Wie gerät einer der besten Juristen des Landes zur Überzeugung, die Regierung arbeite an einem verschwiegenen Plan, das deutsche Staatsvolk durch Migranten zu ersetzen?
In der CDU würden sie gerne ihr Parteimitglied Hans-Georg Maaßen loswerden. Am Montag hat man ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder er geht freiwillig oder man will ihn zum Parteiaus-tritt zwingen.
Die SPD hat drei Anläufe gebraucht, um Thilo Sarrazin aus der Partei auszuschließen. Über zehn Jahre zog sich das Verfahren hin. Der Parteivorstand hatte dazu einen eigenen Stab eingerichtet und mehrere Anwälte engagiert. Wir werden sehen, ob die CDU mehr Glück hat. Aber die entscheidende Botschaft kommt auch so an: Mit diesem Kerl wollen wir nichts mehr zu tun haben! Maaßen ist jetzt endgültig Persona non grata, der große Aussätzige der deutschen Politik.
Ich kenne Maaßen aus der Zeit, als er noch Verfassungsschutzpräsident war. Wenn er in München zu tun hatte, rief gelegentlich sein Büroleiter an, ob man sich nicht sehen wolle. Ich habe Maaßen von diesen Begegnungen als jemand in Erinnerung, der die Dinge in kühler Schärfe betrachtete, konservativ, sicher, aber eher zurückhaltend im Urteil. Der Mann, den ich kannte, war alles andere als ein Fanatiker.
Etwas ist in der Zwischenzeit passiert. Und damit meine ich nicht den Verlust seines Postens als Verfassungsschutzchef. Er hängt komischen Ideen an und lässt sich mit komischen Leuten ein.
Das erste Mal, als ich mich fragte, „Was ist denn da los?“, war vor anderthalb Jahren. Da stieß ich in der „FAZ“ auf einen Text, der einen Ausflug in die Gedankenwelt des Jungpolitikers Maaßen unternahm. Der Artikel führte aus, dass Maaßen zur Überzeugung gelangt sei, dass eine Elite von „Wirtschaftsglobalisten“ daran arbeite, eine Herrschaft der 1000 reichsten Familien der Welt zu errichten – mit Unterstützung durch das Weltwirtschaftsforum in Davos und, überraschende Pointe, durch die Grünen.
„Globalisten?“, dachte ich. So reden sie doch normalerweise in den Kreisen, in denen man sich zuraunt, dass in Wahrheit eine kleine Clique von Finanzjongleuren an der Wall Street die Fäden in der Hand halte.
Es ist seitdem nicht besser geworden, soweit man das beurteilen kann. Maaßen hinterlässt auf Twitter Beiträge, die so schräg sind, dass er sie anschließend schnell wieder löscht. Er empfiehlt Videokanäle, in denen über Chemtrails gefaselt wird und darüber, dass Deutschland ein Vasallenstaat der Amerikaner sei.
Auch seine Sprache hat sich verändert. Journalisten nennt er jetzt grundsätzlich „Gesinnungsjournalisten“, ohne diesen Zusatz kommt er nicht mehr aus. Die andere Lieblingsvokabel ist „öko-woke“, wie in: „öko-woke Juristen“, „öko-woke Medien“ oder „öko-woke Gegenseite“. Mir gehen die Grünen auch furchtbar auf den Zeiger, aber ich würde mir schon aus stilistischen Gründen Varianten der Kritik überlegen. Man gewinnt nicht an Überzeugungskraft, wenn man sich sprachlich versteift.
Ist Maaßen ein Rassist oder Antisemit, wie ihm unterstellt wird? Dafür gibt es keine Belege, jedenfalls sind bislang keine überzeugenden präsentiert worden. Aus der Tatsache, dass jemand anderen vorwirft, sie würden einer rassistischen Idee anhängen, lässt sich nicht im Umkehrschluss folgern, dass er selbst Rassist sei. Wäre es so, müsste man große Teile der Linken des Rassismus verdächtigen. Unstreitig ist hingegen, dass sich bei Maaßen die Vorstellung festgesetzt hat, die Regierung arbeite heimlich an einem Austausch des deutschen Staatsvolkes. Das scheint sich bei ihm zur fixen Idee entwickelt zu haben.
Wenn ich mir Robert Habeck und Annalena Baerbock anschaue, dann sehe ich zwei Politiker, die sich mehr oder weniger erfolgreich bemühen, nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Selbst wenn sie den Wunsch hätten, die Deutschen durch den Zuzug arabischer Großfamilien zu ersetzen, wären sie mit der Umsetzung heillos überfordert. Mir ist es ein Rätsel, wie man auf so einen Quark kommen kann. Klar, wenn man seine Abende im Kreis rechter Spökenkieker verbringt, dann ja. Aber als einer der besten Juristen des Landes, der gewohnt ist, die Dinge von der kalten Warte des Rechts zu beurteilen?
Wie soll man diese Reise an den Rand des politischen Spektrums nennen? „Selbstradikalisierung“ ist ein Begriff, der sich anbietet. Aber trifft er? Radikalisierung beginnt ja immer bei einem selbst. Es ist eher ein Abdriften. Eine merkwürdige Verschiebung und Verengung der Perspektive, die einen nur noch Dinge sehen lässt, die andere nicht sehen – was einen dann umso mehr anstachelt.
Ich habe das schon einmal erlebt, bei meinem langjährigen Freund Matthias Matussek. Matussek war einmal einer der berühmtesten Reporter des Landes. Egal, ob er über Prinzessin Di oder Heinrich Heine schrieb: Es waren Texte zum Niederknien, kraftvoll, witzig, mit plötzlichen Wendungen ins Unvermutete, dem Autor in ihrer Unberechenbarkeit nicht unähnlich. Und heute? Sitzt er in einem Kaff irgendwo an der Schlei und schreibt Putin-Apologien. Vom Freigeist zum Bänkelsänger des Autoritären – weiter kann man sich von seinen alten Lesern nicht entfernen.
Am Anfang des Drifts steht meist eine Kränkung, ein Unglück, das einen nicht mehr loslässt und den Blick verengt. Bei Maaßen war es die Entlassung als Chef des Verfassungsschutzes. Wo es nur noch Schwarz oder Weiß gibt, werden auch die imaginierten Gefahren immer größer. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass Deutschland dem Untergang geweiht ist, finden Sie jeden Tag Belege, die Sie in Ihrer Einschätzung bestätigen.
Viele Anwürfe sind ungerechtfertigt, das gilt auch im Fall Maaßen. Man ist heute schneller Nazi, als man Papp sagen kann. Aber statt den Anschluss zurück zur Mitte zu suchen, indem man einlenkt, verführt der Drift dazu, sich immer weiter nach außen zu bewegen. Jede Geste des Entgegenkommens gilt nun als Opportunismus, jedes Einlenken als Verrat. Das Paradoxe ist: Die Gegner legen es genau darauf an. Sie sagen zwar, sie wünschten, der Angegriffene würde Einsicht zeigen, aber in Wahrheit kann er ihnen keinen größeren Gefallen tun, als sich immer weiter an den Rand zu begeben.
Es gibt natürlich auch Fans. Auf jeden Hater kommen zwei, die „Halte durch!“ rufen. Das macht es allerdings nicht besser, im Gegenteil. Maaßen könnte, wenn er wollte, morgen bei der AfD anheuern. In dieser Szene ist er ein Held. Aber er will die Reputation nicht verlieren, die mit einer Mitgliedschaft in der CDU einhergeht. Deshalb klammert er sich an sein Parteibuch. Es ist das Letzte, das ihn mit der Welt, aus der er kommt, verbindet.
Was kann man gegen den Drift tun? Wenn ich ein Entradikalisierungsprogramm auflegen sollte, dann wäre meine erster Tipp: öfter Twitter ausschalten und stattdessen mehr meditieren. Meine zweite Empfehlung: den Kontakt zu Menschen halten, die ganz anders denken als man selbst.
Ich bin bis heute mit einer Reihe von Leuten verbunden, die knalllinks sind und mich das auch bei jeder Gelegenheit wissen lassen. Es gibt Menschen, die stolz sind, das halbe Internet gesperrt zu haben. Ich gehöre nicht dazu. Ich empfand es noch nie als Vorteil, nur das zu hören, was ich bereits kenne. Es ist zugegeben manchmal etwas anstrengend, aber es bewahrt vor größerem Unfug.
Man mag zu dem Ergebnis kommen, dass Maaßen einen Knall hat. Aber die Politik hält aus gutem Grund auch für Knallköppe einen Platz bereit. Das Haus des Herren hat viele Zimmer, das gilt zumal für Parteien. Deshalb sind ja auch die Hürden bei einem Ausschluss so hoch.
Ich wage die Prophezeiung, dass bei einem Parteiordnungsverfahren nicht viel herauskommen wird. Vermutungen reichen nicht vor Gericht, auch nicht vorm Partei-gericht. Außerdem kann Maaßen darauf verweisen, dass er mit fast allem, was ihm zur Last gelegt wird, unbehelligt bei der Linkspartei oder Teilen der SPD weitermachen könnte. Das wilde Herumfuchteln mit der Rassismuskeule, die merkwürdige Theorie, dass die USA uns in den Krieg treiben, damit wir uns von Russland entfremden und die Amis uns wieder dominieren können: All das findet sich auch links der Mitte.
Wenn die vergangenen Monate eines gezeigt haben, dann, wie nahe sich ganz links und ganz rechts sind. Das Hufeisen ist in Wahrheit ein Kreis.
© Michael Szyszka