Wir wiegen uns im Glauben, wir wären als Mensch zivilisierter als unsere Vorfahren. Die Zeiten, als wir uns zusammenrotteten, um Jagd auf Einzelne zu machen, lägen hinter uns. So betrügen wir uns gern selbst
Der Universalgelehrte und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti war zeit seines Lebens vom hypnotischen Sog fasziniert, den das Aufgehen in der Menge auf den Menschen ausübt. „Masse und Macht“ heißt sein Hauptwerk, an dem er mit Unterbrechungen fast 30 Jahre arbeitete.
Ein Kapitel widmet sich der „Hetzmasse“, wie Canetti die Meute nannte, die erst ablässt, wenn sie ihr Opfer zur Strecke gebracht hat. „Die Hetzmasse bildet sich auf ein rasch erreichbares Ziel“, heißt es dort. „Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist ihr auch nah. Mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los; es ist unmöglich, sie darum zu betrügen.“
Jetzt hat die Meute also den Journalisten Thilo Mischke zu Fall gebracht. Seit die ARD verkündete, dass sie dem mehrfach prämierten Fernsehmann die Moderation der Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ übertragen wolle, setzte eine Gruppe „Kulturschaffender“ alles daran, ihn zu Fall zu bringen. Am vergangenen Samstag knickte der Sender ein und erklärte, Mischke sei raus, man werde sich nach einem anderen Moderator umsehen.
Das Vergehen des Reporters? Er hat vor 15 Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel „In 80 Frauen um die Welt“. Außerdem hat er in einem Podcast erklärt, dass Männer biologisch gesehen Vergewaltiger seien, eine These, für die man als Kulturchefin beim „Spiegel“ sofort zwei Seiten freigeräumt bekommt. Ach ja, und er hat den Namen einer Gesprächspartnerin falsch betont. Das reichte, um zur Jagd auf ihn zu blasen.
Mischke hat niemanden unsittlich berührt. Er hat keine Frau durch anzügliche Bemerkungen in Verlegenheit gebracht oder seinen Status ausgespielt, um eine Kollegin herumzukriegen. Alles, was man ihm zu Lasten legen konnte, war loses Reden.
In dem offenen Brief, die seine Absetzung verlangte, hieß es, er befördere den Sexismus in der Gesellschaft. Das ist das Argument, auf das sich die Erstunterzeichner verständigten. Aber das ist erkennbar Unsinn. Mischkes Buch ist so alt, dass es nicht einmal als E-Book mehr verfügbar ist. Wie soll ein Text, den keiner mehr lesen kann, den Sexismus befördern?
Tatsächlich hat sich Mischke eines viel simpleren Vergehens schuldig gemacht: Er hat den Verhaltenskodex der Leute, die ihn verfolgen, missachtet. Er hat sich über ihre Benimm- und Sprachregeln hinweggesetzt – das war unverzeihlich.
Stilfragen sind auch immer Fragen der Exklusion. Mischke ist der seltene Fall eines Journalisten, dessen Karriere nicht über die Journalistenschule, sondern über Populärorgane wie „Playboy“, „GQ“ und ProSieben führte. Der 43-Jährige kommt aus dem proletarischen Osten und damit einer Welt, die man in den Kreisen, in denen man nun zum Halali blies, bestenfalls vom Hörensagen kennt. Darüber kann auch die Selbstproletarisierung als „Kulturschaffende“ nicht hinweghelfen.
Nichts triggert die Meute so verlässlich wie die Erkenntnis, dass einer nicht dazugehört. Das funktioniert wie vor 500 Jahren. Das Opfer steht immer am Rand, es ist der Außenseiter, der entweder als zu privilegiert oder als zu glaubensschwach oder als politisch nicht verlässlich genug gilt. Da kann sich einer noch so sehr bemühen, den richtigen Ton zu treffen, um nicht aufzufallen. Die Meute riecht sofort, ob er einer der ihrigen ist oder eben doch nur ein Parvenu.
Selbstverständlich hält man in dem Milieu, aus dem Mischke stammt, einen Titel wie „In 80 Frauen um die Welt“ nicht für degoutant, sondern für lustig. Zumal wenn am Ende der Weltreise die große Liebe steht. Hier käme auch niemand auf die Idee, von einem Moderator grundsätzlich als „Moderator*in“ zu sprechen, weil man nicht von Außen beurteilen könne, welches Geschlecht jemand als das seine bevorzuge.
Am Ende ist es die Feigheit der Institutionen, die der Meute den Triumph ermöglicht. Die meisten, die gelobten, niemals mehr einen Fuß in eine „Titel, Thesen, Temperamente“-Sendung zu setzen, würden nie in die Verlegenheit geraten, auch nur in die Nähe einer Erwähnung zu kommen. Wer hätte je von Zara Zerbe, Luca Mael Milsch oder Fikri Anıl Altıntaş gehört?
Und die drei, vier Namen, die man kennt, gehören zu den üblichen Verdächtigen, die immer dabei sind, wenn es darum geht, sich aufzublasen. Der Autor Saša Stanišić, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – Leute, die alles dafür geben, dass ihr Name in der Zeitung steht, und für die man früher, als der Tag noch nicht mit einem Blick über die Schulter begann, das schöne Wort Arschkrampe verwendet hätte.
Es wäre so einfach, man müsste nur für ein paar Tage die Neven behalten. Am Ende hat die Petition „Verhindert Thilo Mischkes Moderation von ‚Titel, Thesen, Temperamente‘“ nicht einmal das selbst gesteckte Ziel von 5000 Unterschriften erreicht, sondern blieb bei 3600 stecken. Aber zu solcher Gelassenheit sind sie bei der ARD nicht in der Lage, das ist die politische Dimension. Die Journalistin Wiebke Hollersen hat das klar erfasst, als sie den Kotau der Programmdirektion in der „Berliner Zeitung“ eine „Katastrophe“ nannte: „Ein paar Tausend Menschen können bestimmen, wer in der ARD nicht moderieren darf“, das sei das Beängstigende.
Unter den Unterzeichnern findet sich auch die Person, die in einer „Taz“-Kolumne Polizisten auf den Müll wünschte. Ich hätte gedacht, dass man vorsichtiger urteilt, wenn man selbst einmal in die Mühle geraten ist. Dass man sich nicht zum Unterschriftenclown macht, wenn man als Autorin ernst genommen werden will. Doch da habe ich mich geirrt. Am Ende ist diesen Leuten das Ansehen, das sie in ihrer kleinen Welt genießen, wichtiger als jede Integrität.
Wenn die Annika anruft und um Unterstützung bittet, mag man nicht Nein sagen. Es könnte ja darauf hinauslaufen, dass die Annika in Umlauf bringt, dass auf die Hengameh auch kein Verlass mehr ist. Und dann, Gott bewahre, in ihrem Podcast ein paar abträgliche Bemerkungen fallen lässt. Der findet zwar praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil sich kein normaler Mensch für ihre feministische Esoterik interessiert. Aber wer weiß, einer könnte es ja doch mitbekommen, und davor hat man Angst.
Das alles ist so arm und eng, dass man weinen möchte. Aber so gesehen passt es dann wiederum zur Kulturwelt der ARD, in der man sich nicht an dem orientiert, was die Zuschauer interessieren könnte, sondern an dem, was die „Community“ denkt. Das steht in der Erklärung, mit der die ARD Mischke beerdigte, wörtlich so: Die Diskussion über die Personalie stehe den Themen im Weg, die „wir gemeinsam mit der Community diskutieren möchten“.
Vielleicht sollte man sich die Liste der Unterzeichner aufbewahren, damit man weiß, von wem man sich besser fernhalten sollte, wenn man sich sein Vertrauen in die Menschen bewahren will. Man muss nur die 100 Erstunterzeichner auf Google suchen, dann sieht man das ganze Elend. Es sind erstaunlich viele frühzeitig gealterte Menschen, die schon mit 35 solch tiefe Magenfalten um den Mund haben, als litten sie an einem furchtbaren Ulkus. Niedertracht macht hässlich, innen und außen.
Canetti kannte sich aus mit den Menschen. Deshalb traute er ihnen auch nicht. Der Einzelne mag verträglich sein, sein Verderben ist die Zusammenrottung. „Der Abscheu vor dem Zusammentöten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht“, schrieb er in „Mensch und Masse“. „Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrichtungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und kann unter hundert Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen.“
Und weiter: „Nicht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuss. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. Aber man weiß mehr darüber als in früheren Zeiten, da man stundenlang gehen und stehen musste und schließlich auch nur wenig sah.“
Denn auch das gehört ja zur traurigen Wahrheit: Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit im „Spiegel“, in der „Zeit“ oder der „Taz“ wäre die moderne Hetzmeute machtlos. Dann würde kaum jemand in der großen Welt von ihren Rasereien Notiz nehmen und alles würde da enden, wo es seinen Anfang nahm: in der Einsamkeit des unerfüllten Lebens.
© Michael Szyszka