifelsfall auch sein mag. Normale Menschen ohne feste Parteibindung hingegen finden ihn eher unsympathisch.

Er ist zu aggressiv für einen Kanzlerkandidaten, zu unbeherrscht, auch zu schroff im Umgang. Wenn er spricht, merkt man ihm die mühsam unterdrückte Verachtung für diejenigen an, die er für Leute unter seiner Würde hält. Da das nahezu jeder ist, der nicht über mindestens drei Aufsichtsratsmandate oder einen Nobelpreis verfügt, bleiben nur wenige, die er als ebenbürtig empfindet.

Außerdem hat Merz ein Psychoproblem. Bis heute hat er nicht verwunden, dass er vor zwanzig Jahren von einer Frau aus Ostdeutschland um den Fraktionsvorsitz gebracht wurde und damit um die Chance, Helmut Kohl im Kanzleramt nachzufolgen. Selbstverständlich hält er sich auch für den geborenen Kanzler. Selbst die Millionen, die er zwischenzeitlich als Anwalt verdient hat, machen diese Niederlage nicht wett. Wie es sich manchmal verhält bei reichen Menschen: Alles Geld der Welt ist nichts im Vergleich zu dem Preis, den man erringen wollte, aber nicht errungen hat.

Von dem seltsamen Eierkopf mit dem merkwürdigen Bürzel in der Mitte, den Merz sich im Alter zugelegt hat, will ich gar nicht reden. Leser meiner Kolumne wissen, dass ich das Äußere bei Politikern für ein sträflich unterschätztes Kriterium halte. Aus der Tatsache, dass wir Journalisten uns abgewöhnt haben, darüber zu schreiben, wie einer oder eine aussieht, folgt nicht, dass auch die Wähler darüber hinwegsehen.

Trotzdem bin ich in dieser Woche zu der Überzeugung gelangt, dass es für die CDU wünschenswert wäre, wenn Merz an die Spitze rückt. Er verkörpert möglicherweise das einzige Stück Hoffnung, das noch zwischen Partei und Abgrund steht.

Woher der Sinneswandel? Gesucht wird jetzt ein Oppositionsführer, nicht ein Kanzlerkandidat. Das wiederum verlangt nach ganz anderen Fähigkeiten. Ein Parteiführer darf ruhig unduldsam auftreten. Das Publikum, das er überzeugen muss, sind die Anhänger, nicht die Schwankenden, die unschlüssig sind, ob sie nun die Union wählen sollen oder nicht.

Der Anhänger wünscht sich auch nicht Annäherung, sondern Abgrenzung zum politischen Gegner. Je öfter und eindringlicher man ihm sagt, warum er richtigliegt und der andere ganz und gar falsch, desto besser fühlt er sich.

Wenn man Wahlen gewinnen will, ist das ein gefährlicher Weg. Mit jedem Auftritt, der die Reihen schließt, verprellt man Unentschlossene. Aber bis zur nächsten Bundestagswahl sind es vier Jahre hin. Jetzt geht es darum, die Verstörten und Verzagten in der eigenen Partei aufzurichten, und da kann ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein nicht schaden.

Ich habe Merz vor vier Wochen getroffen, anlässlich der Aufzeichnung der Maischberger-Sendung direkt vor der Wahl. Er weiß, wie ich über ihn denke. Ich habe aus meiner Meinung nie ein Geheimnis gemacht, auch auf diesen Seiten nicht. Andererseits ist er Profi, also haben wir ein paar freundliche Worte gewechselt.

Dann saß er mit Hubertus Heil, dem Bundesarbeitsminister und zweitmächtigsten Mann der SPD, zum Gespräch im Studio. Mir war nicht klar, dass Heil offenbar Merz geradezu hasst. Die Animosität war körperlich zu spüren. Ein Höhepunkt war, als Heil seinen Kontrahenten belehrte, dass er einen „Bundesminister und Mitbürger“ vor sich habe, worauf Merz nur die Augen verdrehte. Zwanzig Minuten ging das so, aber Merz wich keinen Zentimeter zurück. In dem Augenblick dachte ich: Stehvermögen hat er.

Wir haben uns an diesen diplomatischen Politikertypus gewöhnt, der jedem Streit aus dem Weg geht. Oder ihn weglächelt. Der große Vorteil von Merz ist, dass er niemandem außerhalb der Partei mehr gefallen muss, auch nicht den Journalisten. Die vordringliche Aufgabe des neuen Parteichefs ist es, die Fliehkräfte im eigenen Lager zu stoppen. Dazu braucht es jemanden, der über Erfahrung, aber auch Härte und Entschlossenheit verfügt.

Ich höre schon die vernichtenden Urteile, sollte es wirklich Merz werden: „CDU auf dem Weg ins Gestern“, „Rückfall in die Neunziger“. Aber erstens wählt kein Journalist, den ich kenne, CDU. Und wenn es darauf ankommt, fallen sie in den Medienhäusern ohnehin über den Unionskandidaten her. Wenn es einen Kandidaten der Mitte gab, dann war es Armin Laschet. Kein böses Wort gegen die Kanzlerin – keine Kurskorrektur, weder in der Flüchtlings- noch in der Sozialpolitik. Und was hat es ihm genützt? Nichts. Am Ende galt er doch als der Tropf, der Deutschland angeblich wieder nach rechts führen wollte.

Ein anderer Weg, sich einem künftigen Parteichef zu nähern, führt über das Ausschlussverfahren. Das wäre dann die Frage: Wer soll es stattdessen machen? Der wohlerzogene Herr Röttgen, der immer so spricht, dass man denkt: „Klar, er und die Annalena, das wäre schon ein tolles Team gewesen“? Oder Gesundheitsminister Jens Spahn, der Mann, der nicht mal sein eigenes Ministerium im Griff hatte? Der erst vergangene Woche wieder erklären musste, dass man sich im RKI, sorry, sorry, bei der Zahl der Geimpften um 3,5 Millionen Menschen verrechnet habe?

Es gibt Leute, die schwören auf Ralph Brinkhaus, den Unionsfraktionsvorsitzenden. Ich habe auch mit Brinkhaus meine Talkshow-Erfahrungen gemacht. Vor zwei Jahren saßen wir beide ebenfalls im Studio, zusammen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und Katrin Göring-Eckardt von den Grünen. Damals war Annegret Kramp-Karrenbauer noch Parteivorsitzende. Kurz nach ihrem Amtsantritt hatte sie mit einem Witz über Gender-Toiletten in Berlin Aufsehen erregt, was bei jemandem wie Katrin Göring-Eckardt naturgemäß auf heftigste Missbilligung stieß.

Als ich an der Reihe war, sagte ich, mir habe imponiert, dass Frau Kramp-Karrenbauer nicht gleich beim ersten Sturm eingeknickt sei. Ein Witz, na und? Und wer schüttelt an dieser Stelle missbilligend den Kopf? Der Fraktionsvorsitzende der Union Ralph Brinkhaus. Ich dachte, ich fasse es nicht. Nach der Aufzeichnung kam er auf mich zu und sagte, ich hätte mit meiner Kritik an den Grünen ja recht, aber das könne er in einer Talkshow nicht offen sagen, das würde zu viele Stimmen kosten.

Das politische Geschäft kennt zwei sehr gegensätzliche Typen von Menschen: den Gremienarbeiter und den Rabauken. Der Gremienarbeiter verlässt sich beim Aufstieg auf die Funktionärselite, die über die Verteilung von Posten bestimmt und für die vor allem zählt, wie zuverlässig einer der Sache gedient hat, aus welchem Landesverband er kommt und welchem politischen Flügel er angehört.

Der Rabauke hingegen sucht sein Heil in der Auseinandersetzung mit dem Gegner. Er macht sein Fortkommen von der Zustimmung der Basis abhängig, was voraussetzt, dass er von dieser verstanden und respektiert wird. Der Fighter ist deshalb immer versucht, den Stimmungen und Wünschen seines Publikums zu entsprechen. Der Gremienmensch nennt das „populistisch“, der Wahlkämpfer „populär“.

Man kann gegen Merz sagen, was man will: Aber dass er sich auf die Gremien verlassen hätte, ist definitiv kein Vorwurf, den man ihm machen kann. Seine stärkste Karte war immer der Rückhalt, den er bei den Mitgliedern genoss. Ein wenig mehr Populismus könnte der CDU in ihrer jetzigen Verfassung nicht schaden.

©Michael Szyszka

Einer von uns?

Beliebter Ministerpräsident der CDU will Kanzler werden und auf den Redaktionsetagen biegen sie sich vor Lachen? Wir hatten das Stück schon mal auf der politischen Bühne. Der Kandidat hieß damals Helmut Kohl.

Armin Laschet sieht nicht so aus, wie die Leute sich einen Kanzler vorstellen. Das ist sein größter Nachteil. Das Gesicht ist zu verwaschen, der Mund zu weich. Die Gesichtszüge werden mit dem Alter auch nicht härter und kantiger, sondern allenfalls knittriger.

Die Deutschen sind, wenn es um Männer an der Macht geht, an klar geschnittene Gesichter gewöhnt, die Führung und Entschlossenheit ausstrahlen. Der ideale Kanzler war in der Hinsicht Helmut Schmidt mit dem akkuraten Seitenscheitel über dem Offiziersgesicht. Er war nicht von ungefähr für viele der Überkanzler, der dann einen einzigartigen Spätruhm genoss.

Helmut Kohl, der gerade in den Anfangsjahren ebenfalls zu sehr nach dem Genuss von Riesling und Siedewürstchen und zu wenig nach Arbeit aussah, konnte den Nachteil durch seine imposante Größe wettmachen. Laschet ist auch noch ziemlich klein. Er misst 1,72 Meter, wie ich Google entnommen habe.

Der andere Nachteil des Kanzlerkandidaten: Er ist ein fröhlicher Mensch. Bei Begegnungen lockert er die Atmosphäre oft mit einer ironischen oder selbstironischen Bemerkung auf. Ironie ist in der Politik ganz schlecht. Der fröhliche Mensch steht immer im Verdacht der Unernsthaftigkeit.

Besser ist es, man verkneift sich jedes Lachen. Wie weit man damit kommen kann, wenn man keine Miene verzieht, hat Olaf Scholz bewiesen. „Kompetenz für Deutschland“, steht auf den Plakaten. Man hätte auch draufschreiben können: Olaf Scholz, der Kanzler, der nie lacht. Was Leute wie ich als Drohung empfinden, gilt im politischen Establishment als Empfehlung.

Ich habe Armin Laschet zwei Mal getroffen. Einmal am Rande einer Veranstaltung in Berlin und einmal in einem Flieger nach München. Das Erste, was mir auffiel: Er ist wirklich nicht sehr groß. Das andere: Er hat wache, listig funkelnde Augen. Man sieht förmlich, wie er die Umgebung mustert und sich dann seinen Reim darauf macht. Beim Skat würde man ihn zu den Spielern zählen, bei denen man auf der Hut sein muss, weil sie oft noch ein Ass im Ärmel haben.

Glaubt man den Umfragen, dann ist der Wahlkampf praktisch gelaufen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Umfrageinstitut Zahlen verkündet, wonach die CDU noch tiefer gefallen ist. Es ist ein Wettbewerb. Bis vor Kurzem war es schick, die SPD herunterzuprügeln, jetzt die Union.

Laschet kann machen, was er will, es wird ins Lächerliche gezogen. Er wird als Karnevalsprinz und Funkenmariechen verspottet. Wenn er im Flutgebiet mit Halbschuhen unterwegs ist, heißt es: Warum trägt er keine Gummistiefel? Trägt er Gummistiefel, lautet der Vorwurf, er wolle sich in Szene setzen. Halbschuhe hätten es auch getan.

Vor drei Wochen stand er neben Elon Musk, dem Tesla-Milliardär aus Amerika. Als er eine Journalistenfrage zum Wasserstoff als Energieträger der Zukunft vom Deutschen ins Englische übersetzte, damit Musk darauf antworten konnte, lachte Musk.

Wie ich einem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Auftritt entnommen habe, ist Musk offenbar schwer verhaltensauffällig. Es gab praktisch keinen Augenblick, in dem er nicht das Gesicht verzog und herumhampelte. Anschließend hieß es dann, Musk habe Laschet wegen seiner Frage zum Wasserstoff ausgelacht. Der Kandidat habe sich vor aller Welt zum Gespött gemacht.

Mir kommt das seltsam bekannt vor. Wir haben das bereits einmal erlebt, als schon mal ein beliebter Ministerpräsident der CDU Kanzler werden wollte. Der Bewerber hieß damals Helmut Kohl.

Was haben sie sich auf den Redaktionsetagen nicht vor Lachen gebogen, als Kohl für die CDU als Kandidat antrat. Er war die Birne, der Tor, das Trampel – ein Politiker ohne jedes wirkliche Format, beachtlich nur wegen seiner Körpergröße. Einen „Gimpel“ nannte ihn Gerhard Schröder, da war der noch Juso-Vorsitzender und Kohl lag gerade mit Strauß im Clinch.

Auch die Rivalität mit dem großen Kurfürsten in München ist nicht ganz neu. Im Konrad- Adenauer-Haus echauffiert man sich sehr über die Querschläge aus dem Süden. Dazu kann ich nur sagen: Verglichen mit Franz Josef Strauß befleißigt sich Markus Söder geradezu vorbildlicher Zurückhaltung. Charakterlich und geistig ungeeignet, das war das Verdikt von Strauß über Kohl. Dagegen ist jede heutige Stichelei aus der CSU eine Umarmung.

Für die Linke war es immer ein Rätsel, wie Kohl so weit kommen konnte. Aus Sicht der Intellektuellen fehlte ihm alles, was einen Kanzler ausmacht: zu provinziell, zu bieder, ein Mann ohne Welt- und Weitsicht. Was die Kritiker übersahen, war, dass sich viele in dem Spott über die vermeintliche Borniertheit mitverspottet sahen. Die meisten Menschen haben nichts gegen Häkeldeckchen oder Zierfische oder Tassen mit lustigen Aufschriften, über die man in den vornehmeren Kreisen nur den Kopf schütteln kann. Die Mehrheit hält die Begonie auch nicht für eine verachtenswerte Pflanze.

Wir werden sehen, wie es dieses Mal ausgeht. Historische Vergleiche tragen immer nur begrenzt. Aber wenn man aus der Vergangenheit eines lernen kann, dann, dass eine Mehrheit der Bürger anders denkt als die Experten mit ihrem Faible für große Pläne. Hahaha, hieß es, als Laschet am Sonntag Standfestigkeit versprach gegen den Wind der Veränderung, der vielen ins Gesicht blase. Welcher Mensch sei denn gegen Veränderungen, hieß es hohnlachend. Wie gestrig, wie unfreiwillig komisch!

Auf der Linken ist ständig vom Politwechsel die Rede, dem Neustart, den es brauche, dem entschiedenen Neuanfang. Dass dies für viele keine Verheißung bedeutet, sondern eine Heimsuchung, kommt ihnen nicht in den Sinn. Es ist halt ein Unterschied, ob ich als Germanistikstudent den sozialökologischen Umbau der Gesellschaft erwarte oder als Facharbeiter, dessen Job unter die Räder kommt.

Auch Scholz verkörpert das normale Deutschland, das ist seine Stärke – allerdings in seiner protestantischen Version. Während Laschet etwas dezidiert Anti-Asketisches hat, einen Hang zur Gemütlichkeit, wo das nächste Glas Wein nie weit entfernt steht, ist bei Scholz alles Arbeit.

Scholz erinnert an den Abteilungsleiter, der einen noch nachts um eins auf der Betriebsfeier zur Seite nimmt, dass man ja nicht vergessen solle, die Hard Plugs aus dem Excelsheet zu entfernen, bevor es morgen an den Kunden geht. Dieser Mann geht erst schlafen, wenn die Vorgangsmappe abgearbeitet ist. Merkel, aber in männlich. Wenn er mit der Raute posiert, ist das keine ironische Geste, sondern ein Versprechen.

Das Problem am SPD-Kandidaten sind die Leute um ihn herum. Scholz als Kanzler, das können sich viele vorstellen. Aber der ewige Juso Kevin Kühnert als Fraktionschef und Saskia Esken, die selbsterklärte Alterspräsidentin der Antifa, als Innenministerin? Da nehmen viele lieber wieder Abstand.

Annalena Baerbock wiederum würde gerne volkstümlich wirken, es will ihr einfach nicht gelingen. Sie bemüht sich wahnsinnig, ganz normal und geerdet zu erscheinen, weshalb sie ständig auf ihre Mutterschaft und ihre Kinder zu sprechen kommt. Doch die Beispiele, die sie aus ihrem Alltag nennt, wirken seltsam konstruiert und zurechtgebogen.

Soll man wirklich annehmen, dass in Potsdam, also dort, wo sie lebt, jedes fünfte Kind so arm ist, dass es morgens kein Frühstück gibt? So hat sie es berichtet, am Sonntag während des ersten Triells: Wie sie auf dem Spielplatz sitzt und die Kinder durchzählt. Eins, zwei, drei, vier – und dann jedes Mal bei einem Kind ankommt, das sich keinen Schulranzen leisten kann und kein Knäckebrot.

Ihr Wohnort, das zur Ergänzung, zählt zu den wohlhabendsten Orten Deutschlands. Wenn es stimmt, was sie berichtet, sollte vielleicht Günther Jauch, der gleich nebenan wohnt, ein paar Millionen für die Armenspeisung in die Hand nehmen, statt mit seinem Geld ständig irgendwelche Gebäude und Kirchen zu sanieren.

Ich habe die These vom Kanzlergesicht einmal bei „Maischberger“ vertreten, zum großen Gelächter der Runde. Das zeige, wie oberflächlich ich Politik betrachten würde, hieß es. Aber ich bin überzeugt, die meisten Wähler denken so wie ich. Sie schauen auf den Mann oder die Frau an der Spitze und fragen sich: Ist das jemand von uns? Versteht dieser Mensch mich und meine Welt? Dann machen sie ihr Kreuz.

©Michael Szyszka

Weisheit der Straße

Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für einen Kandidaten entscheiden?

Anfang der Woche kündigte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Live-Gespräche mit den Spitzenkandidaten der Parteien an. „Damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich vor der Wahl eine umfassende Meinung bilden können, hat die F.A.Z. ein neues Format ins Leben gerufen“, hieß es in einem Schreiben an die Abonnenten. „In vier Veranstaltungen stellen wir den Kandidaten Fragen zu Programmen, Auftreten und aktuellen Entwicklungen, die Sie gerne vorab einreichen können.“

Den Auftakt machte am Mittwoch Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union. In den nächsten Wochen folgen FDP-Chef Christian Lindner, der SPD-Kandidat Olaf Scholz und für die Grünen der Parteivorsitzende Robert Habeck. Moment, wird sich jetzt der eine oder andere sagen: Was ist denn das für eine Auswahl? Das geht ja gar nicht: eine reine Männerrunde. Die Grünen haben doch extra eine Spitzenkandidatin benannt, um sicherzustellen, dass auf Angela Merkel wieder eine Frau im Kanzleramt folgt.

Wie sich herausstellte, hatten die Grünen in letzter Minute Robert Habeck als Spitzenkandidaten benannt. Auf Angela Merkel geht die Erfindung der asymmetrischen Demobilisierung zurück, also der Langeweile als Wahlkampf-Mittel, um die Leute so zu ermüden, dass sie ihr Kreuz da setzen, wo sie es immer gesetzt haben. Die Grünen sind jetzt noch einen Schritt weiter: Sie machen ihre Kanzlerkandidatin einfach unsichtbar. Wer nicht mehr auftaucht, kann auch nichts Falsches mehr sagen.

Allenthalben wird über den Wahlkampf geklagt: zu wenig Inhalt, zu wenig Debatte, statt den großen Zukunftsfragen nur Nicklichkeiten und Klein-Klein. Täglich bombardieren einen die Medien mit neuen Hiobsbotschaften von der Klima- front. Und worüber streiten die Wahlkämpfer? Die religiöse Überzeugung von Laschets Spindoktor und die Irregularitäten bei Baerbocks Stipendium!

Als vorläufiger Tiefpunkt gilt ein ZDF-Sommerinterview mit Habeck. Einige besonders enthusiastische Beobachter maßen mit Stoppuhr in der Hand, wie lange die ZDF-Redakteurin den Parteivorsitzenden zu den Problemen des grünen Wahlkampfs befragte, statt zu den wirklich drängenden Fragen vorzustoßen (den Klimawandel und, nun ja, den Klimawandel). Die Uhr hielt bei 9:20 Minuten.

„Aktivismus für das Weiter-So“ beziehungsweise „Parteilichkeit für die Verdrängung“, nannte der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“, Bernd Ulrich, die kritische Befragung, worauf sich die angegriffene Redakteurin genötigt sah, ihre Interviewführung in einer Selbsterklärung zu rechtfertigen.

Was Aktivismus angeht, kennt sich Ulrich aus, sollte man vielleicht dazu sagen. Der Mann hat gerade gemeinsam mit Deutschlands führender Klimaaktivistin, der Grünen Luisa Neubauer, ein Buch in den Handel gebracht. Dass Journalisten den Drang verspüren, sich der guten Sache zu verschreiben, kennt man. Dass ein leitender Redakteur der „Zeit“ im Wahlkampf mit einer von ihm favorisierten Lobbyistin über die ideelle auch eine finanzielle Verwertungsgemeinschaft begründet, darf man als Neuerung sehen. So gesehen hält der Wahlkampf doch Überraschungen bereit.

Ich muss an dieser Stelle ein Geständnis machen. Es mag furchtbar oberflächlich erscheinen, aber mich interessiert die Frage, weshalb man bei den Grünen nicht Indianerhäuptling sagen darf, wie es sich mit Annalena Baerbocks Ausbildung verhält oder warum Armin Laschet auf Fotos immer eine so unglückliche Figur macht, mindestens so sehr wie die Vorschläge zur Lösung der Klimakrise.

Die Lösung kenne ich ja im Zweifel. Nach den Kernkraftwerken werden alle Kohle- und Gaskraftwerke abgeschaltet sowie ein Großteil der deutschen Autokonzerne lahmgelegt, damit Deutschland zum Klimaschutzstar aufsteigt. Vor dem dann wiederum die Chinesen bewundernd den Hut ziehen und sich sagen: „Wir lassen uns doch von den Deutschen bei der Energiewende nicht den Schneid abkaufen. Wenn die ihre Kohlekraft- werke ab 2030 stilllegen, dann ma-chen wir das schon nächstes Jahr!“

Nur weil sich Journalisten rasend für Politik interessieren, heißt das noch nicht, dass auch die normalen Leute das tun. Viele haben gar nicht die Zeit dafür. Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Die Zahl habe ich von Paul Ziemiak, dem Generalsekretär der CDU, und der muss es wissen.

Auch die Bekanntheit von Politikern wird gnadenlos überschätzt. Der „Spiegel“ hat einmal für einen Wissenstest nach den Namen der deutschen Ministerpräsidenten gefragt. Über 40 Prozent der Hessen konnten nicht sagen, wie ihr Regierungschef heißt. In Hamburg waren 50 Prozent ahnungslos, was den Namen des Stadtoberhauptes angeht. Am besten schnitt Horst Seehofer ab. Den konnte eine deutliche Mehrheit der Bayern auf Nachfrage als den Mann benennen, der sie regiert. Da war er allerdings schon als Bundesinnenminister nach Berlin gewechselt.

Normalerweise fällt es nicht so auf, wie unbekannt viele Politiker sind, weil man den Befragten am Telefon Namen und Funktion nennt, wenn man ihre Meinung in Erfahrung bringen will. Man nennt das „gestützte Umfragen“. Trotz der Hilfestellung (und der menschlichen Eigenschaft, Wissenslücken nicht freiwillig zu offenbaren) ist auch hier der Anteil der Unwissenden erstaunlich hoch.

Bei der berühmten „Spiegel“-Treppe, auf der Politiker nach Beliebtheit aufgereiht sind, sagten zum Jahreswechsel bei Heiko Maas 14 Prozent der Befragten, dieser Politiker sei ihnen unbekannt. Bei Olaf Scholz waren es 11 Prozent, bei Annalena Baerbock: 39 Prozent. Es dauert halt wahnsinnig lange, bis man sich als Politiker einen Namen gemacht hat. Deshalb hänge ich als Kolumnist ja auch so an bekannten Gesichtern. Der Tag, als Claudia Roth in die zweite Reihe verschwand, war für mich Karfreitag und Volkstrauertag in einem.

Wenn über ein Drittel der Wähler zu Beginn des Wahlkampfs keinen Schimmer hat, wen die Grünen da als Spitzenkandidatin ins Rennen geschickt haben, ahnt man, wie viel bis September noch in Bewegung ist. Erfolg und Misserfolg in den Umfragen sind zum Gutteil eine Frage des Timings, deshalb liegen sie auch so oft daneben.

Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für eine Partei oder einen Kandidaten entscheiden? Die großen Themen sind es jedenfalls nicht, auch wenn in den Zeitungen gerne das Gegenteil behauptet wird. Wofür Parteien wie die CDU oder die Grünen stehen, ist den meisten mehr oder weniger bekannt. Das ist der Vorteil an eingeführten Marken. Der Blick richtet sich auf den Mann oder die Frau an der Spitze. Das ist die große Unbekannte.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich mir auch wün-schen, die Journalisten würden endlich aufhören, nach den Flunkereien oder Pannen im Wahlkampf zu fragen. Ich gehöre allerdings zu den Menschen, die wissen möchten, was für eine Person das ist, die sagt, dass sie das Land regieren will.

Für die großen politischen Fragen mag es unerheblich sein, ob Annalena Baerbock ihren Lebenslauf geschönt hat oder Armin Laschet im falschen Moment lacht. Aber um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die sich anschicken, das Kanzleramt zu übernehmen, können solche scheinbar nebensächlichen Begebenheiten durchaus hilfreich sein. Es sind manchmal die kleinen Gesten, die einen Blick hinter die sorgfältig kultivierte Fassade erlauben.

Ist es ungerecht, jemanden nach einem Fehlgriff oder einer unbedachten Äußerung zu beurteilen? Natürlich ist es das. Aber ist es besser, den Strategen und Beratern zu vertrauen, die ein möglichst perfektes Bild von ihrem Kandidaten zu zeichnen versuchen? Gegen die Welt der Plakate und hehren Versprechungen hilft manchmal nur der genaue Blick auf die Abweichung. Man kann das die Weisheit der Straße nennen.

©MICHAEL SZYSZKA

Die Kirche der Erwachten

Würden Rockstars wie Jim Morrison von den Doors heute auftreten, würden sie sofort von der Bühne geholt werden, und zwar von links. Weißer Cisgender-Mann retraumatisiert Opfer von MeToo! Ewiges Auftrittsverbot wäre das Mindeste

Reden wir zur Abwechslung mal über Latex. Latex wird aus dem Saft des Gummibaums gewonnen und lässt sich zu eng anliegenden Kleidungsstücken verarbeiten, die sich in Fetischkreisen großer Beliebtheit erfreuen.

Es gibt eine nicht unbedeutende Szene, die über eigene Zeitschriften, Treffpunkte und Idole verfügt. Ich will hier nicht in die Einzelheiten gehen, schließlich ist dies eine Familienzeitschrift. Aber die Freunde des Latex attestieren dem Werkstoff wundersame Wirkungen auf das Liebesleben.

Wie jede Subkultur sucht auch die Latexszene Sichtbarkeit und Anerkennung. Wer auf den Kontakt mit Gummi schwört, hat schließlich genauso ein Anrecht darauf, von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden, wie, sagen wir, die Freunde der Taxidermie oder der Philatelie. Lange übrigens nichts mehr von Philatelisten gehört. Gibt es die überhaupt noch?

Am vorletzten Wochenende sollte eine große Latexparty im Strandbad am Berliner Plötzensee stattfinden. Alles war vorbereitet. Auch die Anwohner der anliegenden Kleingartenkolonie hatten ihre Einwilligung gegeben. Man ist schließlich in Berlin und nicht in Kleinwummersdorf.

Wobei genau das nach dem Wochenende infrage steht. Die Parade musste in letzter Sekunde abgesagt werden. Die grüne Umweltstadträtin Sabine Weißler äußerte Bedenken. Lärmschutz und Landschaftsschutz gingen vor. Es sei nicht auszuschließen, dass die Grünflächen Schaden erlitten. Also aus für die „Tropicalia“.

Im „Tagesspiegel“ habe ich ein Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Senioren-Union, Wolfram Wickert, zu dem Thema gelesen. Herr Wickert ist nicht nur der Bruder des bekannten Fernsehmoderators Ulrich Wickert, sondern erkennbar auch ein Mann, dem die Freiheitsrechte des Bürgers am Herzen liegen.

Der Berliner sei fröhlich und witzig, befand Herr Wickert von der Berliner CDU, aber das, was die rot-grüne Regierung politisch mache, habe damit nichts tun: „Kein Witz, keine Schlagfertigkeit, nur Verwalterei. Alles wird verboten, quotiert, unmöglich gemacht. Das schränkt einen so ein, das schränkt diese Stadt ein, auch geistig und kulturell.“

Kann man sich ein besseres Sinnbild für die Verdrehtheit der politischen Verhältnisse denken? Die Senioren in der CDU machen sich für das Recht auf Fetischparty stark – gegen die Grünen, die meinen: Unser Strandbad muss sauber bleiben!

Wann sind sie links der Mitte so falsch abgebogen, dass sie heute so weit rechts rauskommen, dass selbst ihre erzkonservativen Eltern dagegen wie liberale Freigeister wirken? Ich stehe da wirklich vor einem Rätsel. Vielleicht waren die Eltern von Leuten wie Frau Weißler Achtundsechziger, und sie zahlen es ihnen jetzt heim, indem sie extraverkniffen auftreten.

Es bleibt ja nicht beim Partymachen. Grundsätzlich steht jede Lebensäußerung, die zu laut oder zu grell oder überhaupt zu unbedacht ist, unter Beobachtung.

Vor einigen Tagen war der 50. Todestag von Jim Morrison, dem Sänger der Doors. Sowohl in der „FAZ“ als auch in der „SZ“ erschienen seitenlange Huldigungen. In dem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ wurde an einen Auftritt erinnert, bei dem sich Morrison vor dem Publikum entblößt und sein Geschlechtsteil präsentiert haben soll.

Stellen Sie sich das heute mal vor. Den Skandal kann man gar nicht ermessen. Weißer Cisgender-Mann retraumatisiert Opfer der MeToo-Kampagne! Ewiges Auftrittsverbot wäre das Mindeste.

Man könnte Beispiel an Beispiel reihen. In der „Welt“ hat die Redakteurin Anna Schneider eine ganze Liste von Vorfällen erstellt, bei denen sich Musiker entschuldigen mussten, weil sie a: die falschen Worte wählten. Oder b: einer Handlung bezichtigt wurden, die heute als unangemessen gilt.

Billie Eilish musste sich bei den Fans entschuldigen, weil sie als 13-Jährige mal die Lippen zu einem Lied bewegt hat, in dem sich über Asiaten lustig gemacht wurde. Justin Bieber musste sich erklären, weil er als Weißer Dreadlocks trägt. Winston Marshall, Mitglied der Folkband Mumford & Sons, musste sich rechtfertigen, weil er das Buch eines konservativen Autors gelobt hatte. Er hat dann die Band verlassen. Eminem musste sich dafür erklären, dass in seinen Liedern so oft Gewalt gegen Frauen vorkommt. Und so weiter und so fort.

Eines steht schon mal fest: Musikagent ist auch kein Job mit Glamour mehr. Früher musste man im schlimmsten Fall die Rechnung begleichen, wenn die Rockband das Hotelzimmer zerlegt hatte. Aber bei jedem Satz darauf achten, dass sich der Schützling nicht um Kopf und Kragen redet? Da wird man besser Gouvernante. Oder Sittenwächter.

Ich glaube, das Ganze ist nur psychologisch zu erklären. Viele Leute, die bei der neuen Linken heute den Ton angeben, laborieren an Problemen, für die man früher einen Therapeuten aufgesucht hätte. Man soll nicht pathologisieren, schon klar. Aber in dem Fall sagen es die Betroffenen ja selbst: Bereits ein Begriff könne ausreichen, alte Wunden aufzureißen und überwundene Traumata wiederzubeleben. Wenn das nicht pathologisch ist, dann weiß ich auch nicht.

Im Englischen hat sich für die Anhänger der neuen Linken der Begriff „Woke“ eingebürgert. „Woke“ heißt so viel wie „wach“ oder „erleuchtet“. Das klingt nicht von ungefähr nach Sekte.

Warum sich Menschen einer Sekte anschließen, ist gut erforscht. Die neue Glaubensgemeinschaft gibt ihnen Halt und endlich Antworten auf unbeantwortete Fragen. Dazu kommt ein Gefühl des Auserwähltseins. Kritik von außen bestätigt die Anhänger nur in ihrer Überzeugung. Wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt, verdient es, bestraft zu werden.

Das eigentliche Rätsel ist, wie es solchen Leuten gelingen konnte, ganze Parteien zu kapern. Welche Tür in die Dunkelheit man aufstößt, wenn man sich mit den Truppen der Wokeness einlässt, hat gerade die Kanzlerkandidatin der Grünen erfahren. Acht Tweets brauchte Annalena Baerbock, um zu erklären, warum sie in einem Interview ein Wort benutzt hatte, das man in dieser Welt nicht mehr benutzen darf.

Frau Baerbock hatte das N-Wort verwendet. Beziehungsweise: Sie hatte es, in Anführungszeichen gesetzt, ausgesprochen, um auf einen Fall von Rassismus aufmerksam zu machen. Sie hatte weder das Wort einfach gedankenlos genannt noch jemanden beleidigen wollen. Sie hatte nur einen aus ihrer Sicht empörenden Vorfall geschildert, in dem jemand den Begriff „Neger“ benutzte.

Folgt man Frau Baerbocks Selbsterklärung, gibt es also Wörter, deren negative Kraft so stark ist, dass sie selbst als Zitat verheerende Wirkung haben, weshalb man sie am besten ganz aus den Gedanken verbannt. Das stellt nicht nur die Geschichtswissenschaft vor neue Herausforderungen, sondern den politischen Diskurs insgesamt. Magisches Denken ist hier bislang nicht vorgesehen.

Auf LinkedIn ging diese Woche ein Text viral, in dem ein Nutzer daran erinnerte, dass man auch ein freundlicher, mitfühlender Mensch sein kann, ohne das ständig unter Beweis stellen zu müssen. „Ich komme aus einer Generation, die David Bowie, Lou Reed hörte und liebte und sich nie das Problem stellte, was für sexuelle Vorlieben sie hatten“, schrieb der Mann.„Es war uns egal, wir waren zufrieden und selig, weil ihre Musik uns berührte, Elton John, Freddie Mercury und George Michael. Und als Jimmy Somerville uns seine Geschichte als Kleinstadtjunge erzählte, waren wir gerührt und haben mitgesungen. Und es gab keine Gesetze, die uns zwingen sollten, solidarisch zu sein oder an einem ‚Zeichen gegen…‘ teilzunehmen.“

Offenbar hat der Autor einen Nerv getroffen. Der Text wurde vielfach geteilt. Aber ich fürchte, es beweist aus Sicht der Erwachten lediglich, wie rückschrittlich viele Menschen noch immer denken.

Am besten hören wir nur noch Meditationsmusik. Da kann nichts schiefgehen. Das Zirpen der Grillen, dazu ein sanftes „Om“. Ist auch lärm- und naturschutzverträglich. Da kann nicht einmal Frau Weißler aus Berlin-Mitte etwas dagegen einwenden.

©Silke Werzinger

Spinnt Spahn?

Der Kolumnist hat nie zu denen gehört, die den Gesundheitsminister für jeden Fehler in der Krise verantwortlich machten. Aber jetzt reicht es ihm. Solange Jens Spahn dabei ist, wird er im September alles wählen, aber nicht die Union

Führt die Regierung einen heimlichen Feldzug gegen Kinder? Haben die Kinder irgendetwas getan, wofür man sich in Berlin meint rächen zu müssen? Das frage ich mich inzwischen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war am Wochenende bei der Evangelischen Akademie Tutzing zu Gast. Das Thema lautete „Nach Corona?“. Erst sprach Wolfgang Thierse, früher Bundestagspräsident und heute Leiter des Politischen Clubs der Akademie, ein paar Einleitungssätze. Danach war Spahn an der Reihe.

Der Minister zog zunächst eine positive Bilanz. Nie sei das Gesundheitssystem so überlastet gewesen, dass man Patienten hätte abweisen müssen. Die Wissenschaft habe eine wichtige Rolle gespielt. Auch der Zusammenhalt der Gesellschaft sei etwas, worauf man stolz sein könne.

Dann kam er auf die Delta-Variante zu sprechen. Schulen seien Drehscheiben des Virus in die Haushalte hinein, sagte Spahn. Da man unter 12-Jährige nicht impfen könne, werde man nach den Sommerferien wieder Schutzmaßnahmen brauchen: Masken, Abstand, Wechselunterricht.

Als ich das erste Mal von dem Auftritt hörte, dachte ich, das sei ein Scherz. Rückkehr zum Wechselunterricht? Weiß der Minister, wovon er redet? Kennt er die Wirklichkeit in den Schulen?

Meine Schwiegermutter war bis vor Kurzem Lehrerin an einer Grundschule in Bayern. Ihre beste Freundin hat noch zwei Jahre bis zur Pensionierung. Sie hat ihre Schüler jetzt zum ersten Mal seit einem Jahr in der Klasse ohne Maske gesehen. Es war für alle ein bewegender Moment. Einige Kinder wussten gar nicht, dass es Unterricht ohne Maske gibt.

Und das soll jetzt wieder alles von vorne beginnen?

Man muss in der Zeitung nur umblättern, um von der Ankündigung über die Wiedereinführung des Wechselunterrichts zu dem Bericht über die psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen zu gelangen. Die Zahl der psychisch auffälligen Kinder ist inzwischen so groß, dass nur wer akut in Not ist, einen Therapieplatz bekommt. „Akut in Not“ heißt: selbstmordgefährdet.

Auch Kinder, die nicht an Depressionen leiden, haben es schwer, in den Schulalltag zurückzufinden. Am Wochenende wurde eine Studie publik, wonach die Qualität des Distanzunterrichtes dem von Sommerferien entsprach. Jeder weiß, wie viel in den Sommerferien gelernt wird.

Es ist nicht so, dass die Regierung kein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen in der Pandemie hätte. Fußballfans liegen ihr sehr am Herzen. In München lagen sich 14000 Menschen nach dem Sieg über Portugal in den Armen. Das Stadion ist keine Drehscheibe des Virus, es ist ein Drehkreuz. Aber man will ja kein Spielverderber sein. Außerdem gibt es Wichtigeres zu diskutieren als den Infektionsschutz, die Frage der angemessenen Stadionbeleuchtung zum Beispiel.

Man kann sogar nach London reisen, um dort der Siegermannschaft zuzujubeln. England steht wegen der Delta-Mutante auf der Skala der Risikogebiete als Virusvariantengebiet auf der höchsten Stufe. Die Bundesregierung rät von Reisen nach London ab. Aber es ist auch nicht so, dass man den Reiseverkehr unterbinden würde oder die Schlachtenbummler anschließend in Quarantäne nähme. Mit der UEFA will es sich niemand verscherzen. Deshalb fragt man auch vorsichtshalber um Genehmigung, bevor man das Stadion in den Farben des Regenbogens erstrahlen lässt.

Politik diene den Menschen, heißt es gern. Vor allem dient sie den Gruppen, die sich besonders lautstark in Erinnerung bringen. Ganz oben in der Gunst stehen Friseure, wie man jetzt weiß. Auch die Besitzer von Baumärkten haben mächtige Fürsprecher. Ziemlich weit hinten finden sich Künstler, Autoren, Freischaffende. Ganz unten rangieren Familien.

Am Ende ist Politik ein Rechenspiel. Es gibt 22 Millionen Rentner, das ist der mit Abstand wichtigste Wählerblock. Wer die Rentner auf seiner Seite hat, der sitzt praktisch schon im Kanzleramt. Wenn ich als Politiker vor der Wahl stünde, was ich als Erstes öffne, Kreuzfahrtschiffe oder Klassenräume, ich wüsste auch, wofür ich mich entscheiden würde.

Ich habe nie zu denen gehört, die alles, was schiefläuft, an Spahn aufhängen. Als man ihm aus den Maskendeals einen Strick drehen wollte, war ich im Lager derjenigen, die Verständnis für die Eile beim Einkauf hatten. Ich fand auch den Vorwurf überzogen, er habe an Obdachlose minderwertige Masken abgeben lassen, weil die nicht ausreichend darauf getestet wurden, ob sie bei 70 Grad noch einwandfrei funktionieren.

Selbst als herauskam, dass sein Ministerium Millionen mit Schnelltests in den Sand gesetzt hat, da man bei der Erstattung der Kosten die einfachsten Plausibilitätchecks unterließ, dachte ich: Okay, nicht schön, aber für jeden ist das die erste Pandemie, auch für die Beamten im Gesundheitsministerium. Inzwischen denke ich, dass Spahn als Minister einfach heillos überfordert ist.

Was soll das heißen: die Schulen seien Drehscheibe des Virus in die Haushalte hinein? Wollen wir erst dann über eine Rückkehr zur Normalität reden, wenn sich niemand mehr ansteckt? Was wäre der richtige Zeitpunkt? Wenn sich die sogenannte Herdenimmunität einstellt? Ob die je erreicht werden kann, daran haben die Virologen große Zweifel.

Am Montag hat Spahn seine Ankündigung relativiert. Er findet jetzt auch, dass es wichtig sei, die Schulen offen zu halten. Ich glaube, er sagt das nur, weil er weiteren Ärger vermeiden will. Die Zahl der Infektionen hat sich über das Wochenende ja nicht geändert. Auch die Voraussagen über die Verbreitung der indischen Mutante sind die gleichen geblieben.

Was mich rasend macht, ist die Mischung aus Fatalismus und Nonchalance. Wann habe ich das erste Mal einen Artikel über die segensreiche Wirkung von Luftfiltern gelesen? Im Sommer 2020? 3500 Euro kostet ein Gerät, das alle Schadstoffe so verlässlich aus der Luft filtert, dass 99 Prozent der Viren hängen bleiben. Selbst das „Cafe Luitpold“ am Münchner Odeonsplatz hat sich so einen Kasten angeschafft, damit die Kundschaft unbehelligt von Aerosolen den Kuchen genießen kann. Aber für unsere Kinder ist uns die Anschaffung zu kostspielig?

Vor ein paar Monaten stand in der Zeitung die Geschichte eines Unternehmers, der die Untätigkeit nicht mehr ertrug und deshalb der Schule seines Sohnes ein Dutzend Geräte schenkte. Kaum waren die Filteranlagen geliefert, trat die Schulverwaltung auf den Plan und verbot die Aufstellung. Man könne nicht ausschließen, dass die Stromleitungen überlastet würden. Vor dem Kampf gegen das Virus steht in Deutschland immer noch die Brandschutzverordnung.

Man kann sagen: Gut, Spahn, der ist Gesundheitsminister, was hat der schon bei den Schulen zu entscheiden? Auch mein Zutrauen in die Kultusminister geht gegen null. Alle behaupten, das Schicksal der Schulkinder sei ihnen wichtig, man wolle die Schulen auf keinen Fall wieder schließen. Aber ich glaube, genau so wird es kommen. So wie ich die Kultusminister kenne, werden sie sich jetzt in die Sommerferien verabschieden, um mit Beginn des neuen Schuljahres dann erstaunt festzustellen, dass die Infektionszahlen im Herbst ja wieder steigen.

Meine Frau hat eigentlich immer die Union gewählt. „Solange Spahn dabei ist, wähle ich sie nicht mehr“, erklärte sie am Wochenende. Ich habe ihr beigepflichtet. Es ist ungerecht, den angesammelten Ärger an einer Person festzumachen, aber das ist nun einmal das Privileg des Wählers. Auf die Stimmen der Familie Fleischhauer wird die Union im September verzichten müssen.

©Sören Kunz

Merkel kaputt

Nichts geht voran, alles misslingt: Mittlerweile nimmt die Untätigkeit der Regierung Merkel groteske Züge an. Aber statt den Kurs zu ändern, schottet sich die Kanzlerin einfach gegen die Wirklichkeit ab

In den letzten Monaten seiner Kanzlerschaft war Helmut Kohl vor allem mit sich selbst beschäftigt. Gegen die Welt außer halb des Kanzleramts richtete sich der Kanzler der Einheit in einer heimeligen Gegenwirklichkeit ein, in der alle Störungen auf ein Minimum reduziert waren.

Besucher bekamen den guten Rat, ihr Anliegen in wenigen knappen Sätzen vorzutragen, weil sie danach nicht mehr zu Wort kämen. Am Abend versammelten sich die Getreuen im Kanzlerbungalow, wo sie dann den immer gleichen Geschichten und Anekdoten lauschten, bis der Chef endlich die Runde aufhob.

Es soll vorgekommen sein, dass sich der pflichtergebene Kanzleramtschef Friedrich Bohl unter dem Tisch eine Nadel in den Schenkel rammte, um sich vor dem Einschlafen zu bewahren. Vorzeitige Absentierungen waren möglich, wurden aber als Unartigkeit beziehungsweise charakterliche Unzuverlässigkeit vermerkt.

Je länger ich Angela Merkel beobachte, desto mehr fühle ich mich an die Endphase der Amtszeit Kohl erinnert. Größere Zusammenkünfte in trauter Runde müssen Coronabedingt unterbleiben. Merkel neigt auch nicht zum ausufernden Vortrag, in der Hinsicht ist sie bis heute diszipliniert. Aber was den Blick auf sich selbst angeht, hat sie die gleiche Rührung erfasst, die Kohl heimsuchte. Man muss nur eines der Interviews lesen, die sie in den letzten Wochen gegeben hat, um eine Ahnung zu bekommen, wie dankbar sie sich ist.

Leider verbindet Kohl und Merkel auch der Attentismus der Spätphase. Nichts geht voran, alles misslingt. Aber irgendwie ist das auch egal. Gerade wurde die Ausgabe von Selbsttests ein weiteres Mal verschoben. Der brave Jens Spahn hatte den Start für den 1. März verkündet. Endlich mal ein Erfolg, dachte er. Dann pfiff ihn die Kanzlerin zurück. Jetzt soll es nächste Woche losgehen. Oder Ende März. Das dafür aber ganz sicher. Also vielleicht.

Ich habe Angela Merkel immer gegen die Kritiker verteidigt, die glauben, dass die CDU zur alten Größe zurückfände, wenn sie nur endlich die Veränderungen rückgängig machen würde, die Merkel der Partei zugemutet hat. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es besser wäre, die Bundeskanzlerin würde möglichst bald ihren verdienten Ruhestand antreten. Jeder Tag mit ihr an der Spitze ist für das Land ein verlorener Tag.

Auch bei Kohl zählten die Beobachter am Ende die Tage bis zum Schluss. Der Unterschied ist allerdings: Bei Kohl steckte das Land nicht in seiner schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Reformstau, der ihm zur Last gelegt wurde, war eine verschleppte Steuerreform. Was wären wir froh, wir hätten es nur mit einer Flaute im Steuerrecht zu tun. Der Merkel Stillstand kostet Menschen buchstäblich die Existenzgrundlage.

Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht in Rage schreibe. Zu viel Emotion ist als Kolumnist nicht bekömmlich. Ich schalte den Fernseher aus, wenn Angela Merkel auftaucht. Ich ertrage es einfach nicht mehr: die tantenhafte Selbstzufriedenheit, mit der jede Nachfrage weggebügelt wird, die Nachlässigkeit in der Wortwahl, die ein fundamentales Desinteresse an den Folgen der eigenen Politik verrät.

Wenn Angela Merkel in einem Nebensatz fallen lässt, dass man Schulen, Theater und Sportvereine öffnen werde „und eines Tages die Hotels“, ist das für Menschen, deren Existenz an so einem Hotel hängt, ein Satz, der sie um den Schlaf bringt. Eines Tages? Auf FOCUS Online kam eine Hotelbesitzerin zu Wort, die berichtete, dass sie von diesem Satz jetzt nachts träume.

Vielleicht gibt es eine Altersgrenze, die man als Regierungschef nicht überschreiten sollte. Möglicherweise stumpft einen der Job auch einfach ab. Kanzler können nicht jeden Tag in Tränen zerfließen. Wer Entscheidungen treffen muss, die tief in das Leben anderer Leute eingreifen, braucht eine gewisse Härte und auch innere Kälte. Aber man sollte als Kanzler zumindest zu erkennen geben können, dass man weiß, was man den Bürgern zumutet.

Mittlerweile nimmt die Untätigkeit groteske Züge an. Seit Wochen heißt es, der Inzidenzwert müsse stabil bei 35 liegen, weil alles an der Funktionstüchtigkeit der Gesundheitsämter hänge. Aber wenn es darum geht, die Gesundheitsämter in die Lage zu versetzen, ihrer Arbeit nachzugehen, fühlt sich niemand in der Regierung zuständig.

Die „Welt am Sonntag“ hat vorletzte Woche bei den Ämtern nachgefragt, wie viele die neue Software benutzen, damit es endlich bei der Kontaktverfolgung vorangeht. Antwort: 84 der insgesamt 375 Gesundheitsämter in Deutschland haben das Programm in Betrieb. Ein Drittel hat noch nicht einmal die notwendigen Verträge unterzeichnet.

Viele Behörden vertrauen lieber weiter auf das Papierverfahren, bei dem der Namen der Infizierten und ihrer Angehörigen auf 16 verschiedenen Formularen eingetragen werden muss. Ein Gesetz würde reichen, um diesen Irrsinn abzustellen. Aber niemand in Berlin kann sich dazu aufraffen, es auf den Weg zu bringen. Lieber wird der Stillstand verlängert.

Es gibt keine Idee, keinen Plan, wie es weitergehen soll. Um Fragen zu entgehen, schottet man sich ab. Mitte Februar waren die Vertreter von 40 Wirtschaftsverbänden in Berlin. Gerne hätten die Unternehmer ihre Kanzlerin gesprochen, um ihr zur schildern, wie die Welt außerhalb des Kanzleramts aussieht. Merkel fand leider keine Zeit für ein Treffen.

Statt ihrer musste der arme Peter Altmaier ran, von dem jeder weiß, dass er schon mit der Auszahlung der versprochenen Nothilfen überfordert ist. Der Mann gibt eine so traurige Figur ab, dass die nach Berlin gereisten Wirtschaftsvertreter jeden Rabbatz unterließen, aus Angst, der Minister würde unter dem Druck zusammenbrechen.

Es gibt auch eine bemerkenswerte Regression ins Nationale. Andere Länder sind entweder zu klein oder zu groß oder zu asiatisch, um sie mit Deutschland zu vergleichen. So sitzt die Kanzlerin in kleiner Runde und diskutiert statt Impfstrategien lieber hingebungsvoll Lockdown Szenarien. Soll man den Bürgern den Zugang zu Klobrillen und Kabelschneidern ermöglichen oder auch zu Büchern? Und was ist wichtiger für die Volkshygiene: Friseure oder Fußpfleger? Wenn es nicht so schrecklich wäre, man fände aus dem Lachen kaum heraus.

Mir ist unbegreiflich, dass über 60 Prozent der Deutschen in Umfragen immer noch Vertrauen in die Führungskraft der Regierung bekunden. Was ist mit den Menschen los? Muss man ihnen erst eine Fliegerbombe aufs Haus werfen, dass sie die viel gelobte Umsicht der Regierungschefin in Zweifel ziehen?

Andererseits: Einem Gutteil der Wähler geht es wie der Kanzlerin. Sie spüren von den verhängten Maßnahmen nicht viel. Wer älter als 60 Jahre ist, braucht keine Bars und Clubs. Er findet es im Gegenteil ganz angenehm, wenn das Leben ein wenig runtergedimmt ist. Das nimmt einem das Gefühl, etwas verpasst zu haben.

Mit der Stilllegung der Innenstädte geht auch eine spürbare Reduktion des Geräuschpegels einher. Wer eine Vorstellung davon bekommen will, wie die grüne Idealstadt aussieht, der muss sich nur Berlin unter Corona Bedingungen ansehen. Mein Traum von Großstadt ist das nicht, aber ich komme ja auch nicht aus Baden-Württemberg oder der ostdeutschen Provinz.

Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen Helmut Kohl und Angela Merkel, das sollte nicht unerwähnt bleiben. Hinter Kohl waren in den Medien am Ende alle her. „Kohls Macht zerfällt“, „Wie lange noch?“, „Kohl kaputt“, lauteten typische „Spiegel“ Zeilen in den neunziger Jahren. An Angela Merkel traut sich kaum einer heran, auch der „Spiegel“ nicht.

Angeblich ist die Kanzlerin neulich einmal emotional geworden. Als ihr Manuela Schwesig vorhielt, sie würde nicht an die Kinder denken, soll sie geantwortet haben, sie lasse sich nicht anhängen, dass sie Kinder quäle. So rapportierten es jedenfalls die Zeitungen. Endlich einmal Merkel mit Herz! Man konnte förmlich den Seufzer der Erleichterung hören, der durch die Redaktionsstuben ging.

Deutschland, deine Nervensägen

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Wer ist dem Kolumnisten 2019 besonders aufgefallen, wer gehört zu den Auf- oder Absteigern?

Das Stadtmagazin „tip Berlin“ veröffentlicht einmal im Jahr eine Liste der „100 peinlichsten Berliner“. Wer es auf die Liste geschafft hat, der gilt in der Hauptstadt etwas, und sei es als Ärgernis. Diese Kolumne nimmt die Idee auf und präsentiert zum Jahresausklang fünf Menschen, die im Ruf stehen, besonders klug oder sympathisch zu sein, in Wahrheit aber furchtbare Nervensägen sind.

Heiko Maas, Außenminister

Gerade eben war er noch der Jogi Löw der Sozialdemokratie: der nette Junge aus dem Saarland mit der feschen Freundin und den etwas zu eng geschnittenen Hemden. Dann gab er plötzlich den Bad-Boy-Maas. Flog nach Ankara und posierte mit dem türkischen Außenminister, um klarzumachen, dass er die Richtlinien der Außenpolitik bestimmt und nicht etwa die Verteidigungsministerin. Schrieb Beiträge zum Mauerfall, in denen er aller Welt für das Geschenk der Einheit dankte, aber die Amerikaner bewusst ausließ. „Was kommt als Nächstes?“, fragte man sich. Sauna-Abende mit Xi Jinping? Ein Aufsichtsratsposten in einem chinesischen Staatsunternehmen?

Offenbar sieht Heiko Maas seine Zukunft doch eher als die Margot Käßmann der deutschen Außenpolitik. „Militärisch Frieden schaffen hat noch nie funktioniert“, erklärte er jetzt, was nicht nur mehrfach widerlegt ist, sondern auch eine erstaunliche Unkenntnis der deutschen Geschichte beweist. Aber wie das so ist mit dem EKD-Pazifismus: Wichtiger als das, was stimmt, ist das, was stimmen sollte.

Rezo, Berufsjugendlicher

Es gibt in der Musik das Phänomen des „One Hit Wonders“: ein Sommer lang ein Song, den alle mitsummen. Dann tingelt man 20 Jahre durch die Lande, und bei jedem Auftritt sagen die Leute: „Mensch, das ist doch ,Mambo Number 5‘, wie hieß noch mal der Sänger?“

Der Lou Bega des Journalismus heißt Rezo. „Die Zerstörung der CDU“ war nicht nur das meistgeklickte YouTube-Video des Jahres 2019: Es machte den Mann mit der blauen Haartolle über Nacht zur politischen Instanz, die zu allem um Auskunft gebeten wurde, was eine Stimme der YouTube-Generation verlangte – die Zukunft der Medien, die Krise der Demokratie, den Generationenkonflikt.

Auch Rezo ist mit 27 Jahren nicht mehr exakt der Jüngste, aber für die Redaktion der „Zeit“ verkörpert er die deutsche Jugend, weshalb sie ihm dort eine Kolumne antrugen. Dafür, dass er ihnen in Hamburg die Online-Welt erklärt, sehen sie auch über gewisse stilistische Schwächen hinweg. Wem zu Innenminister Horst Seehofer vor allem einfällt, dass er „Scheiße labert“, bekommt in der Redaktion am Speersort normalerweise nicht mal einen Praktikumsplatz. Weil Rezo alles zu sein scheint, was die „Zeit“ gern wäre, findet man „Scheiße labern“ als Ausdruck plötzlich cool und frech, also irgendwie heutig. Hoffen wir, dass der Zwang zur Jugendlichkeit nicht die Chefredaktion erreicht. Wenn demnächst auch Giovanni di Lorenzo wie Rezo reden sollte, wäre das selbst für die treuesten Leser ein Schock, da bin ich mir als „Zeit“-Abonnent fast sicher.

Robert Habeck, Grünen-Vorsitzender

Erinnern Sie sich noch an Björn Engholm? Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und Herausgeber von Büchern mit Titeln wie „Die Zukunft der Freizeit“? Kanzlerkandidat der SPD 1993, dessen Reden immer so klangen, als habe Hermann van Veen sie geschrieben, und der sich gern auf die „sensiblen Potenziale“ im Lande berief?

Engholm heißt jetzt Robert Habeck. Niemand versteht es besser, den Gefühlssprech so klingen zu lassen, als habe er gerade etwas furchtbar Bedeutendes gesagt, auch wenn man später erkennt, dass es leider nur Gefühltes war. Dafür liegt ihm das Publikum zu Füßen, insbesondere das weibliche. Könnte ich einen Wunsch äußern, dann wäre es der, dass vorerst keine Journalistinnen mehr über den Parteivorsitzenden der Grünen berichten dürfen. Dann wäre immerhin ausgeschlossen, dass jedes Porträt mit einer Würdigung des jeweiligen Wuschelzustands seiner Haare beginnt. Männer sind, was Frisuren angeht, weniger zu beeindrucken.

Richard David Precht, Fernsehphilosoph

Dass man mit einem geisteswissenschaftlichen Studium im Rücken keine großen Sprünge macht, gehört zu den Wahrheiten, die einem bei Studienanfang leider nicht gesagt werden. Wäre es anders, hätte sich die Klage über den Gender Pay Gap erledigt. Der einzige Mensch, den ich kenne, der es mit einem Philosophiestudium zu Ruhm und Reichtum gebracht hat, ist Richard David Precht.

Precht kann man zu jedem Thema befragen, er hat garantiert eine Meinung, die in den Redaktionen auf Zustimmung stößt. Precht ist der kleinste gemeinsame Nenner der Debattenrepublik, das philosophische Ground Zero der „Titel, Thesen, Temperamente“-Welt: entschieden gegen den Klimawandel und für das Tierwohl, dezidiert gegen Ungleichheit und für mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Interessanter wäre es, schon aus Gründen der geistigen Beweglichkeit, mal andersherum. Aber diese Übung würde seinen Status als Mann, der immer die offen stehende Tür findet, in Gefahr bringen. Also bleibt Precht lieber bei den erprobten Nummern. Auch Richard Clayderman erschreckt das Publikum, wenn er sich abends ans Klavier setzt, nicht plötzlich mit Heavy Metal.

Daniel Günther, Nordlicht

Wie heißt der amtierende Ministerpräsident von Schleswig-Holstein? Nein, nicht Ralf Stegner. Der wäre es gern geworden, ist aber in der falschen Partei. Der aktuelle Ministerpräsident von Schleswig-Holstein heißt Daniel Günther. Sie müssen sich nicht grämen, wenn Ihnen der Name auf Anhieb nichts sagt. Kiel ist wirklich weit weg. Ich war mal da. Viel Wasser. Deshalb gibt es einmal im Jahr die Kieler Woche, laut Wikipedia eines der größten Segelsportereignisse der Welt. Damit wäre auch schon das Wichtigste über Kiel gesagt.

Vielleicht ist es die meditative Abgeschiedenheit des Nordens, die Herrn Günther beflügelt, sich mit einem guten Rat zu melden, kaum wurde irgendwo gewählt. Der CSU empfahl er nach der Wahl in Bayern, sich neue Leute an der Spitze zu suchen, die alten hätten versagt. Am Abend der Hessenwahl war er mit dem Vorschlag zu vernehmen, die Bundesregierung müsse sich härter in die Riemen legen: „Am Riemen reißen ist das Gebot der Stunde.“ Nach der Wahl in Thüringen wurden die „älteren Männer“ zurechtgewiesen, die Kritik an der Bundeskanzlerin geübt hatten. Das sei die Debatte von Leuten, die „ihre Karriereziele nicht erreicht“ hätten.

Ich weiß nicht, wie die weiteren Karriereziele von Herrn Günther aussehen. Die Wege vom Weisen aus dem Watt ins Kanzleramt sind jedenfalls steinig, die Erfahrung musste schon Björn Engholm machen, der Mann, der wie Habeck redete, als es Habeck noch gar nicht gab.

Huch, nur Männer? Können Frauen nicht nerven? Das kann ja gar nicht sein, eine Liste, auf der Frauen keine Rolle spielen. Deshalb demnächst am selben Ort zur selben Zeit die peinlichsten Prominentinnen. Nicht, dass noch jemand sagt, „Der schwarze Kanal“ benachteilige Frauen. Vielleicht haben Sie ja Favoriten. Wenn Sie Vorschläge haben, schreiben Sie uns.