Kategorie: Texte

Wenn sich Kleingeister groß fühlen

Was muss man sich zuschulden kommen lassen, um seinen Job zu verlieren? Wenn man in der deutschen Film- und Theaterwelt arbeitet: ein Mittagessen mit dem falschen Politiker. Das reicht dort

Ein Mann trifft einen Politiker. Der Mann steht einer Kulturorganisation vor, die staatliche Gelder an Künstler verteilt. Der Politiker ist Vorsitzender der größten Oppositionspartei des Landes. Die beiden sind in einem italienischen Restaurant verabredet, sie essen zu Mittag. Kurz darauf veröffentlicht der Politiker ein Foto des Treffens auf seiner Instagram-Seite. „Sehr angeregter und konstruktiver politischer Gedankenaustausch heute“, schreibt er dazu.

Kaum ist das Bild in der Welt, setzen Verdächtigungen ein. Eine Reihe von Künstlern, die der Regierung zugetan sind, äußert ihr Missfallen. Sie sagen, dass sie nicht länger mit dem Kulturmanager zusammenarbeiten könnten, weil er durch das Mittagessen kompromittiert sei.

Man sammelt Unterschriften. Es gehen Petitionen heraus, die eine Entlassung fordern. Die Ministerin für Wissenschaft und Kunst beruft eine Krisensitzung ein. Erst heißt es, man müsse die Lage prüfen. Dann steht in den Zeitungen, dass der Mann seinen Posten verloren habe. An seine Stelle soll eine Person rücken, die das Vertrauen der Kunstschaffenden genieße. Von dem Entlassenen hört man nichts mehr.

Die Geschichte liest sich, als würde sie in einem fernen Staat im Osten spielen, einer dieser Autokratien, in denen die Bürger gut beraten sind, bei allem, was sie sagen oder tun, vorsichtig zu sein. Aber ist keine Geschichte aus der Ferne. Es ist eine deutsche Geschichte.

Der Mann, der seinen Job verlor, heißt Hans Joachim Mendig. Er war drei Jahre lang Geschäftsführer der hessischen Filmförderung – bis er sich auf einen Lunch mit dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen traf. Vor zwei Wochen wurde er seines Amtes enthoben. Man habe den Imageschaden begrenzen müssen, der durch das Treffen entstanden sei, erklärte die Kulturministerin Angela Dorn, die dem Aufsichtsrat der hessischen Filmförderung vorsteht und für die Grünen in der Landesregierung sitzt.

Ich beschreibe den Fall hier so ausführlich, weil ich ihn für außergewöhnlich halte, auch für außergewöhnlich hinterhältig. Es kommt nicht oft vor, dass Menschen ihren Job verlieren, weil sie mit den falschen Leuten zu Mittag gegessen haben. Ich kann mich, ehrlich gesagt, an keinen vergleichbaren Fall in den letzten 30 Jahren erinnern. Ich hätte deshalb erwartet, dass er größere Beachtung findet. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat berichtet, etwas ausführlicher die „Welt“. Aber in der Regel blieb der Fall eine Randnotiz im Feuilleton, eine dieser Personalien, über die man beim Lesen schnell hinwegliest.

Was ist da los? 600 Leute aus der deutschen Filmszene unterschreiben eine Erklärung, in der sie androhen, nicht mehr mit der Hessen-Film zusammenarbeiten zu wollen, wenn deren Geschäftsführer weiter im Amt bleibe. Ein Subventionsannahmeboykott als Druckmittel, das ist originell. Andererseits: Niemand ist gezwungen, Fördermittel entgegenzunehmen. Es gibt sogar Menschen, die meinen, dass der deutsche Film in einer deutlich besseren Verfassung wäre, wenn es keine staatliche Filmförderung gebe. Als förderwürdig gelten in Deutschland vor allem Filme, die viel Kunstwillen, aber wenig Aussicht auf Publikum haben. So sagt es natürlich keiner, aber das ist die Praxis.

Die Kultur ist ein eigenes Milieu, mit eigenen Gesetzen und Regeln. Es ist schon schwer, in der Medienwelt jemanden zu finden, dessen Herz nicht für die linke Sache pocht. In der Kulturwelt ist dies nahezu unmöglich. Was wäre das deutsche Petitionswesen ohne die „Filmschaffenden“, wie sie sich bei der Gelegenheit gern nennen. Keine Unterschriftenliste, auf der sich nicht der Name von Schauspielern, Bühnenbildnern oder Regisseuren findet, die im hohen Maße empört oder besorgt sind.

Mit der Bereitschaft zur Empörung korrespondiert ein ausgeprägtes Kuschelbedürfnis, das in interessantem Widerspruch zum Widerstandsgestus steht. Früher war man stolz darauf, die Bürger aus der Fassung gebracht zu haben. Wenn es im Parkett zum Aufstand kam, galt das als Gütesiegel. Heute lassen sich deutsche Bühnen beraten, wie sie mit Unmutsbekundungen und Störungen umgehen sollen. „Viele Theater fühlen sich auf solche Anfeindungen nicht hinreichend vorbereitet“, berichtete die Geschäftsführerin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus neulich in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie schwer sich Menschen, die ansonsten bei jeder Gelegenheit betonen, wie bereichernd das Fremde sei, in dem Moment tun, in dem sie tatsächlich mit dem Fremden konfrontiert sind. Die Künstler, denen man in der Theater- und Filmwelt begegnet, gleichen einander auf verblüffende Weise. Sie sehen vielleicht unterschiedlich aus, sie mögen aus exotischen Gegenden kommen oder fremd klingende Namen tragen: Aber was die Überzeugungen und Wertvorstellungen angeht, könnten sie nicht homogener sein.

In Wahrheit ist der im Kulturbetrieb vorherrschende Fremdheitsbegriff sehr oberflächlich, ja man könnte sagen: kolonialistisch. Er macht sich allein am Aussehen fest, also an Hautfarbe, Geschlecht oder ethnischer Herkunft. Der wahre Fremde hingegen wäre jemand, der radikal anders denkt. In dem Sinne ist ein Meuthen tausendmal fremder als jeder senegalesische Regisseur, der auf Festivals herumgereicht wird.

Regelmäßige Leser meiner Kolumne wissen, wie wenig ich mit der AfD am Hut habe. Ich käme im Leben nicht auf die Idee, diese Partei zu wählen. Aber es stört mich, wenn sich alle gegen einen zusammenrotten. Auf einer Unterschriftenliste gegen jemanden Stimmung zu machen ist für mich kein Zeichen von Mut, sondern eher ein Ausdruck von Niedertracht.

Mich erinnert das Ganze an die unselige Zeit in den siebziger Jahren, als man sich daranmachte, Leute auszuheben, die angeblich mit der RAF und ihren Zielen sympathisierten. Wobei man sagen muss: Bei der RAF handelte es sich immerhin um eine Terrororganisation. Die AfD hingehen mag man verachten, aber sie ist weder verfassungsfeindlich noch kriminell.

Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Schon jetzt sitzen die ersten AfD-Vertreter in den Rundfunkräten. Demnächst werden sie in die Kulturförderung und in die Aufsichtsgremien staatlicher Kulturinstitutionen einziehen. Will man dann im Ernst nach jedem verfänglichen Mittagessen, bei dem sich ein Kulturfunktionär erwischen lässt, mit Boykott drohen? Wer weiß, vielleicht werden die Kulturetats in Deutschland schon bald nicht mehr ausgeschöpft, weil niemand das Geld haben will. Das wäre dann allerdings eine wirklich radikale Entwicklung.

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen

Es ist der reine Wahnsinn, was im Internet an Verleumdung und Bedrohung möglich ist, ohne dass jemand einschreitet. Dabei ist die Lösung zur Beendigung der Facebook-Anarchie viel einfacher, als viele denken

 Wer sich für Deutschland und das Internet interessiert, der stößt unweigerlich auf Sascha Lobo. Es gibt Leute, die meinen, das sage schon alles über den Stand der Digitalisierung in Deutschland. In jedem Fall gehört Lobo zu den Menschen, die einträglich davon leben, anderen zu erklären, warum sie nichts vom Netz verstehen.

Die Deutung des Digitalen ist ein prosperierender Geschäftszweig. Um auf diesem Feld als Experte zu gelten, muss man nicht einmal im Gelobten Land gewesen sein oder mit einer entsprechenden Firma Erfolg gehabt haben. Es reicht, dass man jemanden kennt, der mal im Silicon Valley war. Was einem an Originalität fehlt, macht man mit Pathos wett. Im Kreis der Kolumnisten bei Spiegel Online haben wir uns an trüben Tagen gerne mit verteilten Rollen Lobo-Kolumnen vorgelesen, womit regelmäßig für Heiterkeit gesorgt war.

Ich gebe zu, ich habe nie ganz verstanden, weshalb selbst gestandene Manager sich die Welt von einem Mann erklären lassen, der seinen Morgen damit verbringt, seine Haare in die Form eines Besens zu toupieren. Wer als über 40-Jähriger so tun muss, als sei er die jüngere Ausgabe von Rezo, hat die Kontrolle über sein Leben verloren, würde ich sagen. Aber sobald es ums Netz geht, setzen normale Bewertungsmaßstäbe aus. Da bekommen die meisten weiche Knie.

Lobos Paraderolle ist die des unerschrockenen Freiheitskämpfers. Wann immer ein Politiker auf die Idee kommt, Regeln zu fordern, um das Netz zu einem zivileren Platz zu machen, steigt der Mann mit dem gefärbten Besenhaar auf die Barrikade und ruft: „Zensur!“ Gleichzeitig ist Lobo unter den Ersten, wenn es darum geht, die Verrohung von Umgangsformen im Netz zu beklagen. Das ist ein interessanter Widerspruch. Wenn Sie mich fragen, führt genau diese Doppelmoral zum Kern des Problems.

Seit die Grünen-Politikerin Renate Künast vor dem Landgericht Berlin mit einer Klage auf Herausgabe der Namen von Leuten gescheitert ist, die sie auf Facebook wüst beleidigt hatten, ist wieder viel über Hass im Netz die Rede. Ich bin fest davon überzeugt, dass es für eine Gesellschaft schädlich ist, wenn sich jedermann nach Lust und Laune austoben darf.

Die bürgerliche Gesellschaft hat aus gutem Grund Gesetze erlassen, die Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede unter Strafe stellen. Aus weniger einsichtigen Gründen sind diese Regeln im digitalen Raum suspendiert. Wer einen Leserbrief veröffentlicht, in dem eine Politikerin als „Drecksfotze“ bezeichnet wird, hat den Staatsanwalt in der Tür. Wer einen solchen Ausfall im Netz postet, bei dem zuckt die Justiz mit den Achseln und erklärt die Entgleisung für eine Meinungsäußerung, die man nicht beanstanden könne.

Was ist da los? Eine Erklärung wäre: Auch viele Richter sehen das Internet als fremde Welt, in der die etablierten Regeln des Zusammenlebens ihre Gültigkeit verloren haben. Man kann es den Lobo-Effekt nennen. So wie Unternehmer dem Urteil eines Mannes mit roten Haaren trauen, weil ihnen alles, wovon er redet, neu vorkommt, haben auch deutsche Richter das Gefühl, beim Digitalen höre ihr Verständnis und damit ihre Zuständigkeit auf.

Es ist Wahnsinn, was möglich ist, ohne dass man belangt wird. Man kann einer Frau ungestraft androhen, sie zu vergewaltigen. Man kann sie als Kinderschänderin verleumden oder als Prostituierte. Es gibt keine Grenze mehr, es schreitet niemand ein. Die Verunsicherung der Justiz ist dabei ein Problem, ein noch größeres ist die unklare Rechtslage. Dass der Mensch von sich aus gut sei, glauben nur linke Träumer. Der Realist weiß, dass zwischen der Anarchie und dem Rechtsstaat allein die harte Hand des Gesetzes steht.

Nehmen wir Facebook, das größte soziale Netzwerk der Welt. Dass man es bei Facebook mit keinem normalen Unternehmen zu tun hat, merkt man als Journalist zum Beispiel, wenn man eine Frage nach dem Umgang mit Rechtsverstößen stellt und einen Smiley als Antwort erhält. Die Pressesprecherin ist eine lustige Person, die sicher auf jedem Firmen-Event für Bombenstimmung sorgt. Nur mit Öffentlichkeitsarbeit hat sie nicht viel am Hut.

Aber warum sollte sie auch? Facebook betrachtet deutsche Gesetze als lästiges Ärgernis. Es vertraut lieber seinen eigenen Gesetzen und seiner eigenen Gerichtsbarkeit. Versuchen Sie mal, eine Klage zuzustellen! Alles, was es dafür von Facebook in Deutschland gibt, ist ein sogenannter Zustellungsbevollmächtigter. Das ist in dem Fall die Anwaltskanzlei Freshfields in Berlin, bei der Sie gerne Ihr Schreiben abgeben dürfen.

Wirklich zuständig ist aber immer irgendjemand weit weg in Irland oder besser noch den USA. Denken Sie bitte auch daran, Ihr Anliegen in Englisch abzufassen. Deutsch spricht man bei Facebook nur, wenn man Anzeigen akquiriert beziehungsweise Werbekunden das Blaue vom Himmel verspricht.

24 Prozent der Deutschen sagen, sie nutzten Facebook als Nachrichtenquelle, in den USA sind es 39 Prozent. Das Unternehmen wertet und gewichtet Beiträge, es entscheidet, wem was wo gezeigt wird. Dennoch behauptet die Firmenspitze bis heute, der Konzern sei kein Medienunternehmen, sondern lediglich eine Art Super-Server, auf dem sich die Nutzer selbstständig frei bewegen und vergnügen würden.

Das ist wichtig für das Geschäftsmodell, denn an der Behauptung, kein Medienunternehmen zu sein, hängt das Privileg, auf alles verzichten zu dürfen, was ein Medienunternehmen beschwert – also Presserat, Jugendschutz oder das Gegendarstellungsrecht, das wir ansonsten für selbstverständlich halten.

Warum wir uns das gefallen lassen? Weil Netzaktivisten wie Sascha Lobo einen Riesenzauber veranstalten, wenn jemand Hand an „ihr“ Netz legt. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie erwachsene Menschen glauben können, ihnen gehöre etwas, nur weil sie es benutzen. Leider lassen sich auch viele Politiker vom Netzprotest beeindrucken. Wer das Internet reguliere, verärgere die jungen Menschen, heißt es, und wer will als Politiker schon die Jugend gegen sich aufbringen?

Man kann den Internet-Giganten beikommen. Das ist weniger schwer, als viele denken. Der erste Schritt wäre, dass man dafür sorgt, dass für soziale Medien die gleichen Regeln zum Schutz des Persönlichkeitsrechts gelten wie für alle anderen Unternehmen, die mit Inhalten handeln. Der zweite Schritt wäre, dass man gesetzlich verankert, dass jedes Internet-Unternehmen, das in Deutschland tätig ist, einen Verantwortlichen mit Wohnsitz in Deutschland benennen muss. Also nicht mehr Dublin oder Palo Alto, sondern Hamburg oder Stuttgart.

Ich garantiere Ihnen: So viel können sie dem armen Menschen, der dann im Zweifel den Kopf hinhalten muss, gar nicht zahlen. In kürzester Zeit würde Mark Zuckerberg persönlich dafür sorgen, dass in Deutschland niemand mehr über sein Netzwerk verleumdet oder bedroht wird. Das Klagerisiko wäre einfach zu hoch.

Den Autor dieser Kolumne erreichen Sie unter: j.fleischhauer@focus-magazin.de, Twitter: @janfleischhauer

 

Bürger, schaut auf diese Stadt

Allen, die von einem Bundeskanzler Robert Habeck träumen, kann man nur empfehlen, sich im grünen Ideenlabor Berlin umzusehen. Gegen die Grünen sind selbst die Nostalgiker von der AfD Modernitätsapostel

 Auch in Berlin kann man streng sein. Von wegen Party-Hauptstadt!

Anfang des Monats erhielt der Bäckermeister Karsten Greve ein Schreiben des Landesamtes für Mess- und Eichwesen, in dem ihm eine Strafzahlung in Höhe von 25000 Euro in Aussicht gestellt wurde. Der Mann, der im Bezirk Prenzlauer Berg die Bäckerei „100 Brote“ betreibt, hatte bei den Mengenangaben die falsche Schriftgröße verwendet.

Statt Kilogramm mit „kg“ abzukürzen, hatte er auf die Preistafel „KG“ geschrieben. Dies eröffne die Möglichkeit zu Fehldeutungen, schrieb ihm das Amt. Kunden könnten die Gewichtsangabe mit Kelvin und Gauß verwechseln oder mit der Abkürzung für „Kommanditgesellschaft“, was in jedem Fall eine Irreführung sei.

Da sage noch jemand, in Berlin würden sie nicht auf Recht und Ordnung achten. Zwei Buchstaben falsch, und schon steht man mit einem Bein im Gefängnis. So streng sind sie nicht mal in Bayern, das sich einiges darauf einbildet, die Bürger zur Gesetzestreue anzuhalten.

Die neue Null-Toleranz-Politik gilt allerdings nicht gegenüber jedermann, so grün ist Berlin dann doch. Wer seinen Unterhalt als Drogenhändler bestreitet, darf weiterhin mit Nachsicht rechnen. In einem Bericht des ARD-Polit-Magazins „Kontraste“ über den Görlitzer Park, den mutmaßlich größten Open-air-Drogenumschlagplatz Europas, erklärte die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, warum Drogenhandel in Berlin zu einer inklusiven Stadtkultur gehöre.

Man wolle niemanden ausgrenzen, sagte die Grünen-Politikerin vor laufender Kamera. Wenn man erst einmal damit anfange, dann fragten sich die Leute, wer als Nächstes dran sei: „Heute ist es die Dealergruppe, die rausgeschickt wird, und wer ist es morgen?“

Es kommt eben ganz darauf an, womit man in Berlin sein Geld verdient. Immobilienhandel oder Vermietung und Verpachtung gehen gar nicht. Selbst als normaler Gewerbetreibender ist man bestenfalls geduldet. Schwarzarbeit hingegen erfreut sich der Förderung durch die Politik, schon weil sie im Ruf steht, auch irregulären Arbeitskräften eine Erwerbschance zu bieten.

Die Grünen sind so etwas wie der Pandabär der deutschen Politik. Grüne gelten als süß und flauschig, so wie ihr Chef, der Oberpanda Robert Habeck. Dass Habeck selbst bei Kernanliegen nicht sattelfest ist und von der Pendlerpauschale offenbar so viel versteht wie einst der unglückliche Rudolf Scharping von brutto und netto – geschenkt. Er meint das Richtige, deshalb wird ihm verziehen.

Einer der Gründe, sich für die Grünen auszusprechen, liegt gerade in ihrer Unbestimmtheit. Wo die Leute an der Spitze so ungemein freundlich und entspannt wirken, erscheint das Bekenntnis zu ihnen als ungefährlich. Grün wählen funktioniert aus Sicht vieler Wähler wie Rosenkranzbeten am Sonntag: Man bereut seine Sünden, verspricht Buße und Einkehr und macht dann ab Montag so weiter wie gewohnt.

Wenn es Kritik an den Grünen gibt, dann setzt sie genau hier an: In Wahrheit würde sich gar nichts ändern, wenn sie an die Regierung kämen. „Der Schein trägt“ war neulich ein Artikel in der „Zeit“ überschrieben, in dem den Grünen vorgehalten wurde, sie würden nur so tun, als seien sie radikal.

Ich wäre mir, was die Folgenlosigkeit des Grünwählens angeht, nicht so sicher. Allen, die von einem Bundeskanzler Robert Habeck träumen, kann ich nur empfehlen, sich im Ideenlabor Berlin umzusehen. Wenn es einen Ort gibt, an dem der Grüne zu sich selbst kommt, dann ist es die deutsche Hauptstadt. Hier holt die Partei seit Jahren verlässlich ihr einziges Direktmandat für den Bundestag; hier hat sie eine Parallelwelt errichtet, in der sich alle Vorlieben und Abneigungen beobachten lassen, über die man in Stuttgart und Esslingen nur den Kopf schüttelt.

Als Feinde gelten in dieser Welt schon mal alle Leute, die von außen kommen und Geld mitbringen. Was dem AfDler der syrische Flüchtling, das ist dem Grünen der ausländische Investor. In jeder anderen Stadt würde man sich freuen, wenn der Karstadt-Eigentümer auf die Idee käme, eine innerstädtische Kaufhaus-Ruine im Glanz der 20er-Jahre auferstehen zu lassen. In Kreuzberg erklärt der grüne Baustadtrat kühl, die Fassadenrekonstruktion sei „eine Replik, die befürchten lässt, dass sie in ihrer Wirkung nicht authentisch ist“. Dann doch lieber der Steinklotz aus den 50er-Jahren, der ist in seiner Hässlichkeit wenigstens echt.

Tatsächlich legen die Grünen für eine Partei, die sich viel auf ihre Weltgewandtheit zugutehält, eine erstaunliche Provinzialität an den Tag. Ich folge auf Twitter fasziniert den Versuchen der Senatsverwaltung, die Bergmannstraße in Kreuzberg in eine „Begegnungszone“ umzuwandeln. Nachdem es mit grünen Punkten, die sie für 145000 Euro aufs Pflaster malen ließ, nicht klappte, versuchte sie es mit sogenannten Parklets, einer Kombination aus Pflanze und Sitzmöbel. Weil auch dies nicht den gewünschten Effekt hatte, sollen nun riesige Felsbrocken die Straße in eine Art verkehrstechnische Paläo-Zone verwandeln.

Selbst der „taz“, die in der grünen Szene so verankert ist wie keine andere Zeitung, geht die Musealisierung ganzer Stadtviertel zu weit. Schon ein Kinderzirkus reicht heute aus, um die Fußtruppen der Bewegung auf den Plan zu rufen, wie das Blatt vermeldete. Als der Wanderzirkus Cabuwazi auf dem Tempelhofer Feld, einer riesigen Brache in der Mitte der Stadt, sein gelb-rotes Zelt errichtete, hieß es, das Zelt könne nicht stehen bleiben, da es der weiteren Bebauung Vorschub leiste. Bei Cabuwazi lernen Jugendliche und Kinder aus allen Schichten und Herkünften, wie man jongliert und seiltanzt, eine urlinke Idee. Leider gilt das Tempelhofer Feld als heiliger Ort, auf dem nur die Kornblume und der Klatschmohn frei sprießen dürfen. Also Schluss mit Cabuwazi!

Solange es lediglich um die Stilllegung eines Stadtteils geht, muss einen das außerhalb nicht weiter bekümmern. Problematisch wird es, wenn eine Industrienation Leute in die Bundesregierung wählt, die mit der Moderne hadern.

Gegen die Grünen sind selbst die Nostalgiker von der AfD Modernitätsapostel. Der AfD wird vorgeworfen, sie wolle zurück in die 50er-Jahre. Wenn das wahr ist, dann liegt das Sehnsuchtsjahrzehnt der grünen Partei vor 1810, als die Dinge des täglichen Lebens noch handgeklöppelt wurden, jedes Tier einen Namen hatte und der Bauer das Pferd anspannte, statt den Trecker zu besteigen.

Sie meinen, es sei unfair, die grüne Partei für ihren Berliner Landesverband in Haftung zu nehmen? Ich würde sagen, das ist so gerecht oder ungerecht, wie es fair oder unfair ist, von ihrem Thüringer Landesverband auf die gesamte AfD zu schließen. Manchmal ist der Blick auf die erste Reihe in der Politik trügerisch, denn die Entscheidungsgewalt liegt hier bei den Mitgliedern.

 

Hier bleibt man lieber unter sich

Viele Linke haben sich entschieden, nur noch mit Leuten zu verkehren, die so denken wie sie selbst. Dafür gratuliert  man sich gegenseitig zum Mut, Dinge auszusprechen, mit denen alle einverstanden sind.

Der Verleger Jakob Augstein hat einen Film über Empörung gedreht. Der Film heißt, nach seinem Thema, „Die empörte Republik“ und ist in der Mediathek von 3sat zu sehen. Im Kern geht es um die Frage, warum sich so wenig bewegt, obwohl so viele Menschen so schrecklich aufgeregt sind. „Wie kann es sein, dass die Kraft der Empörung, die am Anfang jeder gesellschaftlichen Veränderung steht, bei uns dermaßen ins Nichts läuft?“, wundert sich der Autor.

Augstein ist für seinen Film durch die Republik gereist und hat mit Menschen gesprochen, die Debatten anzetteln oder beobachten, wie diese angezettelt werden. Der Journalist Stefan Aust ist dabei (früher „Spiegel“, heute „Welt“), die Europapolitikerin Julia Reda, die den Widerstand gegen das digitale Urheberrecht anführte, eine Google-Managerin.

Die Kolumne von Jan Fleischhauer finden Sie jeden Samstag im FOCUS Magazin

Augstein verfügt in der linken Szene über beste Referenzen

Noch interessanter als die Namen der Menschen, die zu sehen sind, sind allerdings die Namen der Leute, die in dem Film fehlen. Augstein hatte auch die Publizistin Carolin Emcke gefragt, ob sie mit ihm reden würde, die „Spiegel“-Kolumnistin Margarete Stokowski, den Theaterregisseur Falk Richter, allesamt Repräsentanten des besseren Deutschland, die normalerweise nie um eine Antwort verlegen sind. Aber keiner wollte in seinem Film auftauchen. Alle sagten eine Teilnahme ab oder ließen seine Anfrage unbeantwortet.

Augstein verfügt in der linken Szene über beste Referenzen, sollte man meinen. Er trommelt seit Jahren verlässlich für die gute Sache. Er gibt mit großem Engagement die Wochenzeitung „Der Freitag“ heraus, gegen die selbst die „taz“ ein rechtslastiges Mainstream-Blatt ist. Mit einer Reihe der von ihm Angefragten ist er persönlich bekannt. Was also hat er falsch gemacht, was ist sein Vergehen?

Augstein gilt als unsicherer Kantonist, das ist sein Vergehen. Er kennt die falschen Leute, Leute wie mich zum Beispiel. Außerdem ist er ein neugieriger Mensch. Neugier gilt in diesen Kreisen, in denen Augstein verkehrt, nicht als Tugend, sondern als Ausdruck mangelnder Standfestigkeit.

Vor ein paar Monaten hat er auf Schloss Ettersburg bei Weimar mit Karlheinz Weißmann diskutiert, einem der Vordenker der Neuen Rechten. Anderthalb Stunden stritten die beiden über Deutschland, den Islamund das Fremde. Das reichte, um Augstein auf die Liste derjenigen zu befördern, mit denen man besser keinen Kontakt mehr pflegt.

Aber sobald es ernst wird, kneifen die meisten Kombattanten

Ich erzähle diese Geschichte, weil sie illustriert, wo wir stehen. Alle reden davon, wie wichtig Debatte sei. Kaum eine Veranstaltung, auf der nicht beteuert wird, dass Streit die Demokratie lebendig halte. Die „Zeit“ hat ein eigenes Ressort ins Leben gerufen, das so heißt. Aber sobald es ernst wird, kneifen die meisten Kombattanten. Wenn selbst ein Projekt des Herausgebers des „Freitag“ als politisch so zweifelhaft gilt, dass man zweimal überlegen muss, ob man daran teilnimmt, lässt das erahnen, wie sich die Dinge verschoben haben.

„The Closing of the American Mind“ hieß ein berühmtes Buch, in dem der Philosoph Allan Bloom in den achtziger Jahren die Verödung der amerikanischen Hochschulwelt beschrieb. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, die man als Selbstabschließung eines geistigen Milieus bezeichnen könnte, das für das intellektuelle Klima in Deutschland seit Langem bestimmend ist. Eine ganze Generation hat sich entschieden, nur noch mit Leuten zu verkehren, die so denken wie sie selbst.

Was ist der politische Einsatz wert, der sich der Konfrontation entzieht?

Das entscheidende Merkmal der Kultur des Einverständnisses ist, dass man unter sich bleibt. Man trifft sich auf den immer gleichen Podien, man verleiht sich gegenseitig Preise für den Mut, Dinge auszusprechen, mit denen alle einverstanden sind. Emcke hat für ihren unbestechlichen Einsatz im Rahmen des Akzeptierten den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen, Stokowski gerade den Kurt-Tucholsky-Preis.

Was ist der politische Einsatz wert, der sich der Konfrontation entzieht und stattdessen auf den Applaus der ohnehin Überzeugten setzt? Er ist jedenfalls nicht sehr politisch, würde ich sagen. Am Wochenende machte ein Videoclip die Runde, in dem der Sänger Herbert Grönemeyer seine Fangemeinde auf den Kampf gegen Rechts einschwor.

Nach Eklat bei Interview: ZDF-Chef reagiert in „Mittagsmagazin“ auf Höcke-Drohung

FOCUS Online/WochitNach Eklat bei Interview: ZDF-Chef reagiert in „Mittagsmagazin“ auf Höcke-Drohung

Was die Vielfalt angeht, ist auf einem Helene-Fischer-Konzert mehr los

Grönemeyer ist kein Goebbels, wie ihm wegen der leichten Sportpalast-Atmosphäre vorgehalten wurde. Er ist nicht mal ein Fegelein, sondern lediglich ein um seinen Spätruhm besorgter Gesangskünstler, der die alten Hits mit dem Pfeffer des Polit-Rebellentums aufzupeppen sucht. Selbstverständlich kommt der Antifaschismus keinen Millimeter voran, nur weil sich 14000 Grönemeyer-Fans im Gefühl, es dem Gegner mal richtig gezeigt zu haben, von Song zu Song schunkeln. Was die viel beschworene Vielfalt angeht, ist auf jedem Helene-Fischer-Konzert mehr los.

Früher waren es die Helmut-Kohl-Getreuen, die sich ständig versichern mussten, dass sie die Mehrheit stellen, heute sind es die Vertreter des progressiven Juste Milieu. Über dem Eingang der Berliner Volksbühne, einem der Inspirationsorte der Szene, hängt ein Transparent, auf dem in riesigen Lettern das Wort „unteilbar“ steht. Wenn man die Misere der Linkenauf einen Nenner bringen sollte, dann reicht dieses Wort.

Wo alles zum Gesinnungstest wird, gerät jeder Auftritt zur Geste

Solidarität war immer ein wichtiger Wert der Bewegung, aber ihre Kraft und ihren Elan bezog sie eben nicht aus dem Betonen der Zugehörigkeit, sondern aus dem Dissens, dem Aufbegehren. Die Leitfigur der neuen Linken ist nicht länger der Außenseiter, es ist der Gefolgsmensch. An die Stelle des Dissidenten ist der Mitläufer getreten, der die Fahne aufnimmt und sich in den Demonstrationszug einreiht.

Wo alles zum Gesinnungstest wird, gerät jeder Auftritt zur Geste. Ich habe mir das Gespräch angesehen, das das ZDFmit Björn Höcke geführt hat, ein anderer Höhepunkt der Woche. An keiner Stelle geht es darum, etwas herauszufinden, was man nicht schon weiß, oder Antwort auf eine Frage zu erhalten, die eine echte Frage wäre. Was als Interview angekündigt war, ist in Wahrheit ein Segment, wie man es aus der „heute-show“ kennt. Demonstrative Feindseligkeit kann sehr unterhaltsam sein. Aber davon abgesehen, dass man sich wünschen würde, auch Robert Habeck würde einmal so einvernommen, bleibt die Frage, wohin diese Form des journalistischen Posing führen soll.

Dem Poser geht es vor allem um sich selbst. Weil er die meiste Zeit vor dem Spiegel verbringt, ist seine Wirkung naturgemäß begrenzt.

Angst und Größenwahn

Einen Gutteil ihres Nimbus verdankt die AfD den Leuten, die sie bekämpfen. Jede Großmäuligkeit wird für bare Münze genommen, anstatt sie als das zu sehen, was sie ist: die Angeberei von Leuten, die zumindest rhetorisch über ihre Verhältnisse leben.

Ein Freund von mir saß in der DDR zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Er war beim Versuch, das Land über die tschechische Grenze zu verlassen, verhaftet worden. Ein Bekannter hatte ihn bei der Stasi verpfiffen. Er war 17 Jahre alt, als sie ihm den Prozess machten.

Wer als Jugendlicher mit Totschlägern, Raubmördern und Gewohnheitskriminellen im Knast sitzt, entwickelt bestimmte Überlebenstechniken. Sobald sich die Zellentür öffnete, um einen Neuzugang einzulassen, musste blitzschnell entschieden werden, ob es sich bei dem Neuen um einen Spitzel handelte oder jemanden, dem man vertrauen konnte. Diese Technik der Menschenbeurteilung hat mein Freund bis heute nicht abgelegt: Wenn ihm jemand vorgestellt wird, fragt er sich unwillkürlich, wie sich derjenige in einer Umgebung verhalten würde, in der die Gesetze der bürgerlichen Welt suspendiert sind.

Die Kolumne von Jan Fleischhauer finden Sie jeden Samstag im FOCUS Magazin

Auch ich mache gelegentlich den Gefängnis-Test. Er ist, zugegeben, ein spekulatives Mittel, um Menschen zu beurteilen. Aber beruhen nicht die meisten Charakterannahmen auf Spekulation?

Wenn ich zum Beispiel Herrn Kalbitz sehe, den Vorsitzenden der AfD in Brandenburg, habe ich eine ungefähre Vorstellung, wie sich dieser Mann an einem anderen Ort unter anderen Umständen verhalten würde. Ich weiß, das ist hochgradig ungerecht. Möglicherweise ist Herr Kalbitz ein herzensguter Mensch, der jede Spinne über die Schwelle trägt, damit sie keinen Schaden nimmt. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich würde ihm aus dem Weg gehen, wenn wir zusammen eingesperrt wären.

Viele Debatten um die AfD tragen komische Züge

Es gibt derzeit eine rege Diskussion, ob die AfD eine bürgerliche Partei sei. Die AfD würde gerne so wahrgenommen werden – ihre Gegner auf der Linken schreiben lange Abhandlungen, warum schon die Idee absurd sei. Wie viele Debatten, die um die AfD kreisen, trägt auch diese komische Züge. Dass jetzt ausgerechnet Leute, die eben noch alles daransetzten, möglichst unangepasst zu erscheinen, die Definitionsmacht über das Bürgerliche reklamieren, bringt mich zum Schmunzeln.

Das Problem der AfD ist aus meiner Sicht, dass sie zu viele Politiker in ihren Reihen hat, die eine Mehrheit der Deutschen als seltsam empfindet. Einer wie Björn Höcke mag in der Partei eine große Nummer sein, die meisten Wähler verfolgen seine Auftritte mit einer Mischung aus Faszination und Befremden.

Manche Menschen verbringen ihr Leben damit, Elvis nachzueifern. Sie schmeißen sich in Glitzerklamotten, toupieren das Haupthaar zur Tolle und schmettern die großen Hits. Höcke hat sich für die Goebbels-Imitation entschieden. Das ist angesichts der historischen Umstände eine mutige Wahl. Als Elvis-Imitator hätte Höcke es deutlich leichter im Leben, insofern gebührt ihm Respekt, wie ich finde.

Ich halte die Leute der AfD nicht für gefährlich, ich halte sie für skurril. Wer ständig so redet, als er ob zu viel Leni Riefenstahl geguckt hätte, der wird es in Deutschland nicht zum Ministerpräsidenten bringen, allen Erlösungsfantasien zum Trotz. Das heißt nicht, dass ich das Rohheitspotenzial übersehen würde, das in dieser Partei auch steckt. Ich glaube nur nicht, dass man es in Deutschland damit ganz nach oben schafft. Wenn sogar ein beträchtlicher Teil der AfD-Wähler der Meinung ist, dass man die Vertreter dieser Partei nicht in die Nähe eines Regierungsamts lassen sollte, sagt uns das etwas über die realen Machtchancen.

Am normalsten ist noch Parteichef Jörg Meuthen. Aber der darf ja nicht einmal mehr als Delegierter zum nächsten Bundesparteitag fahren, weil sie in seinem Kreisverband finden, dass er zu lasch sei. Ein echter Professor hat es in der AfD derzeit schwerer als ein falscher Goebbels.

Die Wahlen in Brandenburg und Sachsen gelten als Zeichen, dass es mit der Partei unaufhaltsam vorangeht. Was Leute wie Kalbitz als „Sensationsergebnis“ feiern, ist für die Gegenseite ein Menetekel, wie nahe wir angeblich wieder dem Faschismus sind. Tatsächlich spricht sehr viel mehr für die Annahme, dass die AfD ihren Zenit überschritten hat, als für die These, dass dieser noch vor ihr liegt.

Der Wahlforscher Manfred Güllner hat verdienstvollerweise darauf hingewiesen, dass die AfD in beiden Bundesländern im Vergleich mit der Bundestagswahl 2017 nicht mehr, sondern weniger Wähler überzeugen konnte. In Brandenburg haben 14,2 Prozent der Wahlberechtigten für die AfD gestimmt, zwei Jahre zuvor waren es noch 14,7 Prozent gewesen. Das ist ein Schwund von 3,4 Prozent. In Sachsen betrug der Verlust sogar zehn Prozent (AfD-Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017: 20,1 Prozent, AfD-Ergebnis bei der Landtagswahl 2019: 18,1). Die vergleichsweise geringe Wahlbeteiligung lässt Parteien größer aussehen, als sie in Wahrheit sind, eine Verzerrung, von der auch CDUund SPDregelmäßig profitieren.

Ein Gutteil ihres Nimbus verdankt die AfD den Leuten, die sie bekämpfen. Jede Großmäuligkeit wird umgehend für bare Münze genommen, anstatt sie als das zu sehen, was sie ist, nämlich die Angeberei von Leuten, die auf jeden Fall rhetorisch über ihre Verhältnisse leben.

Das ist wie in einer unglücklichen Sadomaso-Beziehung

Wenn ein AfD-Hintersasse herumposaunt, dass man mit dem Wahlergebnis in Brandenburg ein Drittel des Weges gegangen sei, gilt das der Gegenseite als Beweis für den totalitären Anspruch der Partei. So nährt die Aufregung den Größenwahn und der Größenwahn wiederum die Aufregung. Das ist wie in einer unglücklichen Sadomaso-Beziehung, in der sich die Akteure auf verquere Weise gegenseitig stützen.

Der „Spiegel“ hat in einem Leitartikel dazu aufgerufen, die AfD als Feind zu sehen und entsprechend zu bekämpfen. Es ist nicht ganz klar, ob das die Kollegen aus dem „Spiegel“ einschließt. Aber ich denke, so ist es gemeint. Wer mit einem AfD-Politiker spricht, tut als Journalist gut daran, sich vor jeder Frage dreimal öffentlich zu bekreuzigen. Wer auf diese Übung verzichtet, gilt als Sympathisant, wenn nicht gar als heimlicher Parteigänger.

Gefährlichste Waffe im Meinungskampf ist nicht Beschimpfung, sondern Spott

Viele Journalisten glauben, der AfD so maximal zu schaden. Sie fühlen sich dadurch bestätigt, dass die Parteiführer den Umgang mit ihnen als unfair beklagen. In Wahrheit sonnen sich Leute wie Höcke und Kalbitz in der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird. Es ist tausendmal besser, man ist berüchtigt und gefürchtet als ignoriert und verspottet.

Die gefährlichste Waffe im Meinungskampf ist nicht die Beschimpfung, sondern der Spott. Lange wusste das niemand besser als die Linke. Es gehört zu ihren tragischen Alterserscheinungen, dass ihr dieses Wissen abhandengekommen ist.

Öffentlich-grünroter Rundfunk

ARD und ZDF sind zur Ausgewogenheit verpflichtet, so steht es im Rundfunkstaatsvertrag. Warum ist es dann bloß so schwer, dort einen Journalisten zu finden, der in seinen Kommentaren nicht für die linke Sache trommelt?

Manchmal zeigt sich die Wahrheit in der Abweichung vom Gewohnten, der Panne, die kurz die Routine durchbricht.

Der erhellendste Moment am vergangenen Wahlabend, als die Ergebnisse aus Sachsen und Brandenburg einliefen, war der Auftritt von Robert Habeck im ZDF. Der Grünen-Chef war aus der Ferne zugeschaltet. Im Hauptstadtstudio saß Bettina Schausten, um ihn zum Abschneiden der grünen Partei zu befragen. Die Zuschauer konnten Schausten hören, aber Habeck konnte es nicht, da es offensichtlich ein Problem mit der Leitung gab.

Die Kolumne von Jan Fleischhauer finden Sie jeden Samstag im FOCUS Magazin

FOCUS

„Ich höre jetzt gar nichts“, sagte Habeck, während er an seinem Ohrstecker fingerte. „Ich kann aber trotzdem antworten, auch ohne die Frage gehört zu haben, wahrscheinlich.“ Worauf Frau Schausten geistesgegenwärtig den Daumen senkte: „Ich glaube, das machen wir mal nicht.“

Die Szene lässt zwei Deutungen zu. Entweder verfügt Habeck über telepathische Fähigkeiten. Oder er ist durch seine Fernseherfahrung so konditioniert, dass er davon ausgeht, dass es auf Fragen von Journalisten nicht wirklich ankommt, weil man ihm grundsätzlich wohlgesonnen ist. Ich tippe auf Letzteres.

Schon ein leichter Verstoß gegen den vereinbarten Sprachgebrauch hat Konsequenzen

ARD und ZDF sind, anders als der FOCUS oder der „Spiegel“, zur Unparteilichkeit verpflichtet. Bei der Abbildung von Meinungen sollen sie auf Ausgewogenheit achten, so steht es im Rundfunkstaatsvertrag. Das Gebot der Unparteilichkeit gilt insbesondere für Nachrichten und politische Sendungen.

Ich führe keine Strichliste, aber immer wenn ich den Fernseher einschalte, erklärt mir jemand, warum die fortschrittlichen Kräfte im Land unser ganzes Vertrauen verdienen. Entweder wird die Mietpreisbremse gelobt, die sie in Berlinausgeheckt haben, um mit 30 Jahren Verspätung dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Oder ein Kommentator ruft die Politik dazu auf, mehr Verbote zu erlassen, weil nur durch mehr Verbote ein ökologisch verträgliches Leben möglich sei. Oder jemand verkündet, weshalb man endlich aufhören solle, die Leute von der Linkspartei als SED-Erben zu bezeichnen.

Schon ein leichter Verstoß gegen den vereinbarten Sprachgebrauch, und sei es nur aus Tollpatschigkeit, hat Konsequenzen. Dass bereits die unbedarfte Verwendung des Begriffs „bürgerlich“ im Zusammenhang mit der AfDreicht, um einen Empörungssturm auszulösen (bis hin zu Forderungen nach Moderationsverbot für die arme MDR-Redakteurin, die den Begriff in ihrer Wahlsendung benutzte), beweist eben gerade nicht, wie weit die ARDnach rechts gerutscht ist: Es zeigt aus meiner Sicht das genaue Gegenteil.

Was den Zuschauer interessiert, spielt nur am Rande eine Rolle

Die Verantwortlichen finden, es gehe bei ihnen ausgewogen genug zu. „Gibt es eigentlich bei den Öffentlich-Rechtlichen einen Journalisten, der sich in seinen Kommentaren nicht auf die Seite der Grünen, der SPDoder der Linkspartei schlägt?“, wollte ich neulich in einer Diskussion im Netz wissen. Es gebe sogar mehrere, antwortete der ARD-Chefredakteur Rainald Becker. Ob er mir einen nennen könne, der über den engeren Kollegenkreis hinaus bekannt sei, fragte ich zurück, das würde mich wirklich interessieren. Leider zog es Herr Becker darauf vor, in Schweigen zu verfallen.

Ich kann es nicht beschwören, aber ich bilde mir ein, früher war mehr Kontroverse. Es gab „Panorama“ und „Monitor“. Aber es gab auch Gerhard Löwenthal und Bodo Hauser – oder Eduard Zimmermann mit seinem „Aktenzeichen XY … ungelöst“. Der war zwar im engeren Sinn kein politischer Kopf, aber dennoch eine Figur, die für alles stand, was man auf der Linkenhasste.

Warum es heute weniger Vielfalt gibt? Ein Grund ist eine Tendenz, die für alle Medien gilt und die ein Soziologe die Regression zur Mitte nennen würde. Die meisten Journalisten interessieren sich zunächst dafür, was andere Journalisten über ihre Arbeit denken. Die Frage, was die Leser oder Zuschauer beschäftigen könnte, spielt auf Redaktionskonferenzen meiner Erfahrung nach lediglich am Rande eine Rolle.

Jede Gewerkschaftsnudel hat ihren Platz im Rundfunkrat

Die Neigung, dem Redaktions-Mainstream zu folgen, ist umso stärker, je mehr das Fortkommen von Aufsichtsgremien abhängt. Nirgendwo ist der Einfluss der sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen so groß wie beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, deshalb ist auch die Tendenz zur Meinungsvereinheitlichung nirgendwo so ausgeprägt wie hier. Jede Gewerkschaftsnudel und jede Gleichstellungsbeauftragte hat ihren Platz im Rundfunkrat, weshalb schon die falsche Gästeauswahl bei einer Talkshow zu einer Vorladung führen kann.

Lange Zeit herrschte noch ein gewisser Proporz, weil die CDU dafür sorgte, dass auch Leute nach oben kamen, die Patchwork nicht für das ideale Familienmodell hielten und das Windrad nicht für das ultimative Sinnbild des Fortschritts. Aber das hat sich erledigt. Seit Angela Merkelregiert, gibt es so etwas wie eine konservative Medienpolitik nicht mehr.

Die Unbekannte in dem Spiel sind die Zuschauer

Warum auch? Das, was die Kanzlerin denkt, denken die meisten Journalisten ohnehin, da braucht es keine besondere Beförderungspolitik. Selbst der Bayerische Rundfunk ist in ihrer Ägide zu einer Anstalt geworden, in der man sich jeden scharfen Ton versagt. Ich kenne den Intendanten Ulrich Wilhelm noch aus seiner Zeit als Regierungssprecher in Berlin. Ich mag ihn, er ist ein feiner Kerl, aber er ist so wie alle, die für Merkel gearbeitet haben, ganz Sozialdemokrat im Herzen.

Die Unbekannte in dem Spiel sind die Zuschauer. „Britain makes a noise“, sagt der Vater der Brexit-Kampagne, Dominic Cummings, zum Auftakt des fabelhaften Historiendramas „Brexit – The Uncivil War“, in dem der britische Sender Channel 4 die Hintergründe dieses seltsamen Volksaufstands aufrollt.

Ein Grummeln des Unmuts grollt in der Ferne

Auch die Deutschen machen ein Geräusch. Es ist bislang nur ein Grollen in der Ferne, ein Grummeln des Unmuts, das man in den Fernsehanstalten glaubt, ignorieren zu können, weil Politik und Verfassungsgerichte ihre schützende Hand über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk halten. Es schlägt sich in den Umfragen nieder, in denen eine Mehrheit angibt, man könne bestimmte Wahrheiten nicht mehr offen aussprechen. Es zeigt sich auch in den Erfolgen der AfD, die dem Missmut über das Gebührenfernsehen den aggressivsten Ausdruck verleiht.

Wie die Sache beim Brexit ausgegangen ist, wissen wir. Hoffen wir, dass den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht ein ähnliches Schicksal ereilt. Wenn der Brexit eines gezeigt hat, dann dass man auf Dauer das Rauschen des Unmuts nicht überhören sollte.

Die Nackten und die Doofen

Humor ist ein Mittel der Aufklärung: Er schafft Distanz und damit Erkenntnisgewinn. Vielleicht reagieren die Anhänger der neuen Umweltbewegung deshalb so allergisch auf jeden Witz.

Ich habe einen Scherz über Greta Thunberg gemacht. Das hätte ich besser gelassen. Ich habe ein Foto von ihrem Besuch im Hambacher Forst über Twitter geteilt. Auf dem Bild war Thunberg im Kreis von mehreren Jugendlichen zu sehen. Die Gruppe stand im Wald, alle guckten sehr ernst, einer der Jugendlichen war vermummt.

Ich musste unwillkürlich an eine dieser amerikanischen Serien denken, in der die Kinder gegen das Böse kämpfen, das im Unterholz lauert. Also schrieb ich zu dem Foto: „Die Dreharbeiten zur 4. Staffel von ,Stranger Things‘ haben begonnen, wie Netflix mitteilte.“

Ein harmloser Spaß, dachte ich. Wie wenig ich doch von der Gemütslage der Thunberg-Anhänger verstehe! In dieser Welt ist nichts harmlos. Kaum war der Tweet in Umlauf, traf mich eine Kanonade der Verachtung.

„Wie abgestumpft kann man werden? Gute Nacht“, donnerte der Pianist Igor Levit, der für seine magischen Hände ebenso bekannt ist wie für sein politisches Engagement, und der mühelos aus jeder Beethoven-Sonate eine antifaschistische Ode macht. Andere waren noch direkter.

 

Die aktuelle Kolumne finden Sie jeden Samstag im FOCUS Magazin

Darf man über jemanden scherzen, bei dem schon die Frage, wie er oder sie die Nacht verbracht hat, eine Welt-Nachricht ist? Aber ja, würde ich sagen. Unbedingt sogar. Wer es nicht lustig findet, wenn eine 16-Jährige das Cover von Männermagazinen wie „GQ“ schmückt, die ansonsten genau den Lifestyle propagieren, der von der Titelheldin beklagt wird, dem ist nicht zu helfen.

Mir wird vorgehalten, ich würde das Engagement junger Menschen belächeln. Aber das beruht auf einem Missverständnis. Ich finde es super, wenn Leute etwas auf die Beine stellen. Was mich irritiert, ist der Hang zur Verkitschung, der mit dem Greta-Kult einhergeht. Anhimmelung und Anbetung gehören nach meinem Verständnis nicht zu den Hauptaufgaben des Journalisten, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass dies in meiner Journalistenschule anders gelehrt wurde. Aber mit dieser Einstellung gehöre ich heute wohl zur Minderheit.

Das Übermaß an Süße verleiht dem Kitsch seine betäubende Wirkung

Die Linkeund der Kitsch waren immer schon eine heikle Beziehung. Was dem klassischen Spießer der röhrende Hirsch, das ist dem Grünen der singende Wal, hat der Kulturkritiker Gerhard Henschel einmal sinngemäß angemerkt. Kitsch entsteht aus dem Bedürfnis, einer innigen Beziehung noch mehr Innigkeit zu verleihen beziehungsweise dem Weihevollen noch mehr Weihe. Es ist dieses Übermaß an Süße, das dem Kitsch seine betäubende Wirkung verleiht (und seine Erzeugnisse leider auch so schwer verdaulich macht).

Politischer Kitsch gedeiht besonders gut, wo Menschen sich an der Hand fassen, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen, also auf Kirchentagen, Demonstrationen und überhaupt allen Zusammenkünften, in denen es um den Weltfrieden, die globale Gerechtigkeit und das Überleben auf Erden geht. Es gilt die Faustformel: Wo der Baum umarmt und die Biene gerettet wird, da ist der Kitsch nicht fern.

Die Fledermaus schafft es nie auf ein Grünen-Plakat

Nicht alles ist gleichermaßen kitschfähig. Der Delfin und der Schmetterling eignen sich besser als Wappentiere als, sagen wir, die Spinne. Dabei sind Spinnen faszinierende Tiere, die zu wahren Wunderwerken in der Lage sind. Auch der Fledermaus gelingt es nicht, das grüne Herz zu erweichen, weshalb völlig ungerührt hingenommen wird, dass jedes Jahr etwa 25.0000 dieser intelligenten Säugetiere verenden, weil sie den Flug durch die Windanlage nicht verkraften.

Die arme Fledermaus erleidet ein Baro-Trauma. Hinter den Rotorblättern, die sie Dank des Echolots pfeilgerade durchsteuert, trifft sie auf ein Vakuum, das ihre kleine Lunge zerfetzt und sie tot zu Boden fallen lässt. Dennoch schafft es die Fledermaus nie auf ein Grünen-Plakat, und es findet sich auch kein Volksbegehren zu ihrer Rettung, das dann vom bayerischen Ministerpräsidenten adoptiert werden könnte.

Das Herz eignet sich nur bedingt zu Verstandeszwecken

Es waren bezeichnenderweise vor allem Linke wie Eckhard Henscheid, Klaus Bittermann und Gerhard Henschel, die unter Titeln wie „Die Nackten und die Doofen“ oder „Das Blöken der Lämmer“ eine Kritik von „Betroffenheitsjargon und Gesinnungskitsch“ begründeten. Es ist kein Zufall, dass die Publikation vieler Bücher mit dem Auftritt der grünen Umweltbewegung zusammenfiel, bei der erstmals um die Wette geknetet, gebetet und gefastet wurde. Dass unverwüstliche Oberkitschproduzenten wie Konstantin Wecker („weiterhin verwundbar sein“) einem heute wieder von Plakaten entgegenlächeln, so als seien die siebziger Jahre nie zu Ende gegangen, ist ein Signum unserer Zeit.

Humor schafft Distanz und hilft damit bei der Erkenntnisgewinnung. Umgekehrt vernebelt der Sentimentalismus nicht nur die ästhetische Vernunft. Auch wenn von Konstantin Wecker die Empfehlung stammt, man solle mit dem Kopf fühlen und dem Herzen denken, so eignet sich das Herz leider nur bedingt zu Verstandeszwecken, wie sich schnell zeigen lässt. Aus der Tatsache, dass uns etwas besonders nahegeht, folgt noch nicht, dass es auch in der Realität besonders bedeutsam wäre.

Alle reden jetzt über Flugscham

Nehmen Sie die Aufregung über das Fliegen: Alle reden jetzt über Flugscham, dabei entspricht die CO2-Belastung durch das Internet schon heute dem des Flugverkehrs. Mit 20 Suchanfragen bei Google kann man eine Energiesparlampe eine Stunde brennen lassen! Wer 100 Prozent emissionsfrei über den Atlantik juckeln will, müsste also nicht nur auf Dieselaggregate, sondern auch aufs Posten bei Twitter verzichten.

Das war jetzt nicht ganz ernst gemeint. Aber an dem Beispiel kann man sehen, wohin der heilige Ernst führt. Dann werden selbst kleine Verfehlungen zur Staatsaffäre. Dass ein Segeltrip nach New York fürs Klima schädlicher ist als ein Transatlantikflug, weil die Crew, die das Schiff zurückbringen soll, ja irgendwie nach Amerika kommen muss, das ist nicht skandalös, sondern komisch, wie ich finde. Wo die Atlantiküberquerung zum Opfergang wird, bleibt allerdings kein Raum für Komik.

Vielleicht ist alles eine Frage des Abstands. Auch Jesus war nicht zu Scherzen aufgelegt, als er das Kreuz auf die Schulter nahm. Das haben mit Verspätung dann Monty Python besorgt. Geben wir der Thunberg-Bewegung also etwas Zeit. Möglicherweise entdecken auch ihre Anhänger irgendwann die segensreichen Wirkungen der Selbstironie.

Eine Frau will nach unten

Wenn es noch Zweifel an der Nichteignung von Annegret Kramp-Karrenbauer für das Kanzleramt gab, dann hat sie diese jetzt ausgeräumt. Wer nicht klar redet, der denkt in der Regel leider auch nicht klar.

Jeder Kanzler hält sich für unersetzlich. Alle, die das Amt innehatten, gaben zu Protokoll, nicht an ihrem Sessel zu kleben. Aber wenn es so weit war, die Macht abzugeben, konnte keiner so leicht loslassen.

Es liegt in der menschlichen Natur, dass es einem schwerfällt, sich vorzustellen, dass andere es genauso gut oder vielleicht sogar besser können als man selbst. Das gilt erst recht für Menschen, die Machtmenschen sind. Wer als Regierungschef an Selbstzweifeln leidet, wird schwermütig.

Der einzige Kanzler, der von sich aus hinwarf, war Willy Brandt. Allerdings geschah auch das nicht aus freien Stücken, sondern war Folge einer ins Behandlungsbedürftige sich verfestigenden Ermüdung. Adenauer brauchte vier Anläufe, um sich vom Kanzleramt zu verabschieden. Kohl hielt so lange an der Macht fest, bis selbst die engsten Weggefährten ein Ende herbeiwünschten.

Angela Merkel hat angekündigt, freiwillig das Feld zu räumen, das zeichnet sie aus. Aber auch sie hat einen Weg gefunden, der Welt zu beweisen, dass es ohne sie nicht einfach so weitergeht. Sie hat, wenn man so will, eine besonders raffinierte Form gewählt, die Deutschen an ihre Verdienste zu erinnern: Sie hat eine Frau zur Nachfolgerin auserkoren, von der sie genau weiß, dass ihr die Voraussetzungen für die Kanzlerschaft fehlen.

Wenn es noch Zweifel an der Nichteignung von Annegret Kramp-Karrenbauer für das höchste Regierungsamt gab, dann hat sie diese jetzt ausgeräumt. Zwei Wochen vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hat die Parteivorsitzende der CDU ausgerechnet den Mann gemaßregelt, der wie kaum ein anderer in der Lage ist, CDU-Wähler vom Wechsel zur AfDabzuhalten. Wo der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen im Osten auftritt, ist der Saal voll. Aus Berliner Sicht ist das keine Empfehlung, sondern ein Grund zum Argwohn.

Im Adenauer-Haus misstraut man grundsätzlich Leuten, die sich eine Meinung erlauben, die nicht mit den Gremien abgestimmt ist, weshalb die CDU-Vorsitzende in einem Zeitungsinterview auch dem Gedanken nachging, ob man Maaßen nicht am besten ganz aus der Partei entfernen sollte. Es hieß dann anschließend, das sei alles nicht so gemeint gewesen, aber diese Erklärung ist Augenwischerei.

Wer überfordert ist, neigt dazu, abweichende Meinungen als Angriff zu verstehen

Stellen Sie sich vor, Ihr Vorgesetzter würde auf die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, Sie zu kündigen, antworten: Im Prinzip sei Ihr Unternehmen ein liberales Haus, die rechtlichen Hürden für eine Kündigungseien außerdem hoch. Aber in Ihrem Fall müsse man leider feststellen, dass der Bogen überspannt sei.

Ich bin sicher, Sie würden sich nicht beruhigt zurücklehnen und sagen: Na ja, mein Chef hat schließlich betont, dass er grundsätzlich für die Meinungsfreiheit ist. Wenn Sie Ihre fünf Sinne beisammenhaben, würden Sie schleunigst einen Anwalt aufsuchen, um sich arbeitsrechtlich beraten zu lassen.

„Welcher Typ Mensch setzt nach dem Satz, in dem das Recht auf Meinungsäußerung betont wird, freiwillig einen Satz mit ,aber‘?“, hat der „Welt am Sonntag“-Chefredakteur Johannes Boie geschrieben. Meine Antwort wäre: der Typ Mensch, der eine Partei mit einer Behörde verwechselt. Annegret Kramp-Karrenbauer leidet wie viele Menschen, die es in der Politik sehr schnell sehr weit nach oben getragen hat, an Überforderung. Wer überfordert ist, neigt dazu, abweichende Meinungen als Angriff zu verstehen.

Es herrscht Bedürfnis nach Politikern, die sagen, was ist

Ich dachte zwischenzeitlich, ich hätte mich in der CDU-Vorsitzenden getäuscht. Mir hat imponiert, wie sie ihren Karnevalsscherz über Berliner Gendertoiletten verteidigte, statt sich dafür, wie erwartet, zu entschuldigen. Nicht weil ich den Witz überragend fand. Sondern weil ich es immer etwas armselig finde, wenn konservative Politiker in die Knie gehen, sobald drei kritische Kommentare auf „Spiegel online“ erscheinen.

70 Prozent der Deutschen haben nichts gegen schlechte Witze zu Karneval, so wie 70 Prozent auch nicht finden, dass jemand Grund zur Entschuldigung hat, wenn er auf die Integrationsprobleme in deutschen Schulen hinweist. Ein Gutteil der Leute ist noch nicht einmal der Meinung, dass ein Fußballboss untragbar geworden ist, weil er sich über die Vorzüge einer Elektrifizierung des afrikanischen Kontinents ausgelassen hat. Im Zweifel denken sie sich: „Der Mann ist Schlachtermeister. So einer drückt sich nun einmal etwas ungelenk aus. In der Sache hat er doch gar nicht so Unrecht.“

Es herrscht ein großes Bedürfnis nach Politikern, die sagen, was ist, statt so zu reden, dass sie den Journalisten imponieren, die ihnen in Kommentaren dann Kopfnoten erteilen. Viele Menschen haben den Eindruck, dass es zwei Wirklichkeiten gibt, die sich immer weiter voneinander entfernen.

CDU wird nicht mit Kramp-Karrenbauer ins Rennen gehen

Es gibt ihre Lebenswirklichkeit mit handfesten Problemen, wo man schon dankbar wäre, wenn der Staat für das viele Geld, das er einzieht, seine Aufgaben ordentlich erledigen würde. Und es existiert eine mediale Wirklichkeit, in der es vor allem um das richtige Betragen geht und in der ein falsches Wort genügt, um in Teufels Küchezu kommen. Was einer Partei passiert, wenn sie die beiden Welten verwechselt, hat die SPDvorgeführt. Die CDU ist drauf und dran, der Sozialdemokratie auf ihrem Weg nach unten zu folgen.

Man soll sich als Journalist mit Prognosen zurückhalten. Aber in dem Fall gehe ich das Risiko ein: Ich glaube nicht mehr daran, dass die CDU mit Frau Kramp-Karrenbauer als Kanzlerkandidatin ins Rennen gehen wird. So viel Überlebenswillen steckt in der Partei dann doch, würde ich sagen.

Wer nicht klar redet, der denkt in der Regel auch nicht klar, das ist jedenfalls meine Erfahrung. Es ist ein groteskes Missverständnis zu glauben, weil die Dinge komplex sind, müsse man sich auch möglichst unverständlich ausdrücken. Das Gegenteil ist richtig.

Klares Denken steht noch vor klarem Sprechen. Von einem Kandidaten, der will, dass ihm die Menschen Entscheidungen über ihre Zukunft anvertrauen, wird beides erwartet.

Sensible Sprache: Roma sein oder Roma nicht sein

Soll man bei Straftätern oder Verdächtigen die ethnische Zugehörigkeit nennen? Die Polizei in Bayern will darauf verzichten. Maßgeblich ist künftig eine Weisung zum „sensiblen“ Sprachgebrauch, die auch für Fahndung und Personalienfeststellung gilt. 

Der Inspekteur der Bayerischen Polizei, Harald Pickert, hat seine Beamten angewiesen, nicht länger von „Sinti“ und „Roma“ zu sprechen. Auch Ersatzbegriffe wie „mobile ethnische Minderheit“ seien im Dienstgebrauch zu meiden, heißt es in dem Erlass, mit dem der Inspekteur seine Polizisten zum „sensiblen Umgang mit diskriminierenden Bezeichnungen“ anhalten will.

Wie die Beamten reden, wenn sie dienstfrei haben, bleibt weiterhin ihnen überlassen. Da kann man nicht viel machen. Aber sobald sie in Uniform sind, gilt die neue Weisung zum sensiblen Sprachgebrauch. Das heißt, auch bei der Fahndung oder der Personalienfeststellung müssen die Polizisten jetzt über die Herkunft von Verdächtigen hinweg sehen.

Dass man heute nicht mehr von Zigeunern redet, ist klar. Ein Mensch, der nicht auf Krawall aus ist, vermeidet Begriffe, die als abwertend empfunden werden. Auch Ableitungen wie „Zigeunerschnitzel“ oder „Zigeunerbaron“ scheiden aus. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wie es so schön heißt.

Aber Sinti und Roma? Es war mir neu, dass dies eine diskriminierende Bezeichnung sein könnte, schließlich nennt sich der entsprechende Interessenverband in Heidelberg ganz offiziell „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“. Zu den Erfolgen des Zentralrats gehört, dass nahe dem Holocaust-Mahnmal eine Gedenkstätte für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma errichtet wurde. Die Gedenkstätte heißt genauso: „Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas“.

Ich vermute, es geht der bayerischen Polizeiführung darum, Vorurteile zu bekämpfen. Das ist löblich, auch wenn ich unsicher bin, ob man wirklich so weit gehen sollte, deshalb die Fahndung umzustellen. Meiner Meinung nach würde es reichen, wenn man nach außen Zurückhaltung übt.

Ethnische Zugehörigkeit bei Straftätern

Ob man bei Straftätern die ethnische Zugehörigkeit nennen darf, wird seit Längerem diskutiert. In Presseartikeln soll die Herkunft nur dann auftauchen, wenn ein „begründetes öffentliches Interesse“ besteht. So steht es im Kodex des Presserats, den alle großen Redaktionen unterschrieben haben.

Die Richtlinie wird zunehmend strenger ausgelegt, was dazu führt, dass viele Redakteure bei Gesetzesübertretungen den Hinweis, woher einer stammt, unter den Tisch fallen lassen. Die Leser machen sich natürlich trotzdem ihren Reim auf die Geschichte.

Wenn in einem Artikel davon die Rede ist, dass die Gäste einer Hochzeitsfeierdie A3 blockiert haben, um auf der Autobahn zu feiern, weiß der kundige Leser schon, dass es sich hierbei nicht um eine normale deutsche Hochzeitsgesellschaft gehandelt haben dürfte. Das Entzünden von Feuerwerkskörpern aus dem Wagen heraus ist hierzulande als Hochzeitsbrauch eher unüblich. Auch gewagte Bremsmanöver oder qualmende Reifen als demonstrative Freudenbekundung haben sich in Deutschland noch nicht wirklich durchgesetzt.

Einige Argumente, die für eine Anonymisierung sprechen, sind nicht so leicht von der Hand zu weisen. Was nützt es mir, lässt sich fragen, wenn ich erfahre, dass der auf frischer Tat gestellte Ladendieb kein Landsmann, sondern, sagen wir, Syrer ist? Im Zweifel wird es meine Einstellungen gegenüber Syrern im Allgemeinen ändern. Das wäre allerdings sehr ungerecht gegenüber jedem unbescholtenen Flüchtling, der sich eher einen Arm ausreißen würde, als bei Edeka mopsen zu gehen.

Das Problem ist, dass nach dieser Logik streng genommen auch die Nennung von Geschlecht oder Alter unterbleiben müsste. Wenn ich immer wieder zu hören bekomme, was Männer so alles Frauen antun, führt das dazu, dass ich von Männern insgesamt ein schlechtes Bild entwickle.

Sich blind und taub stellen, weil das gerechter wirkt?

Man weiß, dass die Delinquenz im Alter zwischen 18 und 30 Jahren ihren Höhepunkt erreicht, um ein anderes Beispiel zu nennen. Rentner machen in der Kriminalitätsstatistik eine Minderheit aus. Weil bei jeder Straftat das Alter des Täters erhoben wird, sind ältere Menschen unwillkürlich alarmiert, wenn eine Gruppe lärmender Jugendlicher die U-Bahn betritt. Der klassische Fall, wo man aus der Gruppenzugehörigkeit auf den Einzelnen schließt, also genau der Mechanismus, den man außer Kraft setzen möchte.

Ich bin trotzdem dagegen, bei der Täterbeschreibung wichtige Angaben zu unterschlagen. Dass manche Delikte in bestimmten Gruppen gehäuft auftreten, halte ich für einen Umstand, über den sich nachzudenken lohnt. Man könnte daraus ja auch den Schluss ziehen, dass man hier mehr tun müsse, zum Beispiel durch gezielte Förderung oder Sozialprogramme.

Was die Integration angeht, gibt es zwischen Ausländern in Deutschland große Unterschiede. Ich habe gelesen, dass 90 Prozent der Libanesen, die sich in Deutschland aufhalten, Hartz IV beziehen, aber nur 18 Prozent der hier lebenden Nigerianer, obwohl man es als Nigerianer in Deutschland sicher auch nicht leicht hat. Was ist da schiefgelaufen? Das würde mich wirklich interessieren. Sich blind und taub zu stellen, nur weil das gerechter wirkt, scheint mir keine kluge Strategie zu sein.

Heikles Thema

Auch beim Zuzug ließen sich Konsequenzen ziehen. Ich weiß, das ist ein heikles Thema, ich begebe mich damit in gefährliche Nähe zu einem Shitstorm. Aber ich würde mir überlegen, ob ich jeden jungen Schweizer ins Land ließe, wenn sich herausstellen sollte, dass die Zahl der Schweizer, die anschließend beim Drogenhandel auffallen, den Rahmen des Üblichen sprengt.

Bevor jetzt alle aufschreien, das sei Rassismus, darf ich daran erinnern, dass bei der Visavergabe aus gutem Grund genau hingesehen wird, wer sich um Einreise bemüht. Wäre die Sozialprognose des Antragstellers unerheblich, bräuchte man keine Visa. Prognosen beruhen immer auf der Hochrechnung kollektiv erhobener Daten.

Das Beruhigende bei Vorurteilen ist, dass die meisten Menschen nach einer persönlichen Begegnung bereit sind, sie zu korrigieren. Sie sagen dann: Kolumnisten sind an sich grausliche Leute, die alles besser zu wissen glauben, aber es gibt auch Ausnahmen. Womit bewiesen wäre, dass man das, was man über eine Gruppe von Menschen liest, nicht überbewerten sollte.

Apokalyptisches Denken: Die Diktatur der Klimaretter

Klimaexperten wie Prinz Charles geben der Politik nur noch wenige Monate, um die Welt vor der Katastrophe zu retten. Das stellt uns vor eine unangenehme Wahl: Demokratie oder Überleben. Denn wer will Parlamentariern zutrauen, dass sie rechtzeitig die Kehrtwende schaffen?

Prinz Charles gibt der Politik noch 18 Monate, um die Welt zu retten. Das sei die Zeitspanne, die der Menschheit bleibe, wenn sie die Klimakatastrophe abwenden wolle, sagte er bei einem Empfang in seiner Residenz in London. Man könnte einwenden, dass der britische Thronfolger erst einmal zu Hause nach dem Rechten sehen sollte, bevor er der Staatengemeinschaft ins Gewissen redet. Andererseits: Gegen den Klimakollaps verliert sogar die Brexit-Hölle ihren Schrecken.

Dass uns nur radikales Umsteuern vor dem Hitzetod bewahren kann, ist ein Grundthema der Klimadebatte. Es ist das Drängende und Unbedingte, das den Protesten ihre Überzeugungskraft verleiht.

18 Monate bis zum Ende sind noch großzügig bemessen. Glaubt man Greta Thunberg, der Initiatorin der aktuellen Klimabewegung, dann entscheidet sich das Schicksal der Welt quasi stündlich. „Unser Haus steht in Flammen“, lautet der Satz, mit dem sie bekannt wurde. Wo es lichterloh brennt, ist jede Minute, die man untätig bleibt, ein Verbrechen.

Ich gebe zu, ich bin für die apokalyptische Weltsicht ungeeignet. Wahrscheinlich habe ich zu viel überlebt. Wer wie ich in den siebziger Jahren groß wurde, hat das Waldsterben und das Ozonloch überstanden, die Aids-Katastrophe, die nach ersten Berechnungen große Teile der Weltbevölkerung hinwegraffen sollte, diverse Vogel- und Schweinegrippen und natürlich BSE, den Killer im Fleischklops. Aus der Tatsache, dass sich eine Prophezeiung nicht bewahrheitet hat, folgt nicht, dass es einen beim nächsten Mal nicht doch erwischen kann, ich weiß. Trotzdem bin ich für Endzeitprognosen verloren. Nennen Sie es einen Generationendefekt.

Obwohl ich gegen Untergangsstimmungen immun bin, nehme ich kollektive Gefühlsausbrüche ernst. Dass Emotionen im politischen Geschäft großen Einfluss haben können, scheint mir hinreichend bewiesen. Ohne die Untergangsangst der Siebziger wären die Grünennicht entstanden und ohne die Angst vor dem Ende der Deutschen nicht die AfD.

Man sollte Menschen beim Wort nehmen. Ich kann nicht beurteilen, wie viel Zeit der Menschheit noch bleibt, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Ich fürchte nur, dass wir auf eine ziemlich unangenehme Wahl zusteuern. Wenn Greta Thunberg und Prinz Charles Recht haben, müssen wir uns entscheiden, was uns wichtiger ist: die Demokratie oder unser Überleben.

Parlamentarismus ist zu langsam, um die Klimakehrtwende einzuleiten

Dass wir uns Demokratie nicht länger leisten können, wenn wir davon überzeugt sind, dass die Klimakatastrophe unmittelbar bevorsteht, liegt meines Erachtens auf der Hand. Der Parlamentarismus ist einfach zu langsam, um die Kehrtwende einzuleiten. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass sich die Führer Europasauf einen radikalen Klimaplan verständigen? Es hat Jahrzehnte gedauert, bis man sich in Brüsselzu einem Ende der Subventionen für den Tabakanbau durchringen konnte, obwohl vor Tabak auf jeder Zigarettenpackung gewarnt wird. Wie soll da binnen 18 Monaten ein Kompromiss zum Ausstieg aus dem Kohlestrom stehen?

Auf Selbstdisziplin kann man erst recht nicht setzen. Sogar Menschen, die sich die Rettung der Welt auf die Fahnen geschrieben haben, versagen kläglich, wenn es darum geht, den guten Vorsätzen Folge zu leisten. Bei „Maischberger“ wurde ich neulich ausgelacht, als ich die Vermutung äußerte, dass einen das ökologische Bewusstsein nicht von der Buchung des nächsten Tansania-Urlaubs abhält. Jetzt las ich in der Zeitung, dass die Anhänger der Grünen die Vielflieger unter den Deutschen sind. Niemand benutzt so gern und so ausgiebig das Flugzeug wie die Anhänger der Öko-Partei.

Flirt mit der Öko-Diktatur

Der Flirt mit der Öko-Diktatur ist die dunkle Seite der Klimadebatte. Wer davon überzeugt ist, dass der Welt nur noch wenige Monate bis zum Tag des Jüngsten Gerichts bleiben, muss den Politikern das Mandat entziehen. Ich weiß, das hört niemand gern, am wenigsten die Klimaschützer, die am Freitag auf die Straße gehen. Wer will schon zugeben, dass er die Demokratie für eine Regierungsform hält, die leider aus der Zeit gefallen ist? Aber das ist die Konsequenz des apokalyptischen Denkens.

Hans Joachim Schellnhuber, Direktor emeritus des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, spricht von einer „großen Transformation“, ein Begriff, der nicht von ungefähr an den „großen Sprung“ von Mao Tsetung erinnert. Als Einstieg sollten zehn Prozent der Sitze im Bundestag für Ombudsleute reserviert werden, die „ausschließlich die Interessen künftiger Generationen vertreten“, wie Schellnhuber vorschlägt.

Die Australier David Shearman und Joseph Wayne Smith fordern, die Idee der Demokratie ganz aufzugeben. „Wir benötigen eine autoritäre Regierungsform, um den Konsens der Wissenschaft zu Treibhausgasemissionen zu implementieren“, schrieben sie schon vor zwölf Jahren in ihrem Buch „The Climate Change Challenge and the Failure of Democracy“.

Vielleicht ist die Demokratie doch keine so schlechte Idee

Der Nachteil jeder radikalen Lösung: Man hat nur einen Versuch. Wenn sich anschließend herausstellen sollte, dass man Nebenwirkungen nicht bedacht hat, ist es zu spät. Interessanterweise ist gerade die Bilanz der Grünen, was die Weitsichtigkeit ihrer Entscheidungen angeht, durchwachsen. Von der Einführung des Dosenpfands hat sich die Mehrwegflasche bis heute nicht erholt. Die Förderung des Biosprits hat gigantische Maiswüsten hervorgebracht, in denen keine Biene und kein Schmetterling mehr existieren.

In einem Fachaufsatz habe ich gelesen, dass man sich noch nicht einmal sicher sein kann, ob die Sofortabschaltung aller Kohlekraftwerke nicht mehr Schaden anrichtet als dass es nützt. Die Schwefelpartikel reflektieren Sonnenlicht. Eine schlagartige Reduktion würde möglicherweise dazu führen, dass es auf der Erde zunächst noch einmal deutlich heißer wird.

Vielleicht ist die Demokratie doch keine so schlechte Idee. Kompromisse haben den Vorteil, dass sie weniger Unheil anrichten. Redundanz bedeutet Sicherheit. Das sollten eigentlich vor allem Leute wissen, die ansonsten bei jedem Großprojekt das Schlimmste befürchten.

Abschied beim SPIEGEL: Jetzt ist Schluss!

Nach achteinhalb Jahren, 438 Kolumnen und unzähligen Aufforderungen an die Chefredaktion, dem Autor zu kündigen, endet heute „Der schwarze Kanal“ auf SPIEGEL ONLINE.

Seit ich diese Kolumne schreibe, also seit achteinhalb Jahren, verlangen Leser meine Kündigung. Im Wochentakt gehen in der Redaktion Zuschriften ein, in denen gefordert wird, mir das Handwerk zu legen.

Einige Leser drohen mit Abokündigung. Andere legen feierlich einen Schwur ab, dass sie keinen SPIEGEL mehr kaufen werden, solange ich dort beschäftigt bin. Letzte Woche erfreute sich ein Tweet einer gewissen Beliebtheit, in dem ein politisch aufrechter IT-Spezialist aus Norderstedt darüber nachsann, ob man nicht eine Browser-Erweiterung entwickeln könne, die es ermögliche, dass meine Texte nicht mehr angezeigt würden.

Ich kann den IT-Mann und alle ihm Seelenverwandten trösten. Dies ist mein letzter Text im SPIEGEL. Nachdem ich mich am Wochenende schon von den Lesern im Heft verabschiedet habe, nun auch allen SPIEGEL-ONLINE-Lesern ein herzliches Farewell.

Bevor sich allerdings alle, die auf diesen Tag hingefiebert haben, zu sehr freuen, vielleicht ein Wort der Ernüchterung. Ich werde weiter schreiben, ab August nur an einem anderen Ort, nämlich beim „Focus“. Wer in den sozialen Netzen unterwegs ist, bleibt also auch in Zukunft nicht verschont. So leicht entkommt man einem Kolumnisten nicht, jedenfalls nicht, wenn er über eine ausreichende Zahl an Followern verfügt. Das Internet kann in dieser Hinsicht brutal sein.

Die Eingaben an die Redaktion haben nichts mit meiner Demission zu tun, auch das muss ich anfügen. Wenn ich den Beteuerungen der Chefredaktion Glauben schenken darf, wird mein Ausscheiden sogar ausdrücklich bedauert. Den Leuten, die mit Abokündigung drohten, standen zum Glück mindestens so viele Leser entgegen, die meine Texte schätzten, und sei es nur, weil ich ihnen damit verlässlicher als jeder Espresso den Blutdruck hochtrieb. 13 Millionen Klicks pro Jahr ist eine Zahl, die auch den hartgesottensten Chefredakteur nachdenklich stimmt.

Man will sich nicht langweilen

Da dies meine letzte SPIEGEL-Kolumne ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, ein paar Dinge klarzustellen. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat mich neulich den „Chefprovokateur des SPIEGEL“ genannt. Das war sicher schmeichelhaft gemeint. Trotzdem fühlte ich mich nicht ganz richtig beschrieben. Provokateur klingt so, als wäre es mir in erster Linie darum gegangen, dass sich andere über mich aufregen. Aber darum ging es mir gar nicht, ich habe es in Wahrheit selten auf Provokation angelegt.

Ich glaube, dass viele Menschen in Deutschland über vieles so denken wie ich. Wenn das, was ich schreibe, eine Provokation darstellt, dann vor allem in dem Milieu, in dem ich mich bewege, also unter Journalisten und Journalistinnen beziehungsweise unter Menschen, die dort zu Hause sind, wo auch viele Journalist*innen leben, also in den deutschen Großstadtvierteln, in denen der Anteil von Grünen-Wählern seit Jahren verlässlich bei 40 Prozent liegt.

Im Januar 2011 ist der „Schwarze Kanal“ erstmals online gegangen. Da der Kolumnist, Gott sei’s geklagt, keinen Urlaub und keinen Feiertag kennt, sind seitdem 438 Kolumnen erschienen. Am Anfang dachte ich, mir würde irgendwann der Stoff ausgehen. Man will sich und seine Leser ja nicht langweilen, also gab ich mir zwei bis drei Jahre. Aber dann fand sich doch Woche für Woche etwas, von dem ich fand, dass es noch nicht ausreichend gewürdigt worden war. Die Politik ist ein verlässlicher Lieferant von gloriosem Unsinn.

Was macht eine gute Kolumne? Man muss sich, zumindest kurzzeitig, aufregen können. Wer alles mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs betrachtet, wird niemals einen Satz schreiben, der Schwung und Kraft hat. Was die Opfer angeht, habe ich mich an einen Satz von Harald Schmidt gehalten: „Keine Witze über Leute, die weniger als 10.000 Euro im Monat verdienen.“ Ich kann nicht garantieren, dass ich dem immer gerecht geworden bin (Sorry Kevin!), aber ich habe mich immerhin bemüht.

Die drückende Kuhstallwärme der Gesinnungsgemeinschaft

Manche Kritiker haben mir vorgeworfen, ich sei im Laufe der Zeit immer weiter nach außen gerutscht. Ich finde, das Gegenteil ist wahr. Zuletzt habe ich wie Frank-Walter Steinmeier geredet, der die Deutschen ermahnt, es sich im eigenen Meinungswinkel nicht zu gemütlich zu machen. Nichts ist so drückend wie die Kuhstallwärme der Gesinnungsgemeinschaft. Wenn es einen Grund gibt, warum ich bei der Linken Reißaus genommen habe, dann dieser Hang, sich ständig gegenseitig auf die Schultern zu klopfen, wie widerständig man doch denke.

Haben mich alle im SPIEGEL geliebt? Ganz sicher nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Meine Chefs haben alles gedruckt, was ich am Kolumnentag an sie geliefert habe, selbst wenn ich damit quer zur Mehrheit der Redaktion lag. Mehr kann man als Journalist nicht erwarten.

Wer als Kolumnist von seinen Kollegen geliebt werden will, hat nach meiner Meinung ohnehin den Beruf verfehlt. Entscheidend ist nicht, ob man gemocht, sondern ob man gelesen wird. Das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Mir bleibt einstweilen nur, mich bei meinen Lesern zu bedanken: bei denen, die mich geschätzt haben, und bei denen, die mich hassten. Sie haben mir über all die Jahre die Treue gehalten.

Falls es Sie beruhigt: Sie werden weiter von mir hören.

SPD-Hoffnung Kühnert: Der Schubser

Es ist eine besondere Kunst, jemanden ins Grab zu befördern – und dann der Erste zu sein, der an der Grube steht und den Verlust beklagt. Juso-Chef Kevin Kühnert beherrscht sie perfekt.

Kevin Kühnert hat die SPD für ihren schlechten Umgang mit Andrea Nahles gerügt. Er schäme sich, wie unsolidarisch sich die Partei verhalten habe, sagte er in einem viel beachteten Tweet. Dies dürfe sich nicht wiederholen. Wörtlich schrieb er am Tag nach dem Rücktritt der Parteivorsitzenden: „Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben.“

Für mich ist Kühnerts Twitter-Eintrag der Tweet der Woche. Ist mehr an kalkuliertem Pathos und moralischem Profitsinn denkbar? Schon das Timing muss einem Respekt abnötigen. Es ist eine besondere Kunst, jemanden ins Grab zu schubsen, und dann gleich der Erste zu sein, der an der Grube steht und den Verlust beklagt. So eine Wendigkeit ist nicht jedem gegeben. Dazu braucht es eine ganz spezielle Charakterausstattung.

Wenn es jemanden in der SPD gibt, der alles daran gesetzt hat, die Autorität der Vorsitzenden zu untergraben, dann Kühnert. Es war der Juso-Chef, der öffentlich erklärte, es interessiere ihn „einen Scheiß“, ob Nahles die richtige Parteivorsitzende sei. Und es war auch Kühnert, der am Beispiel einer zweitrangigen Personalie demonstrierte, wie wenig das Wort von Andrea Nahles zählte. Dass es in der Causa des unglücklichen Verfassungsschützers Hans-Georg Maaßen um eine Machtdemonstration ging und um nichts anderes, hat Nahles sofort erkannt. Deshalb hat ihr der Vorgang ja auch so zugesetzt.

Viel ist in diesen Tagen über den Umgang mit Frauen in Spitzenpositionen die Rede. Warum nicht mal Namen nennen? Kaum jemand in der SPD verkörpert den männlichen Chauvinismus besser als der Junge mit dem weichen Pennälergesicht. Selbst in seinem Leben noch nicht viel mehr zustande gebracht als die Dauereinschreibung in einem Dies-und-das-Studium, aber immer in der Lage, Noten zu verteilen über die Frau an der Spitze: Sollte der Begriff „Mansplaining“ je Sinn ergeben haben, dann doch wohl hier.

Wurde Andrea Nahles zum Nachteil, dass sie eine Frau ist? Das ist eine andere Frage. Der Verdacht, einem Mann hätte man nicht so zugesetzt wie ihr, war am Wochenende schnell zur Hand. Bei „Maischberger“ wiederholte gestern noch einmal Katrin Göring-Eckardt den Vorwurf, die SPD-Vorsitzende sei auch deshalb gescheitert, weil man an Frauen besondere Maßstäbe anlege.

Mag sein. Möglicherweise verzeiht man einer Frau das Ordinäre weniger als einem Mann. Aber ordinär zu wirken, ist in der Politik nie eine gute Idee, jedenfalls nicht, wenn man sich für die Führung des Landes in Stellung bringt. Politiker sollten sich möglichst unverstellt geben, heißt es, aber das sollte man nicht zu wörtlich nehmen.

Die Berliner Herablassung gegenüber der Provinz

In Wahrheit gibt es kaum etwas Artifizielleres als das Authentische. Authentisch zu sein, heißt in Wahrheit ja nicht, dass sich jemand so ausdrückt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, wie es so schön heißt, sondern dass er so spricht, dass alle den Eindruck haben, als wäre er ganz bei sich selbst. Das aber ist ein Riesenunterschied, wie man bei Andrea Nahles sehen konnte.

Ich glaube, in der Kritik an Nahles drückte sich nicht Frauenverachtung, sondern die Herablassung gegenüber der Provinz aus. Nahles ist ein Landei. 500 Einwohner zählt der Ort, in dem sie aufgewachsen ist und bis heute wohnt. Sie hat aus ihrer Herkunft nie ein Hehl gemacht; sie hat sie im Gegenteil sogar betont, auch um ihre derbe Sprache zu rechtfertigen. Die Provinz aber gilt in Berlin als ein Ort, den man verlässt, sobald sich einem die Möglichkeit dazu bietet – nicht als etwas, worauf man auch noch stolz ist.

Generationen von Journalisten haben sich über Helmut Kohl lustig gemacht, seine Sprache, die Vorliebe für einfache Hausmannskost, überhaupt diesen Lebensstil, den die Verfeinerungen des Metropolenlebens nicht erreicht hatten. Auch Kurt Beck blieb für sie immer der Provinzonkel, der über Mainz nie wirklich herausgekommen war. Ich erinnere mich noch gut an Runden vor der versammelten Hauptstadtpresse, wo der arme Mann mit hochrotem Kopf saß, weil er aus den Fragen die Herablassung heraushören konnte, die man in Berlin jedem entgegenbringt, der nicht über die nötige Weltläufigkeit verfügt. Am Ende war er so waidwund vom Spott und den Sottisen, dass er sich zurück in die Pfalz flüchtete.

Ein Juso als Kanzlerkandidat?

In den Zeitungen steht jetzt, Kevin Kühnert lasse offen, ob er sich für den Parteivorsitz bewerben werde. Ich persönlich hätte nichts gegen einen SPD-Vorsitzenden Kühnert. Wer wie ich im politischen Beobachtungsgeschäft ist, dem kann fast nichts Besseres passieren.

Kühnert an der Spitze wäre das Experiment, inwieweit die streng reglementierte Asta-Welt der FU Berlin mit den Anschauungen der sozialdemokratischen Basis deckungsgleich ist. Meine Vermutung wäre, dass die Schnittmenge kleiner ist, als man sich das bei den Jusos vorstellen kann. Aber das gälte es herauszufinden.

Die andere Frage wäre, ob die SPD weiterhin den Anspruch aufrechterhalten will, dass ihr Parteivorsitzender automatisch auch Kanzlerkandidat ist. Für die meisten Menschen, die der Politik eher fern stehen, zählen noch immer Bildung und Lebenslauf, deshalb sind viele Eltern ja auch so dahinter her, dass ihre Kinder sich in der Schule anstrengen. Den einzigen Berufsabschluss, den Kevin Kühnert bislang vorzuweisen hat, ist das Diplom in Intrigenwirtschaft.

Ich glaube, es wird noch einige Zeit vergehen, bis die Deutschen ihr Schicksal in die Hände eines Mannes legen, der über den Seminarraum nie wirklich hinausgekommen ist.

YouTuber gegen CDU: Die groteske Überschätzung des Influencers

Er spricht im Internet! Er erreicht die Jugend! Da müssen wir reagieren! Das Deprimierende am Umgang der Traditionsparteien mit Leuten wie dem YouTuber Rezo ist nicht Ignoranz, sondern im Gegenteil der panische Annäherungsversuch.

Zu den Vorzügen des Internets gehört die Fähigkeit, auch dem Mediokren den Glanz des ganz und gar Heutigen zu verleihen. Groß ist mittlerweile die Zahl von Medienmenschen, die es zu ansehnlichen Positionen gebracht haben, weil sie angeblich etwas vom Netz verstehen. Ausdrucksvermögen, Sprachgefühl, Textverständnis? Eher nebensächlich. Hauptsache, sie machen irgendetwas Digitales.

Wenn es gut läuft, schafft man es damit sogar in die Chefredaktion einer großen Tageszeitung wie der „Süddeutschen“. Sie könne zwar keine „wuchtigen“ Texte schreiben, bekannte die zum Mitglied der SZ-Chefredaktion aufgestiegene Influencerjournalistin Julia Bönisch vor drei Wochen fröhlich in einem Beitrag für ein Journalisten-Magazin. Dafür verstehe sie etwas von Workflows.

Übersetzt heißt das so viel wie: Ich habe noch nie etwas geschrieben, was Eindruck gemacht hat – aber, hey, wen kümmert das schon? Wobei, so ganz stimmt das nicht. Der Beitrag für das Journalisten-Magazin fand breite Beachtung, auch im eigenen Haus. Einige der alten Hasen, die sich immer noch einbilden, dass die Abonnenten wegen der Qualität der Texte die Zeitung beziehen, waren so bekümmert, dass sich Frau Bönisch in einer Redaktionskonferenz zu ihren journalistischen Vorstellungen befragen lassen musste. Jetzt wissen auch die Redakteure der „SZ“, wie wichtig der richtige Workflow ist.

Die neueste Entdeckung sind sogenannte YouTuber, also Leute, die ein einträgliches Geschäftsmodell entwickelt haben, indem sie vor laufender Kamera Computerspiele testen oder Schuhe empfehlen. Seit der YouTube-Unternehmer Rezo ein Video hochlud, in dem er zur Abwechslung nicht Musiktapes mixte, sondern Vorhaltungen gegen die CDU, werden den YouTubern auch wundersame Kräfte bei der politischen Massenbeeinflussung zugemessen.

In einem Teil der Berliner Elite gilt als ausgemacht, dass die Union bei der Europawahl deshalb so schlecht abgeschnitten hat, weil Internetgrößen wie Rezo zur Nichtwahl aufriefen. Angeführt wird die Gruppe der Netzgläubigen von keiner Geringeren als der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Wie sehr sie von der Idee besessen ist, der Einfluss der Influencer hätte ihre Partei entscheidende Stimmen gekostet, zeigen ihre unglücklichen Einlassungen über die Verantwortung von Medien im Wahlkampf.

Das Deprimierende am Umgang der CDU mit Leuten wie Rezo ist nicht Ignoranz, sondern im Gegenteil der panische Annäherungsversuch. Man sollte meinen, dass es die Partei Helmut Kohls gewohnt ist, von links attackiert zu werden. Rezo ist genau besehen eine Art Jakob Augstein auf Ecstasy, also Augstein plus blauer Haare und minus der Belesenheit. Er bedient sich aus exakt dem Fundus antikapitalistischer Fummel, mit denen sich jeder Anhänger der Linken drapiert.

Aber so nüchtern, und ich würde sagen: realitätsgerecht, kann man die Dinge im Adenauer-Haus nicht sehen. Rezo verbreitet seine Ideen über das Internet! Er erreicht die Jugend! Also wird er nicht als blaugefärbter Augstein, sondern als Claus Kleber der Videowelt betrachtet.

Als Beleg für die Bedeutung der „Generation YouTube“ gilt die Hinwendung der Jugend zu den Grünen. Von den unter 25-Jährigen, die an der Europawahl teilnahmen, haben 33 Prozent der grünen Partei ihre Stimme gegeben, das sind neun Prozentpunkte mehr, als CDU und SPD in dieser Altersgruppe zusammen erhielten. Was die meisten Kommentatoren in ihrer Fridays-for-Future-Begeisterung allerdings übersehen, ist die relative Größe des Jungwählerblocks.

Die bedeutendste Wählergruppe in Deutschland sind Frauen über 60. Von ihnen gibt es schlicht am meisten, nämlich 12 Millionen. Hier entscheidet sich das Schicksal der Volksparteien, nicht bei Menschen, die sich noch überlegen, ob sie Jura oder doch lieber irgendwas mit Kommunikation studieren sollen. Nur knapp fünf Millionen der Wahlberechtigten sind unter 25 Jahre alt. Das ist gerade mal ein Viertel der Altersgruppe, die vor dem Pensionsalter steht oder dieses bereits erreicht hat.

Es ist übrigens auch nicht wahr, dass CDU und SPD am Sonntag das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten hätten hinnehmen müssen, wie man allenthalben lesen konnte. Vielen Politjournalisten scheint der Unterschied zwischen Wählern und Wahlberechtigten nicht geläufig zu sein. Tatsächlich hat die Union 2009 ihr historisch schlechtestes Ergebnis geholt. Damals votierten nur 16 Prozent der Wahlberechtigten für die Christdemokraten.

Diesmal war die Zahl mit 17,5 Prozent nicht wesentlich besser, aber es war eben auch nicht der Tiefpunkt, wie der Wahlforscher Manfred Güllner in einer Wahlanalyse in Erinnerung gerufen hat. Die SPD erzielte 2004 (9 Prozent) beziehungsweise 2009 (8,8 Prozent) ihre schlechtesten Ergebnisse bei einer bundesdeutschen Wahl. Wenn die ehemaligen Volksparteien unter der Abwanderung der Jugend leiden, dann leiden sie darunter schon ziemlich lange.

Warum die Grünen am Sonntag abgeräumt haben? Ganz einfach: Weil es ihnen gelungen ist, viele Deutsche über 60 von sich zu überzeugen. Hier liegt der Schlüssel ihres Erfolges, nicht bei der Strahlkraft auf die Erstwähler. Dass auch die deutsche Großmutter ihr Herz für Robert Habeck und seine Mitstreiter entdeckt hat, hängt aber wohl deutlich mehr mit der Dauerpräsenz der Grünen in deutschen Talkshows zusammen als mit der geballten Macht der Influencer, die zur Wahl der Klimawandelpartei aufriefen.

Gegen die acht Millionen Zuschauer, die Woche für Woche bei Anne WillMaischberger und Illner zuschalten, verblassen fast alle YouTube-Filmchen. Deshalb sitzen die Grünen ja auch dort und nicht bei Julien Bam, Unge und DagiBee.

Kriminelle Großfamilien: Wie lange wollen wir noch zusehen?

In den USA gibt es das „three strikes law“: Bei der dritten Verurteilung erhält jeder Delinquent automatisch eine schwerere Strafe. Wäre das ein Modell, um mit der Clan-Kriminalität fertig zu werden?

Wer wissen will, wie man das Vertrauen in den Rechtsstaat ruiniert, dem empfehle ich den SPIEGEL TV-Film von Thomas Heise und Claas Meyer-Heuer über das Leben mit einem Clan-Mann als Nachbarn in Berlin. Ich habe in den vergangenen Tagen eine Reihe von Menschen gesprochen, die den Film gesehen haben. Alle waren beeindruckt, und zwar unabhängig davon, wo sie politisch stehen.

Die Hauptfigur des Films heißt Abdulkadir Osman. Osman lebt in einem Spandauer Mehrparteienhaus zur Miete, wobei das Wort „leben“ die Sache nur unzureichend trifft. Wie schnell deutlich wird, ist der Mann eine Art Pitbull auf zwei Beinen: massige Figur, böser Blick, dünne Nerven, dazu mit engen Verbindungen zu einer der mächtigsten Großfamilien der libanesischstämmigen Clanwelt in Berlin versehen. Wer ihm in die Quere kommt, dem droht er mit einem Besuch seiner Brüder und Cousins, und das ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Bei über 300 Fällen soll Osman als Tatverdächtiger auftauchen, wie man erfährt. Dazu kommen die unzähligen Anzeigen der Nachbarn aus dem Haus in der Falkenhagener Straße, denen er das Leben zur Hölle macht. Doch der deutsche Rechtsstaat zeigt ein seltsames Desinteresse an dem Mann. Den Terror, den er entfaltet, buchen die Gerichte unter Nachbarschaftsstreit ab. Wenn man sieht, wie er durch seinen Kiez patrouilliert, hat man nicht den Eindruck, dass er sonderlich Achtung vor deutschen Ordnungskräften hätte. Wer will es ihm verdenken?

Man liest in letzter Zeit viel über Clan-Kriminalität in Deutschland. Mitte der Woche gab es neue Zahlen aus Nordrhein-Westfalen. 6449 Tatverdächtige aus 104 Großfamilien, 14.225 Delikte in zwei Jahren: So steht es in einem „Lagebild“, das der Innenminister vorstellte. Aber Zahlen bleiben abstrakt. Der Fall Osman zeigt, was die Clan-Welt für diejenigen bedeutet, die das Pech haben, in unmittelbarer Nachbarschaft zu leben.

Es gibt so viel Ungereimtes, dass man sich zwischenzeitlich fragt, ob man noch in Deutschland ist. In einer Szene des Films sieht man Heise und Meyer-Heuer nach Sachsen fahren, um eines der Häuser in Augenschein zu nehmen, die Osmans Vermieterin (und Mutter eines seiner Kinder) besitzt. Es ist kein schönes Haus, aber die Mieter zahlen pünktlich.

Weil die Eigentümerin über Jahre das Geld für Strom und Wasser offenbar unterschlug, statt es an die Versorger weiterzuleiten, wurde der Familie erst der Strom abgestellt, dann sprang der Staat ein. Die Hauseigentümerin behauptet, lediglich 7000 Euro im Jahr zu verdienen. Die meisten Menschen in Osmans näherer Umgebung leben von staatlicher Unterstützung, was sie nicht davon abhält, Immobilien zu kaufen oder im Mercedes-Cabrio durchs Viertel zu kurven.

Irgendwann sieht man den Berliner Innensenator Andreas Geisel im Bild, der davon spricht, dass man zu lange weggeschaut habe. Deshalb hätten sich kriminelle Strukturen gebildet, die glaubten, sich nicht an Regeln halten zu müssen. „In dieser Stadt gelten aber Regeln“ fügt er fast trotzig hinzu. Es spricht für Geisel, dass er es nicht länger hinnehmen will, dass arabische Familienclans glauben, ihnen gehöre der Kiez. Wäre der Innensenator ehrlich, hätte er allerdings hinzugefügt, dass sich der Begriff „zu lange“ auf einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten bezieht. So lange schaut man in Berlin nämlich schon zu.

In den USA gibt es eine Regelung, die unter dem Begriff „three strikes law“ bekannt ist. Wer bereits zwei Verurteilungen hinter sich hat, der bekommt bei der dritten Straftat automatisch eine schwerere Strafe aufgebrummt. Ich weiß, ich hänge mich hier weit aus dem Fenster, aber ich frage mich, ob man „Three Strikes“ nicht auch in Deutschland einführen sollte. Wer dermaßen oft gegen deutsches Recht verstößt, zeigt meiner Meinung nach, dass er für das Land, in dem er lebt, nur Verachtung übrig hat. Vielleicht sind drei Verurteilungen zu wenig, um jemandem das Aufenthaltsrecht zu entziehen. Aber 28 Einträge im Bundeszentralregister wegen Beleidigung, Körperverletzung und artverwandter Delikte sollten reichen.

Es ist seltsam: Wir gehen brutal gegen jeden vor, der ins Land will. Wer die Berichte aus den Lagern am Mittelmeer liest, die wir dulden, um Flüchtlinge fernzuhalten, den muss das Schaudern packen. Aber kaum ist jemand im Land, schalten wir auf eine Nachsicht um, die an Apathie grenzt.

„Diese Straße gehört mir“

Dass sich die Polizei in Berlin vor zwei Wochen zu einer Hausdurchsuchung bequemte, liegt mutmaßlich an der Recherche der SPIEGEL-Kollegen. Der Mann, den man in seiner Welt unter dem Namen „Tyson-Ali“ kennt, zeigte sich wenig beeindruckt, dass ihm früh am Morgen die Tür eingerammt worden war. Ein paar Stunden später stand er schon wieder auf der Straße, um Präsenz zu zeigen. Als ein Sprecher der Polizei vor der Kamera Auskunft zu den laufenden Ermittlungen gab, stellte Osman sich minutenlang schweigend daneben. Die Geste war unmissverständlich: „Diese Straße gehört mir.“

Heise und seine Kollegen haben darauf verzichtet, die Anwohner der Falkenhagener Straße in Spandau zu fragen, was sie wählen. Ich vermute, dass es nicht die Grünen, nicht die Linkspartei und auch nicht die SPD sind, denen sie ihre Stimme geben.

Grün war für Leute, die in einer Eigentumswohnung in Spandau leben, nie wirklich eine Option. Aber der SPD haben sie hier mit über 20 Prozent verlässlich ihre Stimme gegeben. Wenn man nach einer Erklärung sucht, warum die Sozialdemokraten kein Bein mehr auf den Boden bekommen, findet man sie an Orten wie dem Haus von Abdulkadir Osman.

Angewandte Sozialdemokratie: Nehmt’s den Armen und gebt’s den Reichen

Kaum ein Thema bewegt Sozialdemokraten so sehr wie die steigenden Mieten. Kleiner Schönheitsfehler: Ausgerechnet die von der SPD favorisierte Europapolitik ist für den Irrsinn am Immobilienmarkt verantwortlich.

Dies wird eine kurze Kolumne. Sie handelt von der SPD und deren Europakandidatin Katarina Barley. Wenn man seinen Text so anfängt, hat man auf einen Schlag die Hälfte der Leser verloren. Also kann man sich auch kurzfassen.

Ein Problem ist, dass kaum jemand außerhalb des Regierungsviertels Frau Barley kennt. Unter Sozialdemokraten ist die Bundesjustizministerin sicher eine große Nummer, klar. Aber so viele überzeugte SPD-Anhänger gibt es ja nicht mehr, wie man weiß.

Die Bekanntheit von Politikern wird ohnehin überschätzt. Beim Namen Robert Habeck zum Beispiel weiß die Hälfte der Deutschen nicht, wer das ist. Nur weil die Politjournalisten einen vergöttern, heißt das noch lange nicht, dass auch das große Publikum einen kennt. Das führt dann mitunter zu dem kuriosen Umstand, dass eine Zeitschrift, die einen solchen Medienliebling auf ihren Titel hebt, am Kiosk einen unvorhergesehenen Absturz erlebt, weil nur wenige Käufer wissen, von wem die Rede ist.

Normalerweise fällt nicht auf, wie unbekannt Politiker sind, weil Umfrageinstitute selten den Bekanntheitsgrad messen. Die typische Frage bei Umfragen lautet: „Was halten Sie von …?“ Niemand offenbart gern Wissenslücken. Also antworten die meisten brav, statt zu erkennen zu geben, dass sie den Namen zum ersten Mal hören. Das Neue, Unverbrauchte, das die Medien so schätzen, ist im Wahlkampf nicht immer von Vorteil.

Bei Katarina Barley kommt hinzu, dass sie so redet, dass jeder nickt, wenn sie spricht, aber anschließend kaum jemand etwas von dem behält, was sie gesagt hat. In der aktuellen „Emma“ gibt es ein Interview mit der Justizministerin über ihre Einstellung zu Europa, den Feminismus und der Herkunft aus einer deutsch-britischen Familie.

Ihre Eltern seien bis heute ein „spannendes, binationales Paar“, sagt sie darin. Das ist ein typischer Barley-Satz. Er klingt sehr sympathisch. Man darf nur nicht den Fehler machen, länger über seine Bedeutung nachzusinnen. Dann könnte man sich nämlich fragen, was das eigentlich heißen soll, ein spannendes Paar zu sein.

Hang zur Plapperei

Will die Justizministerin damit sagen, dass ihre Eltern auch im hohen Alter noch Spannungen haben und entsprechend heftig streiten? Oder meint sie, dass sie sich, im Gegensatz zu anderen Paaren, Spannendes zu sagen haben? Man weiß es nicht. Vermutlich wäre auch die Ministerin, dazu befragt, um eine Antwort verlegen.

Leider erstreckt sich der Hang zur Plapperei auf die gesamte Europakampagne der SPD-Kandidatin. „Miteinander“ steht auf den Plakaten, mit denen sie um Stimmen wirbt. Das klingt, wie immer bei Barley, irre freundlich. Wer ist schon gegen mehr Miteinander? Dummerweise ist genau dieses europäische Miteinander für die Verwerfungen verantwortlich, die führende Sozialdemokraten an anderer Stelle beklagen.

Dass Mietraum so teuer wird, dass sich normale Menschen ein Leben in der Innenstadt kaum noch leisten können, liegt ja nicht an einer Verschwörung ausländischer Großinvestoren. Tatsächlich ist der Boom auf dem Immobilienmarkt eine unmittelbare Folge der Rettungspolitik von Mario Draghi, der das Miteinander in Europa mit den Mitteln der Geldpolitik absichert. Erst der Niedrigzins, der Hochschuldenländern wie Italien das Überleben garantieren soll, hat in Berlin, Frankfurt und München den Immobilienmarkt zum Schwingen gebracht. Das Auge des Geldes sucht unablässig nach Anlagemöglichkeiten. Wenn Staatsanleihen nicht mehr genügend abwerfen, weicht der Anleger aus, das ist nahezu zwangsläufig so.

Nichts gegen die Eurorettung

Auch für die wachsende Ungleichheit bei den Vermögen ist Draghis sozialistische Rettungspolitik verantwortlich. Die Frankfurter DZ Bank hat ausgerechnet, dass den Deutschen durch die Nullzinspolitik seit 2008 etwa 200 Milliarden Euro an Zinsen entgangen sind. Solche Schätzungen sind immer mit Vorsicht zu genießen, weil niemand genau sagen kann, wo der Zinssatz läge, hätte die EZB nicht die Zinsen unter die Nulllinie getrieben. Aber um zu sehen, wie sehr zum Beispiel Lebensversicherungen an Wert verloren haben, muss man nur die Mitteilung seiner Versicherungsgesellschaft zur Hand nehmen.

Die „Welt“ spricht mit Blick auf die Niedrigzinspolitik aus dem Hause Draghi von einer „Umverteilung von unten nach oben“. Geringverdiener haben, Gott sei’s geklagt, nicht die Möglichkeit (oder das Zutrauen), in andere Asset-Klassen auszuweichen. Ihr Polster fürs Alter ist die Sparanlage. Wenn der Zins unter die Inflationsrate rutscht, trifft das also genau die Leute, deren Schicksal dann Matadoren wie der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert in Talkshows wortreich beschreiben.

Damit man mich nicht missversteht: Ich bin nicht gegen den Euro oder die Versuche zu seiner Rettung. Ich habe auch nichts gegen demonstrative Harm- und Kenntnislosigkeit in der Politik. Ich glaube nur, dass man als Spitzenkandidat nicht gut beraten ist, die Folgen einer Politik anzuprangern, die man selbst fordert.

Steuerparadiese: Alle sind gleich, Europa­-Beamte sind gleicher

Sie finden, Sie zahlen zu viel Steuern? Dann heuern Sie doch bei einer europäischen Behörde in Deutschland an. Was die wenigsten wissen: Dort verdient man nicht nur gut, sondern ist auch von der nationalen Steuerpflicht befreit.

Eine Bekannte von mir arbeitet beim Europäischen Patentamt in München. Sie ist in Paris aufgewachsen, aber sie lebt jetzt schon seit 16 Jahren in Deutschland. Wenn man nicht wüsste, dass sie Französin ist, könnte man sie glatt für eine Einheimische halten.

Sie besitzt mit ihrem Mann ein schönes Haus in Gräfelfing, einem angenehmen Vorort im Westen der Stadt. Die beiden Söhne haben nie etwas anderes als eine deutsche Schule gesehen. Der älteste macht in diesen Tagen Abitur. Auch was den Lebensstil angeht, ist die Familie von den Nachbarn kaum zu unterscheiden. Vor dem Haus parkt ein BMW X5. Vor zwei Wochen ist ein BMW Mini hinzugekommen.

Der Listenpreis eines Mini in der Ausführung, wie ihn meine Bekannte gewählt hat, beträgt 22.000 Euro. Als ich sie fragte, wie sie sich das leisten könne, so viel verdiene man doch sicher nicht beim Patentamt, schaute sie mich kurz an und sagte: Ganz einfach, sie zahle in Deutschland keine Steuern. Seit sie in München lebe, habe sie nicht einen Cent ans Finanzamt abgeführt.

Ich wusste nicht, dass man als Steuerflüchtling ganz legal in Deutschland leben und arbeiten kann. Aber so ist es, wenn man die richtigen Leute kennt: Wer bei einer europäischen Institution beschäftigt ist, der ist von der nationalen Steuerpflicht befreit. Stattdessen gibt es eine „amtsinterne Steuer“, die man zu entrichten hat – so steht es auch auf der Webseite des Europäischen Patentamts, bei der ich mich vergewissert habe, dass meine Bekannte mir keinen Bären aufgebunden hat.

Ich habe auf die Schnelle nicht in Erfahrung bringen können, wer die Behördensteuer festlegt. Ist es der Amtsleiter oder der Betriebsrat in einer jährlichen internen Steuerrunde? Auch über die Höhe findet man nur wenig Konkretes. Bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, deren Mitarbeiter ebenfalls vor dem Zugriff des deutschen Finanzamts geschützt sind, zahlt jemand, der über ein Jahreseinkommen von 60.000 Euro verfügt, rund 13,5 Prozent an Steuern – so habe ich es einem etwas älteren Artikel in der „FAZ“ entnommen. Davon kann ein Deutscher nur träumen.

Die organisierte Steuervermeidung

Alle Versuche, an dem Privileg etwas zu ändern, sind ins Leere gelaufen. Wahrscheinlich lachen sie heute noch in Brüssel darüber, wie sich die Deutschen einmal auf das internationale Steuerrecht beriefen. Die Sachlage ist eigentlich eindeutig, so ist es nicht. Wer im Ausland arbeitet, für den gilt der dort übliche Steuersatz. Ich habe vier Jahre in den USA gelebt, ich spreche aus Erfahrung. Entscheidend ist, wo man mehr als die Hälfte des Jahres verbringt. Die Steuerbürokratie rechnet da auf den Tag genau. Aber von solchen Nicklichkeiten bleiben Angestellte der EZB oder des Europäischen Patentamts verschont.

Ich kenne viele Argumente gegen Brüssel: die überbordende Bürokratie, die verrückte Agrarpolitik, die demokratischen Defizite. Dass man in Brüssel offenbar auch einen Weg zur organisierten Steuervermeidung gefunden hat, das war mir neu. Überall gilt der Steuerflüchtling als übler Gesell, dem man das Handwerk legen sollte. Nur in der EU-Bürokratie beherrscht man das Kunststück, von einer Steuertreue zu leben, die man selbst missachtet.

Andererseits: Wenn man länger darüber nachdenkt, kann es einen nicht überraschen. Mit Jean-Claude Juncker steht schließlich ein Mann an der Spitze, der in seiner Zeit als Regierungschef dafür gesorgt hat, dass sein Land die Cayman-Islands von Europa wurde. Wer sein Geld vor dem Finanzamt in Sicherheit bringen will, ist in Luxemburg an der richtigen Adresse, daran haben alle Skandale und Enthüllungen nichts ändern können.

Niedrige Steuern für alle!

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich wünsche mir am Sonntag nichts weniger als einen Sieg der Europafeinde. Ich muss zugeben, ich habe bislang bei Europawahlen meist geschwänzt. Warum, so habe ich mich gefragt, für ein Parlament die Stimme abgeben, das bei entscheidenden Fragen kaum etwas zu sagen hat, weil die Regierungschefs die wirklich wichtigen Dinge unter sich abkaspern? Das ist diesmal anders. Ich werde am Sonntag brav meine Stimme abgeben, damit Leute wie Salvini oder Le Pen nicht anschließend behaupten können, die Europäer hätten die EU satt.

Ich habe auch nichts gegen niedrige Steuersätze, im Gegenteil. Ich kann jeden verstehen, der sich überlegt, wie er Steuern spart. Ich mag es nur nicht, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird. Wenn niedrige Steuern, dann für alle!

Sobald die Wahl vorbei ist, sollten sie in Brüssel mal über die Besteuerung beziehungsweise Bezahlung ihrer Mitarbeiter nachdenken, wäre mein Rat. Meine Bekannte hat sich das System, von dem sie profitiert, ja nicht ausgedacht. Die Verantwortlichen dafür sitzen an höherer Stelle. Auf das Patentamt mag man in der EU keinen direkten Einfluss haben, auf die Zentralbank sehr wohl. Es macht einfach keinen guten Eindruck, wenn man die Vorteile eines Landes nutzt, aber die Finanzierung derselben anderen überlässt.

Auf kaum etwas sind die Deutschen so stolz wie auf ihre Steuermoral. Möglicherweise ist es ein tradierter Masochismus, dass wir lieber das Geld beim Staat abliefern, als es selbst auszugeben, aber so ist es nun einmal. Der Deutsche liebt seinen Sozialstaat und damit das Steuerzahlen.

Wer für Europa wirbt, sollte auf gewisse nationale Eigenheiten Rücksicht nehmen, sonst verliert er am Ende noch die Zustimmung beim Wahlvolk. Und das wäre nun wirklich traurig.