Kategorie: 2025

Die Welt als Feind

Was soll man US-Bürgern raten, die 
einen Europabesuch planen? Vielleicht 
das: bei der Bestellung im Restaurant 
im Flüsterton reden. Oder besser noch: 
sich einen falschen Akzent zulegen, damit man als Brite durchgeht

Wir sind jetzt Feinde des amerikanischen Volkes. Vergewaltiger. Plünderer. Kriminelle. So hat uns Donald Trump am „Tag der Befreiung“, an dem er der Welt den Zollkrieg erklärte, genannt. Befreiung muss man dabei durchaus wörtlich nehmen: Befreiung von jeglicher Form der Rücksichtnahme. Ein jeder für sich und die USA gegen alle, das ist die Quintessenz der neuen Doktrin.

Ganz besonders hat es der Präsident dabei auf die Europäer abgesehen. Die sind unter allen, die das amerikanische Volk ausnehmen, die Schlimmsten. Hinterhältig, verschlagen, dabei nie um eine Ausflucht verlegen, wenn sie zur Rede gestellt werden. Zölle reichen da nicht, um sie für das erlittene Unrecht zur Verantwortung zu ziehen.

Am Montag hat Trump Reparationen verlangt. Für jeden VW, jeden BMW und jeden Mercedes, der auf amerikanischen Straßen rollt, müsse eine Wiedergutmachung her. „Europa hat uns sehr schlecht behandelt“, erklärte er nach einem Golfwochenende in Florida. „Sie wollen reden. Aber es wird keine Gespräche geben, solange sie uns nicht auf einer jährlichen Basis sehr viel Geld zahlen, für die Gegenwart, aber auch für die Vergangenheit.“

Wenn man die ganze Welt zum Feind erklärt, besitzt man allerdings überall auch nur noch ­Feinde. Das ist unausweichlich. Ich persönlich bin Kummer gewohnt. 
Ich bin schon alles Mögliche genannt worden. Aber ich fürchte, viele, die Trump nun als Wegelagerer und Gauner beschimpft, sehen das nicht so entspannt.

Wäre ich US-Amerikaner, würde ich beim nächsten Europabesuch etwas leiser auftreten. Mein Rat: bei der Bestellung im Restaurant am besten im Flüsterton reden. Und im Hotel so tun, als ob man sich in der Adresse vertan hat.

Oder man legt sich einen Akzent zu, der einen als Brite 
durchgehen lässt. Notfalls funktioniert auch Australier, wenn man das mit dem nasalen englischen Tonfall nicht hinbekommt. Bondi Beach statt Oxford, das sollte selbst der 20-Jährigen aus dem Mittleren Westen gelingen.

Wobei: Die meisten aus dem Mittleren Westen waren noch nicht mal in Washington. Die Hälfte der US-Bürger 
verfügt über gar keinen Reisepass, da nimmt man die Abneigung im Ausland gleich gelassener.

Wenn man in Rom, Wien oder Venedig auf einen Amerikaner trifft, ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Wähler der Demokraten. Hilft alles nichts – 
mitgehangen, mitgefangen. Nach dem Überfall auf die Ukraine haben wir bei den Russen auch keine großen Unterschiede gemacht. So ist das, wenn man jemanden wählt, 
der allen den Stinkefinger zeigt: Dann weisen drei Finger auf einen zurück.

Vielleicht helfen Buttons am Revers. „Ich habe nicht für Trump gestimmt und werde es auch nie tun“. So wie die Bumper-Sticker, mit denen man sich als Tesla-Käufer von Elon Musk distanzieren kann („I bought this car before Elon went crazy“). Ist zugegeben nicht besonders subtil, aber es käme auf den Versuch an.

Was ist schlimmer als ein Bully, der alle herumschubst? Ein Bully, der in Selbstmitleid zerfließt, wie gemein doch die anderen zu ihm seien. Die USA dominieren die Unterhaltungsindustrie, die Ölindustrie, die Finanzindustrie. In der Tech-Welt ist ihre Übermacht so erdrückend, dass praktisch kein Handy und kein Computer mehr ohne ihre Hilfe auskommt. Von den 25 wertvollsten Firmen der Welt stammen 23 aus den Vereinigten Staaten.

Aber im US-Fernsehen steht Trumps Heimatschutzberater Stephen Miller und erklärt mit vor Empörung bebender Stimme, dass auf deutschen Straßen kein amerikanisches Auto zu sehen sei. Amerikanische Steaks gibt es angeblich auch nirgends zu kaufen, weil das amerikanische Fleisch „beautiful“ ist und das europäische „weak“, weshalb man das schwache Fleisch durch Handelstricks vor dem schönen schützen müsse.

Diese Erkenntnis stammt von dem neuen Handelsminister Howard Lutnick. Keine Ahnung, wann der Mann das letzte Mal in Deutschland war. 
Ich lade Lutnick gerne ein, die Fleisch
theke beim Simmel, dem Edeka-Markt bei mir um die Ecke, zu inspizieren. US-Prime-Beef findet sich dort in nahezu jedem Reifegrad und jeder Schnittform, als Tomahawk, T-Bone oder Ribeye, ganz wie der Kunde aus München es wünscht.

In den Medien gilt die Trump-Bewegung als rechtspopulistisch. Das ist das Wort, das sich eingebürgert hat. Tatsächlich reden die Spitzenleute so, als ob sie mit 30 Jahren Verspätung den Weg aus der „Globalisierungsfalle“ finden wollen, wie der Bestseller der Antiglobalisierungsbewegung hieß.

Ständig ist vom ehrlichen Stahlkocher und tapferen ­Farmarbeiter die Rede, denen man ihre Jobs zurückbringen werde. Klingt super, alle Gewerkschafter nicken begeistert. Leider wird übersehen, was ein Paar Nike-Sneaker kosten, wenn man sie nicht mehr in China, sondern in New Jersey produzieren lässt. Auch die Bananen und Kaffeebohnen, die man demnächst in Florida und Mississippi anbaut, kommen mit einem ordentlichen Preisschild.

Das ganze Zollprogramm läuft auf die größte Steuererhöhung der jüngeren amerikanischen Geschichte hinaus. Es sind ja nicht irgendwelche ominösen Ausländer, die man zur Kasse bitten kann. Es sind die heimischen Konsumenten, die den Strafzoll zahlen, wenn sie sich für ein Produkt aus Übersee entscheiden.

Was ist die Idee? Das wird von Tag 
zu Tag unklarer. Peter Navarro, das Mastermind hinter Trumps Zollkrieg, sagt: die Globalisierung beenden und die Arbeitsplätze nach Amerika zurückbringen. Das wäre der Ausstieg 
der USA aus dem Welthandel.

Oder geht es darum, die anderen dazu zu bringen, die Zölle auf amerikanische Produkte zu senken? Aber dann müsste man über Zölle sprechen und nicht über Handelsdefizite. Die lassen sich nicht beseitigen, indem man einfach auf alles, was man ins Land lässt, 20 Prozent draufschlägt.

Das Urteil der Wall Street fällt brutal aus. Das Goldene Zeitalter, das Trump seinen Wählern versprochen hat, be­­ginnt mit der größten Vernichtung von Wohlstand, die ein US-Präsident je auf den Weg brachte. Den „weitreichendsten, unnötigsten und zerstörerischsten wirtschaftlichen 
Fehler in der Moderne“ nennt der „Economist“ Trumps 
Programm. Es fällt schwer zu widersprechen.

Wie es weitergeht? In diesem Ringen sitzen wir ausnahmsweise mal am längeren Hebel. Auch die Deutschen besitzen Aktien, aber lange nicht im gleichen Umfang wie die Amerikaner. 160 Millionen US-Bürger haben ihr Geld am Aktien­markt angelegt. Ein Freund aus Washington rechnete mir am Telefon vor, dass ihn die vergangenen Tage 50 000 Dollar gekostet hätten. Er ist mit seinem Verlust nicht alleine.

Wenn man in Echtzeit sieht, wie sich die Altersvorsorge auflöst, ist es mit dem Vertrauen in die Weisheit der ­Politik schnell vorbei. Da kann der Finanzminister im Fernsehen noch so oft erklären, dass sich alles wieder einpendeln werde und dass es doch toll sei, wie „smoothly“ die Finanzmärkte reagieren würden.

Es wird einsam werden. Um 70 Prozent sind die Buchungen aus Kanada eingebrochen. Auch andere werden sich überlegen, ob sie das Wagnis einer USA-Reise eingehen wollen. Man weiß ja nicht, ob man überhaupt reinkommt – oder wieder raus. Anderseits: Nach Yosemite und Yellowstone kann man 
im nächsten Sommer ohnehin nicht mehr. Die Ranger hat der Elon ja alle entlassen.

Die Einzigen, die hierzulande tapfer zu Trump halten, 
sind die Leute von der AfD. Bei der AfD glauben sie noch, Trump sei einer der ihren. Wie nennt man eine Partei, deren Funktionäre einem ausländischen Staatsmann die Daumen drücken, der Millionen deutscher Fabrik­arbeiter um ihre Jobs bringen und die Basis des deutschen Wohlstands zerstören will? Mir fällt gerade das richtige Wort nicht ein. Patriot ist es jedenfalls nicht.

© Silke Werzinger

18 Stunden

Australien hat Social Media für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Auch in England denkt man über Altersbeschränkungen nach. Nur den Koalitionären in Berlin scheint die psychische Gesundheit von Kindern nicht so wichtig zu sein

Stellen Sie sich vor, Ihre zehn Jahre alte Tochter wurde von einem visionären Milliardär für ein Mars-Besiedlungsprogramm ausgewählt. Kinder kämen mit den ungewöhnlichen Lebensbedingungen, die auf dem Mars herrschen, besser zurecht als Erwachsene, heißt es. Nachdem sie die Pubertät durchlaufen haben, werde ihr Körper dauerhaft auf den neuen Lebensraum zugeschnitten sein. So beginnt Jonathan Haidts Buch „Generation Angst“.

Ihnen ist die Sache verständlicherweise nicht ganz geheuer. Da ist die Strahlung. Man versichert Ihnen, dass Astronauten kein signifikant höheres Krebsrisiko hätten als andere Menschen. Aber Studien über einen längeren Aufenthalt im All existieren verständlicherweise nicht. Man müsste es also darauf ankommen lassen.

Dazu kommt das Problem mit der Schwerkraft. Schon nach wenigen Wochen verändert sich der Körper in der Schwerelosigkeit. Die Knochendichte nimmt ab, Körperflüssigkeiten sammeln sich an Stellen, wo sie es besser nicht tun sollten, zum Beispiel im Kopf, was zu Druck auf die Augäpfel führt. Welche Fehlbildungen die geringere Marsgravitation bei Körpern, die sich noch im Wachstum befinden, zur Folge hätte, ist völlig unklar.

Würden Sie unter diesen Umständen Ihr Kind dem Mann anvertrauen, der den Mars besiedeln will? Die Antwort jedes verantwortlich handelnden Elternteils wäre: selbstverständlich nicht. Wa­rum lassen wir es dann zu, dass Unternehmen unsere Kinder in eine virtuelle Welt entführen, wo sie als Testkandi­daten für eine radikal neue Form des Heranwachsens dienen, die im Gegensatz zu 140 000 Jahren Evolution steht, fragt Haidt.

Durchschnittlich 18 Stunden pro Woche verbringen schon Zehnjäh­rige am Handy oder vor dem Computer. Was den schädlichen Einfluss angeht, ist man in diesem Fall nicht mehr auf Vermutungen angewiesen. Jugendliche, die sich weitgehend unkontrolliert auf Social Media bewegen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Angststörungen und Depressionen zu erkranken, sie zeigen häufiger Essstörungen wie Magersucht und Bulimie und entwickeln ein deutlich vermindertes Selbstvertrauen.

In besonders schlimmen Fällen werden sie suizidal, weil ihre Chatgruppe sich gegen sie wendet. Kinder an die Macht? Das kann nur jemand fordern, der keine Ahnung hat, zu welch destruktiver Energie Zwölfjährige fähig sind.

Seit die KI uns künstliche Gefährten zur Seite stellt, braucht es noch nicht einmal Klassenkameraden, damit sich das Leben verdüstert. Die „Spiegel“-Reporterin Frauke Hunfeld hat gerade in einem aufsehenerregenden Text den Fall eines 14-Jährigen aus Florida nachgezeichnet, der sich in einen Chatbot verliebte und sich dann das Leben nahm, als ihm die Maschine den Befehl gab, sich mit ihr zu vereinen. „Character.ai“ heißt die Plattform. Im August 2024 hat Google für 2,7 Milliarden Dollar die Lizenz erworben.

Den Eltern kann man keinen Vorwurf machen. Als sich ihr Kind immer mehr in sein Zimmer zurückzog, haben sie alles kontrolliert: TikTok, WhatsApp, Facebook. Sie fanden dort nichts Beunruhigendes. Woher hätten sie ahnen sollen, dass das Unheil in dem Fall über die Suchmaschine kam? Sorry, sagen die Anwälte von Google. Der tragische Tod täte ihnen leid, aber sie seien nicht haftbar zu machen.

Wir haben alles reguliert. Das Spielgerät ist TÜV-geprüft, Kindersitze gleichen Hightechgeräten. Der Kinderbrei ist selbstverständlich BPA-frei und in jeder Hinsicht 
als unbedenklich zertifiziert. Doch ausgerechnet bei 
den digitalen Medien, mit denen sich die Kinder den
lieben langen Tag beschäftigten, vertrauen wir auf 
die Zusicherung der amerikanischen Konzerne, dass alles 
schon seine Richtigkeit habe.

Es gibt erste Gegenwehr. Australien hat den Zugang zu sozialen Medien für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. In Großbritannien wird diskutiert, ob man dem Beispiel folgen soll. Auslöser ist dort die Netflix-Serie „Adolescence“, in der ein 13-Jähriger seine Mitschülerin ersticht, weil er sich auf Instagram gemobbt fühlt. In Deutschland soll es jetzt in Hessen und Baden-Württemberg ein Handyverbot an Schulen geben. Aber das war es bei uns bislang.

Interessanterweise sieht man vor allem in linksliberalen Zeitungen strengere Regeln skeptisch. Die Gefahren würden weit übertrieben, heißt es. Minderjährige müssten halt lernen, verantwortlich mit den Neuen Medien umzugehen. Das erinnert an das Argument der Waffenindustrie: Es sind nicht die Waffen, die töten, sondern es sind die Menschen, die sie unsachgemäß benutzen.

Es ist wirklich verrückt. Viele Eltern lassen den Nachwuchs keinen Meter mehr aus den Augen. Mancherorts muss die Polizei morgens Sperrzonen errichten, weil die Zahl der Elterntaxis überhandnimmt. Aber sobald die Tür hinter den Kindern zufällt, überlässt man sie für Stunden der Obhut von Internetmilliardären, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie sozial schwer gestört sind.

Welches Suchtpotenzial die digitalen Ablenkungswelten entwickeln, weiß jeder, der über ein Smartphone verfügt. Die Apps sind so programmiert, dass sie direkt das Belohnungszentrum im Hirn ansprechen. Wir erziehen die Kinder zu Junkies und wundern uns dann, wenn sie die Hände nicht vom Telefon lassen können.

Ein Argument, mit dem sich jedes Elternpaar herumschlagen muss: „Aber der Jonas darf das auch.“ Was übersetzt so viel heißt wie: Wollt ihr, dass ich zum Außenseiter werde, gehänselt und verlacht? Es ist ein sehr wirksames Argument. Ich habe fünf Kinder. Die beiden ältesten sind, Gott sei Dank, schon aus dem Gröbsten raus. Aber mit den Kleinen ist es jedes Mal wieder ein Kampf.

Auf eine Art freiwillige Selbstkontrolle der Konzerne zu setzen, scheint mir kein geeignetes Konzept. Das ist so, als ob man dem Schlachter die Kontrolle des Schlachthofs übertragen würde. Kann gut gehen, wenn der Schlachter das Herz einer Nonne hat. Doch in der Regel siegt die Profitgier.

Die staatlichen Kontrollinstanzen? Sind heillos überfordert. Jugendschutz ist ein hohes Gut, aber bei den Techkonzernen streckt man die Waffen. Da reicht ein Klick, mit dem man erklärt, dass man das 16. Lebensjahr erreicht hat, und schon steht einem alles offen. Niemand könne von ihnen verlangen, das Alter der Kunden genauer zu prüfen, heißt es zur Begründung.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr neige ich dazu, das australische Modell für nachahmenswert zu halten. Es wird immer Jugendliche geben, die ein Verbot umgehen. Aber das ist wie mit dem Alkohol. Auch der ist überall verfügbar. Dennoch käme niemand auf die Idee, die Altersbeschränkung beim Verkauf aufzuheben.

Ich habe in den Entwurf für den Koalitionsvertrag gesehen. An alles haben die Unterhändler gedacht: die Einführung einer obligatorischen Elementarversicherung für Hauseigentümer. Die Bekämpfung des illegalen Glücksspiels. Die gesundheitlichen Belange der queeren Community. Selbst die Regulierung des Ticketzweitmarkts für Sportveranstaltungen, um Verbraucher vor überhöhten Preisen zu schützen, ist ihnen eine Erwähnung wert.

Nur die psychische Gesundheit unserer Kinder scheint auch für die neue Regierung kein Thema zu sein. Das Einzige, was sich dazu findet, ist ein Wischiwaschi-Satz, wonach das Aufwachsen mit digitalen Medien Medienkompetenz brauche. Altersbeschränkungen für Minderjährige, Sicherheitsvorgaben an die Techkonzerne? Dazu kein Wort.

Aber das ließe sich ja noch ändern, nicht wahr? Weshalb nicht in den Koalitionsvertrag einen Passus aufnehmen, was man unter Jugendschutz im Zeitalter von Social Media versteht? Es gibt in Deutschland elf Millionen Kinder unter 14 Jahren. Da die meisten bei ihren Eltern leben, darf man davon ausgehen, dass es sich um eine nicht ganz unbedeutende Wählergruppe handelt – größer jedenfalls als die Anhänger des illegalen Glücksspiels oder die queere Community. ­Warum nicht mal zur Abwechslung etwas für die Mehrheit tun? Die wäre dafür dankbar.

© Michael Szyszka

Versuch einer Zermürbung

Seit zweieinhalb Jahren verfolgt die Staatsanwaltschaft Göttingen die Journalistin Anabel Schunke. Der Fall sagt viel über das neue Selbstbewusstsein staatlicher Organe, die im „Kampf gegen Hasskriminalität“ die Meinungsfreiheit beschränken

Im Juni 2009 machte der Philosoph Peter Sloterdijk einen Vorschlag, der ihn fast den Kopf gekostet  hätte. In einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine“ schlug er vor, staatliche Zwangsabgaben durch freiwillige Bürgerspenden zu ersetzen. Beim modernen Steuerstaat handele es sich um eine „rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie“. Was man schamhaft als „Soziale Marktwirtschaft“ bezeichne, sei in Wahrheit ein „Semi-Sozialismus“, gegen dessen fiskalische Enteignung man sich zur Wehr setzen müsse.

Kaum jemand erinnert sich noch daran. Sloterdijk ist seit Langem ein für seine originellen Einreden hochgeschätzter Feuilletongast. Das war vor fünfzehn Jahren anders. Da regnete es mächtig auf den Philosophen herein. „Leeres Sphären- und Blasengeschwätz“ machte die „taz“ in seiner staatskritischen Intervention aus. Als „Reaktionär“ und „geistigen Brandstifter“ fertigte man ihn ab, als einen, der die niedersten Instinkte und Affekte bediene.

Wer als „Staatsfeind“ gilt, kann einpacken. Umgekehrt lässt sich kein größeres Lob denken, als jemand als „staatstragend“ zu bezeichnen. Wenn man über die Grünen sagt, dass auf sie auch in kritischen Stunden wie der Abstimmung über das Schuldenpaket Verlass sei, weil sie so staatstragend wie keine andere Partei seien, wird das selbst von ihnen nicht als Beleidigung, sondern als Auszeichnung verstanden. Das Bewusstsein für staatliche Anmaßung ist dementsprechend schwach ausgeprägt.

Beim Surfen im Netz bin ich Anfang der Woche auf den Fall einer Journalistin gestoßen, der aus meiner Sicht zeigt, warum mehr Staatsskepsis dringend angezeigt wäre. Anabel Schunke heißt die Kollegin, sie schreibt für die „Weltwoche“, „Tichys Einblick“ und die „Achse des Guten“.

Ich finde vieles etwas überspannt. Wie bei vielen, die für sogenannte alternative Medien arbeiten, steht der Zeiger immer auf fünf nach zwölf. Anderseits, Jette Nietzard von der Grünen Jugend scheint mir auch keine besonders ausbalancierte Person zu sein. So ist das manchmal, wenn man mit heißem Herzen dabei ist. Da haut man auch Sachen raus, die man bei zweitem Nachdenken besser nicht rausgehauen hätte.

Im April 2022 setzte Frau Schunke auf Twitter, wie X damals noch hieß, einen längeren Tweet ab. Ich zitiere ihn vollständig, weil in juristischen Auseinandersetzungen jedes Wort zählt.

„Ein großer Teil der Sinti und Roma in Deutschland und anderen Ländern schließt sich selbst aus der zivilisierten Gesellschaft aus, indem sie den Sozialstaat und damit den Steuerzahler betrügen, der Schulpflicht für ihre Kinder nicht nachkommen, nur unter sich bleiben, klauen, Müll einfach auf die Straße werfen und als Mietnomaden von Wohnung zu Wohnung ziehen“, schrieb Schunke. „Wer das benennt, wird von der eigenen Innenministerin des neu erfundenen ‚Antiziganismus‘ bezichtigt. Wie jedwede andere Kritik an einer jahrzehntelang völlig fehlgeleiteten Zuwanderungspolitik soll auch diese unter dem Rassismusvorwurf erstickt werden.“

Wäre ich Sinti oder Roma, würde ich mich zweifellos ärgern. Es gibt auch in dieser Volksgruppe viele Menschen, die brav den Müll entsorgen, ihre Kinder pünktlich zu Schule schicken und ohne Verzug die Miete entrichten. Ist der Post also grob vereinfachend und verallgemeinernd? Mit Sicherheit. Aber ist er auch strafbar? Das ist die Frage, seit die Staatsanwaltschaft Göttingen gegen Anabel Schunke ein Verfahren wegen Volksverhetzung einleitete.

Die Sache zieht sich jetzt seit zweieinhalb Jahren. Erst beantragte die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl, den der zuständige Richter mit dem Hinweis ablehnte, bei dem Post handele es sich um zulässige Regierungskritik im Rahmen der Meinungsfreiheit. Als die Staatsanwaltschaft nicht lockerließ, gab es doch einen Strafbefehl, über 3600 Euro. Weil den wiederum die Journalistin nicht akzeptieren wollte, landete die Sache vor dem Amtsgericht, das den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt sah und Schunke zu einer Strafe von 5400 Euro verurteilte.

Ich bin fest angestellt. Wenn mich jemand wegen meiner Texte verklagt, leite ich das kalt lächelnd an die Anwaltskanzlei Söder Berlinger weiter. Aber das sieht bei einer freien Journalistin anders aus. Die ist nicht so einfach in der Lage, sich auf längere Rechtsstreitigkeiten einzulassen. Das wissen auch die Staatsanwälte, die sie ins Visier genommen haben. Deshalb setzen sie auf Zermürbung. Oder soll man besser von demonstrativer Einschüchterung sprechen?

Wie soll man es nennen, wenn eine Staatsanwaltschaft trotz ihres Erfolges vor Gericht anschließend in Berufung geht, weil sie findet, die Strafe könnte im Grunde noch höher ausfallen? „Die Angeklagte ist Journalistin und genießt hierdurch ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung“, hieß es zur Begründung. „Wenn sie also derartige Inhalte veröffentlichen kann, ohne dass es einschneidende Konsequenzen hat, könnte dies zu einem negativen Vorbildeffekt führen.“

Es hat sich etwas verschoben. Man sieht es auch am Selbstbewusstsein der Ermittler, die eigentlich zur Unparteilichkeit verpflichtet sind. Wie der Zufall es will, hatten Vertreter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet, wie die Göttinger Schwerpunktstaatsanwaltschaft vollständig heißt, einen Auftritt in der CBS-Sendung „60 Minutes“. Es ging um Meinungsfreiheit in Deutschland. Da saßen sie nebeneinander und amüsierten sich über die Bürger, denen sie die Polizei auf den Hals hetzen, um ihnen zur „Strafe“ Computer und Handy wegnehmen zu lassen.

Handy-Entzug als Strafe für vermeintlich anstößige Äußerungen? Das ist eine eher eigenwillige Auslegung der Gewaltenteilung. Normalerweise erfolgt im Rechtsstaat die Strafe erst nach dem Urteil. Aber so ist das, wenn der Staat gegen Hasskriminalität vorgeht: Dann reicht schon der Verdacht eines Fehlverhaltens.

Auch die Empfindlichkeiten nehmen zu. In Nordrhein-Westfalen wurde vor einer Woche eine Meldestelle gegen antiasiatischen Rassismus in Betrieb genommen. Meldestellen für Antifeminismus oder Muslimfeindlichkeit, das kannte man. Aber eine Meldestelle wegen Vorurteilen gegen „asiatisch gelesene“ Menschen, wie die korrekte Bezeichnung in dem Fall lautet?

Das WDR-Magazin „Cosmo“ hat dankenswerterweise in einem Beitrag, in dem die Stelle beworben wurde, plastisch gemacht, was unter antiasiatischem Rassismus zu verstehen ist. Auch scheinbar positive Aussagen wie „Du kannst gut Mathe“ könnten Betroffene verletzen und seien deshalb meldewürdig.

Unnötig zu sagen, dass die politische Gesinnung des Angeklagten nicht unerheblich ist. Ein anderer Netzfund aus dieser Woche: Ein Rechtsanwalt bringt einen Beitrag zur Anzeige, in dem ein X-Nutzer die Abschiebung von Flüchtlingen mit dem Holocaust vergleicht. Die Staatsanwaltschaft Bayreuth stellt das Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung ein. Begründung: Der Beschuldigte bekenne sich dazu, dass der Holocaust ein einmaliges und unvergleichliches Verbrechen gewesen sei, und setze sich auch privat und beruflich für Vielfalt, Toleranz und Inklusion  ein. „Die Auswertung weiterer Posts ergab eine eindeutig linksgerichtete Gesinnung. Damit liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten vor.“

Wie es im Fall Schunke weitergeht? Vor einer Woche kam die 5. Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zu einem Freispruch. Ein Angriff auf die Menschenwürde im Sinne des Volksverhetzungsparagrafen sei nicht erkennbar, die Ausführungen der Angeklagten seien zurückhaltend und insbesondere unter Beachtung der Meinungsfreiheit auszulegen.

Hat die Sache damit ein Ende? Mitnichten. Die Staatsanwaltschaft will in Berufung gehen und den Freispruch anfechten. Was sollte sie daran auch hindern? Im Gegensatz zu der Journalistin, die alle Verfahrenskosten selbst tragen muss, verfügt die Staatsanwaltschaft über nahezu unbegrenzte Mittel.

Vielleicht hatte Sloterdijk doch nicht so unrecht. Der moderne Staat ist nicht nur ein geldgieriges Ungeheuer. Was er dem Bürger entzieht, verwendet er gegen ihn, wenn er sich seinen Anweisungen widersetzt. Das ist dann der ultimative Triumph.

Wenn Rechte weinen

Schwingen sie vielleicht bei der AfD auch deshalb so wilde Reden, damit nicht auffällt, wie soft sie in Wahrheit sind? Nix mit soldatischen Tugenden: Wenn es um Russland oder die Hamas geht, setzt man ganz auf Ökumene und das gute Gespräch

Ich muss mich bei Tino Chrupalla entschuldigen, dem Chef der AfD. Ich habe ihn wegen seiner Physiognomie als SA-Gesicht verspottet. Ich habe mich dazu verleiten lassen, vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Das war voreilig und falsch. Man soll Menschen an ihren Worten und Taten messen und nicht am Aussehen.

Tino Chrupalla hat mit einem Faschisten so viel zu tun wie der Duce mit einem Haschbruder. Wenn es eine Person gibt, an der sich der AfD-Vorsitzende außenpolitisch orientiert, dann ist es Margot Käßmann, die Frau, die Beten mit den Taliban empfahl. Das ist sein Vorbild, nicht der Führer.

Vor drei Wochen wurde der AfD-Vorsitzende gefragt, wie er zu Waffenlieferungen an Israel stehe. Die AfD sei strikt gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete, lautete seine Antwort. Man müsse stattdessen ins Gespräch kommen. Diplomatische Beziehungen suchen, damit der Nahe Osten endlich zur Ruhe komme, das war seine Empfehlung.

Auf die Nachfrage, wie er sich diplomatische Beziehungen zu einer Terrororganisation wie der Hamas vorstelle, antwortete Chrupalla ganz im Sinne des Käßmann’schen Evangeliums, wonach man auch dem Islamisten mit ausgestreckter Hand und offenem Herzen begegnen sollte. Man dürfe nicht vergessen, dass auch 40000 Zivilisten in Gaza gestorben seien, sagte er: „Für mich ist Mensch Mensch, das sage ich ganz ehrlich.“ Schöner hätte es die ehemalige Ratsvorsitzende nicht ausdrücken können.

Nicht einmal Rechte reden, wenn’s um Krieg und Frieden geht, noch wie Rechte. Früher hätte die Lösung auf der Hand gelegen. Da hätte man die Mordbuben so lange unter Feuer genommen, bis sie nicht mehr in der Lage gewesen wären, größeres Unheil anzurichten. Das ist ziemlich genau der israelische Ansatz, aber die Juden haben ja auch nicht das Neue Testament. AfD-Politiker wie Chrupalla hingegen setzen ganz auf Ökumene. Niemals Waffen in Spannungsgebiete, da Waffen die Sache nur schlimmer machen, wie jeder weiß, der Chamberlain für eine Sektmarke hält und D-Day für eine Netflix-Serie.

Leider war in dem Interview, in dem Chrupalla seine Friedenspläne vorstellte, nicht mehr Zeit für eine Nachfrage, wie genau er sich das Zusammenleben mit Leuten vorstellt, die Babys erwürgen und Partys auf Kindersärgen veranstalten. Mir fehlt die Fantasie, wie man mit solchen Menschen friedlich Tür an Tür leben soll. Dass ausgerechnet eine Partei gute Nachbarschaft mit der Hamas empfiehlt, die sonst bei jedem Muslim den Krummdolch im Gewand wittert, gehört zu den Mysterien des politischen Lebens.

Aber so ist das in der AfD-Welt. Sobald der Muslim vor der Haustür aufkreuzt, werden alle hysterisch. Wenn es um internationale Konflikte geht, herrscht hingegen jesusartiges Vergeben und Vergessen. Da schaut man sich tief in die Augen, auf dass aller Hass erlösche. Diplomatische Lösung statt Säbelrasseln, heißt der Zaubersatz. Das ist bekanntlich auch der Ansatz im Umgang mit dem Weltbösewicht Russland.

Ich gebe zu, es ist ein wenig verwirrend. Es waren doch immer die Linken, die auf Parteitagen die Kraft der Sonnenblume beschworen und Friedenslieder anstimmten, wonach das weiche Wasser den Stein bricht. Und nun reden sie bei den Grünen der Aufrüstung das Wort und in der AfD bekommen sie schon weiche Knie, wenn der Russe nur einmal „Atombombe“ sagt.

Rückbesinnung auf die Männlichkeit? Wiederkehr soldatischer Tugenden? Härte gegen sich selbst? Alles Käse. Einen seiner bekanntesten Auftritte verdankt der AfD-Abgeordnete Maximilian Krah dem Loblied auf mehr maskuline Energie. Nur rechte Männer seien echte Männer, wer das beherzige, bei dem klappe es auch wieder mit den Frauen. Ich fürchte, in Wahrheit ist das Einzige, was bei diesen Leuten aufrecht steht, der Hals der Weinflasche, den sie auf dem Weg zum Sofa umklammern.

Wenn der Historiker Herfried Münkler mit seinem Befund recht hat, dass wir in einer postheroischen Gesellschaft leben, dann ist die AfD der beste Beweis. Von der Linkspartei erwarte ich nichts anderes, die waren schon immer auf dem Anti-Bundeswehr-Trip. Das macht sie ja auch zur idealen Partei für Leute, die über „Work-Life-Balance“ reden können, ohne dabei zu lachen, und Sabbatical für den Normalzustand zwischen zwei Praktika halten. Aber rechts der Mitte?

Ich gebe zu, mich haben schon beim Anblick der Krah-Videos Zweifel beschlichen. Wenn jemand so gar nicht nach Pick-up-Artist aussieht, dann Maximilian Krah. Ich würde sagen: eher Abteilung Thekenschwafler, der immer bis zum Schluss bleibt, weil er sich so gerne reden hört.

Krah ist vermutlich auch der Typ, der beim Sex die Socken anlässt. Immerhin, er hat acht Kinder gezeugt, mag jetzt der eine oder andere einwenden. Aber das ist kein echtes Gegenargument. Wie man weiß, bekommen das selbst die Amish hin. Und die machen vorher das Licht aus und lassen nicht nur die Socken an.

Mir kommt das alles seltsam bekannt vor. Ich gehöre zu einer Generation, die noch einer sogenannten Gewissensprüfung unterzogen wurde, wenn sie den Wehrdienst verweigern wollte. Zum angesetzten Termin musste ich mich im Kreiswehrersatzamt in Hamburg-Uhlenhorst einfinden, wo mich drei Bundeswehroffiziere befragten, was ich denn zu tun gedächte, wenn der Russe gegen ein Krankenhaus anrücken würde, in dem ich mich mit Kindern und Frauen befände. Würde ich dann die Waffe aufnehmen – oder die Hilfsbedürftigen ihrem Schicksal überlassen?

Ich habe mich auf eine Art Befehlsnotstand herauszureden versucht. Was auch immer ich täte, meine Seele würde schaden nehmen, erklärte ich, worauf mir einer der beiden Offiziere entgegenschleuderte, ob ich damit sagen wollte, dass jeder Soldat ein seelischer Krüppel sei? Dass ich heute Tino Chrupalla in dem 18-jährigen Wehrdienstverweigerer von damals wiederbegegnen würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

In dem Krankenhaus-Beispiel ist gleichwohl eine Kalamität des Pazifismus beschrieben: Auch wer nicht zur Waffe greift, macht sich schuldig, in dem Fall am Tod von Frauen und Kindern, die er mit Waffengewalt hätte schützen können. Leider gibt es Menschen, die sich durch das demonstrative Zeichen von Schwäche nicht besänftigen lassen, sondern im Gegenteil ermuntert fühlen. Wenn man denen den Hals hinhält, beißen sie erst recht zu. Deshalb sind die Nazis auch nicht durch Zureden in die Knie gezwungen worden, sondern durch Waffengewalt.

Vielleicht sind die AfD-Pazifisten am Ende nur devote Charaktere, die einen Kerl wollen, der sie mal richtig rannimmt. Das wäre die individualpsychologische Deutung. Als ich mich neulich über die neue Russland-Liebe des amerikanischen Präsidenten lustig machte, bekam ich einen Tweet des stellvertretenden Vorsitzenden der NRW-AfD Sven Tritschler in meine Timeline gespült: „Ach Gott, Fleischhauer. Irgendwann ist ein Bild von Dir im Lexikon neben dem Begriff ‚Cuck‘“, schrieb er.

Ich musste das Wort „Cuck“ erst einmal googeln. Es erfreut sich in der rechten Szene außerordentlicher Beliebtheit, wie ich bei der Gelegenheit gelernt habe, und meint einen verweichlichten Mann, der liberalen Ideen anhängt. Na ja, kann ich nur sagen.

Möglicherweise schwingen sie ja deshalb bei der AfD ständig so wilde Reden, damit nicht auffällt, wie soft sie in Wahrheit sind. Die Vorliebe für Tracht und Jagd, die Begeisterung für Leni Riefenstahl, Runenschrift und schwarzes Leder: alles Gemache, alles Show. Ich sehe das Profilbild von Sven Tritschler, und ich sehe die Ledermaus, die auch noch auf der Bondage-Party ungeküsst bleibt, weil niemand Interesse hat, ihr den Hosenboden zu versohlen.

Insofern hat Margot Käßmann vielleicht doch recht: Ein bisschen mehr Liebe, und vieles würde sich von selbst erledigen.

© Michael Szyszka

Der Schattenstaat

Die SPD hat den Verzicht auf alle Fragen nach der Finanzierung sogenannter Nichtregierungsorganisationen zur Vorbedingung für Koalitionsgespräche gemacht. Verständlich: Das Netzwerk der staatlich geförderten Aktivistenvereine ist die heimliche Machtbasis von Rot-Grün.

Deutschland steht am Abgrund. Nein, nicht wegen Donald Trump und dem Theater um Selenskyj. Auch das ist schlimm. Aber noch schlimmer ist es, wenn die Grundfesten des Gemeinwesens von innen ausgehöhlt werden!

Einen Anschlag auf die Demokratie hat die Linkspartei ausgemacht. Grünen-Vorstandsmitglied Sven Giegold sieht ungarische Verhältnisse aufziehen. Es drohe nicht weniger als die Überwachung und Einschüchterung der Zivilgesellschaft.

Was ist geschehen? Die CDU-Fraktion hat eine Kleine Anfrage eingebracht, in der sie die Bundesregierung um Auskunft bat, welche NGO vom Staat finanziert werden. So fragil ist unsere Demokratie: Eine parlamentarische Anfrage im Bundestag und alles, was unsere Verfassungsväter und -mütter auf den Weg gebracht haben, ist in Gefahr.

Ich dachte immer, NGO komme vom englischen Wort „Non-Governmental Organisation“, zu Deutsch „Nichtregierungsorganisation“. Also eine Institution, die unabhängig und überparteilich ist und staatlichen Akteuren kritisch auf die Finger schaut. Wie naiv von mir. Wie man jetzt weiß, steht NGO für „Organisation, die sich so an Staatsgeld gewöhnt hat, dass schon die Frage nach der Höhe als Sakrileg empfunden wird“.

In gewisser Weise verstehe ich die Aufregung. Schlüge mein Herz für Rot-Grün, hätte ich auch ein gesteigertes Interesse daran, dass die Umwegfinanzierung von Vereinen  wie „HateAid“, „Neue deutsche Medien- macher*innen e. V.“ oder dem Recherchenetzwerk „Correctiv“ nicht zu hell ausgeleuchtet wird. Was bei den Grünen unter Zivilgesellschaft läuft, meint in Wahrheit Vorfeldorganisationen der Bewegung. Hier liegt die eigentliche Machtbasis, auf der ein nicht unwesentlicher Teil des gesellschaftlichen Einflusses beruht.

Die „Welt“ sprach in einem Artikel vom „Deep State“. Ich hielt das für eine journalistische Übertreibung. Nach der Aufregung der vergangenen Tage muss ich sagen: Möglicherweise hat die „Welt“ doch recht. Wenn es verboten ist, nach Geldflüssen zu fragen, weil bereits die Frage als demokratiefeindlich gilt, ist „tiefer Staat“ eigentlich noch zu harmlos. Vielleicht sollte man eher von „Schattenstaat“ reden.

Man ist gut vernetzt, auch das zeigt sich jetzt. Wer als Journalist einen Artikel mit einem alarmierenden Zitat illustrieren will, muss nur anrufen, und die Nichtregierungsorganisation der Wahl hilft gerne aus. Die einen liefern die Studien, die andern die mediale Verbreitung, das ist der Deal.

Selbstverständlich hält der Betrieb jetzt auch schützend die Hand über die Partner. „Ich muss es so hart sagen: Ich dachte, ich lese eine Kleine Anfrage der AfD. Bin ehrlich entsetzt“, schrieb die „Spiegel“-Redakteurin Ann-Katrin Müller auf Bluesky. Am Dienstag folgte dann der Artikel über die „große Besorgnis“ linker Wissenschaftler über die „weitere Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft“. 1700 Unterschriften von „Forschenden“, von denen nicht wenige wiederum über enge Beziehungen zu den NGOs verfügen, deren Gelder sie nun unbedingt sichern wollen.

Einige NGOs begnügen sich nicht damit, die erwünschten Stichworte zu liefern. Im Zweifelsfall werden auch Gegner markiert und verleumdet. Ein beliebtes Mittel dazu ist die Liste. Die Bundesregierung fördert ein Projekt gegen Antifeminismus. Die Amadeu Antonio Stiftung richtet eine Meldestelle ein, bei der man jeden anzeigen kann, der sich eines antifeministischen Vergehens schuldig gemacht hat, wozu schon die Behauptung zählt, dass ein Mensch mit einem Penis keine Frau sein könne. So schließt sich der Kreis.

Als zentrale Anlauf- und Umverteilungsstelle staatlicher Gelder fungiert dabei das Bundesfamilienministerium. Hier laufen die Geldströme zusammen, von hier aus fließen sie über eine schier unübersehbare Zahl von Kapillaren auf die rot-grüne Blumenwiese. In manchen Fällen deckt die Förderung nahezu den gesamten Personaletat. Ausweislich des Haushaltsplans für das Jahr 2023 beliefen sich die Personalkosten der Amadeu Antonio Stiftung auf 6 291 809 Euro. Zuschüsse der öffentlichen Hand: 6 055 277 Euro. Womit sich der in Berlin ansässige Verein den Innovationspreis als erste staatseigene Nichtregierungsorganisation verdient hat.

Der größte Taschenspielertrick der Linken bestand schon immer darin, die eigenen Interessen als gemeinnützig auszugeben. Dass sich Lobbyisten für den Aufbau von Windanlagen oder die Einführung des Gendersterns einsetzen, so wie andere für den Schutz der Raucher oder die Rückkehr zu traditionellen Familienwerten – dagegen ist nichts zu sagen. Aber schon dieser Vergleich gilt als anstößig. Wenn linke Interessen berührt sind, geht es immer ums große Ganze. Wer das hinterfragt, stellt die Demokratie und den Rechtsstaat zur Disposition.

„Die sich heute als ‚links‘ Lesenden beziehen ihren Stolz aus moralischer Definitionsmacht“, hat Thierry Chervel, einer der unbestechlichsten Beobachter des politischen Geschehens, anlässlich des 25-jährigen Bestehens des „Perlentauchers“ in einem „taz“-Interview zu Protokoll gegeben. „Sie sehen sich als Wahrer bestimmter Normen und Standards, die sie selber setzen und die es ihnen dann ermöglichen, zu definieren, wer dazugehört und wer ausgeschlossen wird. Ihre Definitionsmacht ist zugleich ein Geschäftsmodell. Wer sich ihren Normen fügt und sie verficht, hat dann eine Chance auf eine Beamtenstelle im Beauftragtenwesen.“ Genau so ist es.

Es gebe nun wirklich Wichtigeres als ein paar Tausend Euro für die „Omas gegen Rechts“, heißt es jetzt. Das ist die zweite Verteidigungslinie: die Verharmlosung und Verniedlichung staatlicher Förderung. Dass dieses Argument von denselben Leuten vorgetragen wird, die eben noch die Demokratie am Abgrund sahen – egal. So ist das im linken Spiegelkabinett: Was gerade klein war, kann plötzlich ganz groß sein, und was eben noch groß erschien, um nicht zu sagen staatstragend, ist im Handumdrehen wieder ganz klein.

Immerhin ist das Thema der SPD als der letzten verbliebenen Schutzmacht der linken Quersubventionierung so wichtig, dass deren Anführer Lars Klingbeil den Verzicht auf weitere Fragen zur Finanzierung zur Vorbedingung von Koalitionsgesprächen gemacht hat. Größer geht’s eigentlich nicht.

Ich habe bei der Gelegenheit gelernt, dass Klingbeils Frau selbst eine NGO leitet, das Digitalnetzwerk D21. Googelt man weiter, erfährt man, dass die Initiative D21 im Geschäftsjahr 2023 von vier Bundesministerien Zuwendungen in Höhe von insgesamt 150 000 Euro erhielt. In jedem normalen Unternehmen wäre es ausgeschlossen, dass die Ehefrau eines der Vorstandsmitglieder aus der Firmenkasse Geld für ihre eigenen Projekte erhält. Aber solche Compliance-Regeln schenkt man sich in der Politik. Da arbeitet man ja für den Erhalt der Demokratie, da kann man auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen, nicht wahr?

Wir werden sehen, wie es weitergeht. Wer sich im Bundesfamilienministerium umhört, erfährt, dass dort, Stand Anfang der Woche, noch keine Anfrage eingegangen war. Auch in anderen Ministerien herrscht Stillstand der Rechtspflege, wie man so schön sagt. Offenbar setzt man im Kanzleramt darauf, dass sich die Sache im Sande verläuft, wenn man einfach so tut, als ob es die Anfrage der Union nie gegeben hätte.

„Die Linke hat keine Mehrheit mehr“, hat Friedrich Merz einen Tag vor der Bundestagswahl seinen Wählern zugerufen. „Die linke Politik ist vorbei.“ Das war keine Prophezeiung, das war ein Versprechen.

Ich wage an dieser Stelle eine Vorhersage. Wenn die Union klein beigibt, dann war’s das mit dem Ende der linken Politik. Dann wissen alle, wer in der neuen Regierung Koch und wer Kellner ist, um ein Wort von Gerhard Schröder aufzunehmen.

Gewiss gibt es wichtigere Themen als die 5000 Euro für die „Omas gegen Rechts“ oder die sechs Millionen für die Amadeu Antonio Stiftung. Aber manchmal ist es das symbolische Detail, das für das große Ganze steht.

Der Präsident als Schläger

Das ist die USA unter Donald Trump: ein Schurkenstaat, der zu Einschüchterung und Erpressung greift, um sich Schwächere gefügig zu machen. Und nun? Nun müssen wir uns halt zur Wehr setzen

Ich habe übers Wochenende den „Paten“ geschaut. Es heißt gelegentlich, Donald Trump verhalte sich wie ein Mafiaboss. Auch ich habe ihn schon als solchen bezeichnet. Aber das ist eine völlig unzutreffende Beschreibung.

Der Mafiaboss agiert in einem festen System von Regeln und Verbindlichkeiten. Die ersten 30 Minuten des „Paten“ vergehen mit der Schilderung einer Hochzeit. Es dauert so lang, weil sich vor dem Arbeitszimmer des Don eine Reihe von Besuchern gebildet hat, die ihm ihre Nöte und Sorge vortragen wollen. Am Hochzeitstag seiner Tochter könne ein Sizilianer keinen Wunsch abschlagen, heißt es an einer Stelle zur Erklärung.

Donald Trump ist kein Pate. Sein Arbeitszimmer steht nur Besuchern offen, die einen Umschlag mit Bestechungsgeld bei sich führen. Oder Lösegeld. In Wahrheit ist er nicht mehr als ein Straßenschläger, der die Verwundbarkeit seiner Opfer ausnutzt. Wenn jemand Schwäche zeigt, langt er zu. Wo er feststellt, dass einer sich zu wehren weiß, geht er auf Abstand.

Im „Wall Street Journal“ konnte man die Tage nachlesen, wie der neue amerikanische Finanzminister Scott Bessent nach Kiew reiste, um dem ukrainischen Präsidenten die Waffe an den Kopf zu setzen. Bei dem Treffen holte der Emissär ein Papier heraus, mit dem sich Selenskyj verpflichten sollte, auf Bodenschätze und seltene Erden im Wert von vielen Milliarden Euro zu verzichten. Als er sagte, er könne das nicht auf die Schnelle unterschreiben, antwortete Trumps Emissär, dann habe er ein Problem.

Wörtlich schreibt das „WSJ“ über die Begegnung: „Bessent schob das Papier über den Tisch. Selenskyj warf einen kurzen Blick darauf und erklärte, er würde es mit seinem Team besprechen. Bessent schob das Papier noch näher an Selenskyj heran. ‚Sie müssen das unterschreiben. Die Leute in Washington sind sonst sehr unglücklich.‘“ Als Selenskyj sich weiterhin weigerte, hieß es danach, er sei ein Diktator und habe den Krieg gegen Russland begonnen, weshalb man ihm keine weitere Hilfe gewähren werde.

Das ist die USA unter Donald Trump: ein Schurkenstaat, der zu Einschüchterung und Erpressung greift, um seinen Willen durchzusetzen. Wer sich den Forderungen widersetzt, wird mit Drohungen überzogen – oder gleich den russischen Horden ausgeliefert. Trump erledigt die Drecksarbeit ja nicht einmal selbst. Die überlässt er dem Sauron im Kreml. Dagegen sind selbst notorische Halsumdreher-Staaten wie Saudi-Arabien regelbasierte Gemeinwesen. Da kann man wenigstens mit einem gewissen Zutrauen in einmal getroffene Verabredungen darauf setzen, dass die Zusagen gelten, die gemacht wurden.

Ich glaube, die meisten haben noch nicht wirklich begriffen, was die zweite Amtszeit Trump für Deutschland bedeutet. Was wir erleben, ist mehr als das Ende der Nachkriegsordnung, in der wir uns darauf verlassen konnten, dass die USA bereit stand, wenn es ernst wurde. Dafür hätte ich sogar ein gewisses Verständnis. Dass die Amerikaner es leid sind, die Hauptlast der Verteidigungskosten zu tragen, um dann von den Europäern gesagt zu bekommen, was sie alles falsch machen – darauf hätte ich auch keine Lust. Aber der Bruch geht viel weiter. Europa ist nicht nur kein Verbündeter mehr. Wir sind jetzt selbst als Feind markiert.

Dass man nicht alles für bare Münzen nehmen sollte, was Trump so erklärt? Darauf sollten wir uns nicht verlassen. Wir können auch nicht mehr darauf setzen, dass es in der Nähe des Präsidenten Menschen gibt, die seine Impulse mäßigen. Um zur Entourage zu gehören, muss man alles nachplappern, was der Präsident vorgibt. Das ist die Voraussetzung. Es ist ein komplett geschlossener Kreis von Menschen, die sich gegenseitig retweeten.

Was also tun? Wie es der Zufall wollte, war ich vergangene Woche in Brüssel, als die Nachricht lief, dass die USA jetzt gemeinsame Sache mit den Russen machen. Am zweiten Tag meines Besuchs lud mich die „Vereinigung europäischer Journalisten“ zu einem „Working Lunch” ein, wie dort die Kombination aus Mittagessen und Arbeitssitzung heißt. Alles très français.

Neben mir saß der neue Sprecher des Europäischen Parlaments. Die Gastgeber hatten vermutlich erwartet, dass wir einander beharken würden. Aber am Ende hatte ich den Eindruck, dass sie in der EU durchaus begriffen haben, dass diese Krise alles ändert. Statt den Bürgern das Leben schwer zu machen, indem man immer neue Regelungen ersinnt, Europa zum Verteidigungsbündnis umzubauen: Das wäre ja mal etwas, was viele unterstützen könnten. „Defend Europe“ klingt doch ganz anders als die nächste Inaussichtstellung einer weiteren Vertiefung des Lieferkettengesetzes.

Einige meiner Leser wird das überraschen: Ich denke, wir können froh sein, dass Ursula von der Leyen die Kommission anführt. Ich weiß, sie genießt nicht den besten Ruf. Aber sie verfügt über eine Reihe von Eigenschaften, die sie aus meiner Sicht zur richtigen Frau am richtigen Ort machen. Sie ist kampferfahren, sie ist relativ furchtlos und sie kennt sich mit komplexen Organisationsaufgaben aus.

Man darf nicht vergessen, sie hat schon Angela Merkel die Stirn geboten – und überlebt. Auch ihre Bilanz als Verteidigungsministerin ist im Nachhinein nicht so schlecht. Ich hatte die Gelegenheit, mit einigen Generälen über ihre Erfahrungen mit den diversen Amtsinhabern zu reden. Der absolute Tiefpunkt war Christine Lambrecht, da waren sich alle einig. Das Urteil über Ursula von der Leyen war erstaunlich differenziert. Sie habe sich in die Materie wirklich eingearbeitet, sie habe zuhören können und dann auch rasch entschieden.

Wir sind nicht wehrlos, das ist die gute Nachricht. Europa ist der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Wer uns zu drangsalieren versucht, lässt ebenfalls Federn. Angeblich erwägt Trump, auf alle deutschen Produkte 19 Prozent Strafzoll zu erheben, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, dass die Mehrwertsteuer amerikanische Produkte benachteilige. Hätte er Leute in seiner Nähe, die sich auskennen, könnten die ihm erklären, dass die Mehrwertsteuer auch für deutsche Produkte gilt. Aber er hat leider nur Elon Musk.

Als Trump beim letzten Mal mit Strafzöllen drohte, war die Antwort aus Brüssel, dass man dann eben Sonderabgaben auf Harley Davidson und Bourbon erheben müsse. Ich fürchte, das wird diesmal nicht ausreichen. Gerade die Tech-Giganten haben in Europa viel zu verlieren. Warum nicht Facebook das Leben schwer machen oder Google? Oder über Nacht plötzlich Arbeitsvorschriften entdecken, die Amazon leider nicht erfüllt? In Brüssel sitzen 30000 Beamte, die Meister darin sind, Dinge zu komplizieren. Man muss ihnen nur ein neues Ziel und eine neue Aufgabe geben.

Eine andere Frage wird sein, wie wir künftig unsere Verteidigung organisieren. Bislang haben wir uns ganz komfortabel im Schatten des Hegemons eingerichtet. Aber auch hier sind wir unserem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert. Europa hat 1,2 Millionen Menschen unter Waffen, das ist nicht Nichts. Die Rüstungsindustrie sendet Signale, dass sie durchaus in der Lage wäre, die Produktion schnell hochzufahren, wenn es denn verbindliche Zusagen gäbe.

Es schmerzt mich, das schreiben zu müssen, und das sage ich nicht einfach so dahin. Ich war immer ein Verfechter der transatlantischen Freundschaft. Der Antiamerikanismus gehörte zu den Dingen, die mich von der Linken dauerhaft entfremdeten. Ich habe vier Jahre in den USA als Wirtschaftskorrespondent verbracht, diese vier Jahre gehören zu den besten meines Lebens. Ich habe auf meinen Reisen dort so viele großzügige, hilfsbereite und freundliche Menschen kennengelernt. Aber es nützt nichts. Das sind sentimentale Erwägungen. Und aus Sentimentalität erwächst noch keine politische Strategie.

Auch in den Vereinigten Staaten werden wieder andere Zeiten kommen. Bis dahin sind wir gut beraten, uns der Realität zu stellen. Es ist die spezifische europäische Realitätsverleugnung, die uns in die vertrackte Lage gebracht hat, in der wir jetzt stecken.

© Silke Werzinger

Das Tier im Mann

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, dass jeder dritte Asylbewerber unter psychologischen Problemen leide. Droht eine Gewaltkrise? Und was wäre die Antwort: Therapeuten für alle?

Mehr Therapeuten, das wäre eine Lösung. Ein dichtes Netz an Sozialarbeitern, Medizinern und psychiatrisch geschultem Personal, das jeden auffängt, der Auffälligkeiten zeigt.

Die „Zeit Online“-Redakteurin Vanessa Vu hat den Weg bei „Caren Miosga“ gewiesen. „Wir haben Menschen in Not, offen- bar psychiatrisch auffällig, offenbar haben sie nicht die Hilfe erhalten, die sie gebraucht hätten, um solche Taten nicht zu begehen, das ist einfach insgesamt sehr bestürzend“, sagte sie nach der Bluttat von Aschaffenburg. Außerdem, so Frau Vu weiter, müsse man grundsätzlich fragen, warum es immer junge Männer seien, die zur Waffe griffen – oder wie sie mit Rücksicht auf den Flüchtlingsstatus sagte – „verzweifelte junge Männer“.

Das wäre eine weitere Möglichkeit: alle Männer unter Beobachtung stellen lassen. Nicht die Herkunft oder die ideologische Überzeugung, sondern die Geschlechtszugehörigkeit sei das verbindende Element, so hat es auch der Soziologe Andreas Kemper geäußert: „Es sind immer Männer, die sich ermächtigen, willkürlich zu morden. Egal ob Schweden, Afghanen, Deutsche: DAS ist das Problem.“

Beim Blick auf die Führungsriege der Grünen Jugend, die da sofort mit dem Kopf nickt, habe ich zugegeben Mühe, einen Überschuss an gefährlicher Männlichkeit zu erkennen. Bevor einer wie Jakob Blasel auch nur die Stimme erhebt, muss erst einmal eine Einverständniserklärung seiner Co-Vorsitzenden her. Aber wer weiß, vielleicht wohnt auch ganz tief drinnen in Jakob Blasel ein Tier, das lediglich darauf wartet, von der Leine gelassen zu werden.

Dann wäre da noch der Vorschlag einer rigideren Grenzkontrolle, wie ihn der Kanzlerkandidat der CDU favorisiert. Statt jeden ins Land zu lassen, der bei drei „Asyl“ ruft, könnte man in Zukunft genauer hinschauen, wer da eigentlich kommt. Das würde zwar keine Gewalttaten von Flüchtlingen verhindern, die bereits im Land sind. Aber es würde die Wahrscheinlichkeit verringern, dass der Anteil von Menschen, die in Deutschland nicht zurechtkommen, beständig größer wird. Doch dieser Vorschlag ist selbstverständlich völlig indiskutabel, weil viel zu pragmatisch.

Bleiben wir aus gegebenem Anlass für einen Augenblick bei der Miosga-Lösung. Auch nach der Amokfahrt von München hieß es als Erstes, man müsse mehr in die Vorsorge investieren, weil der Täter im Asylverfahren eine posttraumatische Belastungsstörung geltend gemacht hatte.

Da kommt einiges auf die Kommunen zu, wenn sie nun auch noch die psychologische Betreuung sicherstellen sollen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, dass jeder dritte „Geflüchtete“ unter psychologischen Problemen leide. Das ist eine enorme Zahl. Allein vergangenes Jahr hat Deutschland 250000 Asylbewerber aufgenommen, zusätzlich zu den 2,7 Millionen, die seit 2015 ihren Weg zu uns gefunden haben. Wenn ein Drittel davon behandlungsbedürftig ist, dann wären das annähernd eine Million Menschen.

Ob Herr Lauterbach oder Frau Vu oder Frau Miosga mal versucht haben, einen Therapieplatz zu ergattern? Selbst akute Fälle werden vertröstet, weil es nicht genug Fachpersonal gibt. Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass es schon jetzt 7000 Kassensitze zu wenig gibt. Ich will gar nicht über die Kosten reden. Ich sage nur: Wenn man die Bürger so richtig gegen sich aufbringen will, kommt man mit so einer Idee um die Ecke.

Ich kenne mich ein wenig bei mentalen Problemen aus. Zwei Jahre habe ich als Zivildienstleistender in einer psychiatrischen Nachsorgeeinrichtung in Hamburg gearbeitet. Unter den Bewohnern gab es alles, was der psychotische Formenkreis zu bieten hat: Manien, bipolare Störungen, schwere Depressionen, Schizophrenien. Aber dass sich je-mand ins Auto gesetzt hätte, um dieses in eine Menschenmenge zu steuern, ist in all den Jahren, die es die Ein- richtung nun gibt, nicht ein einziges Mal vorgekommen.

Eine Leserin hat mich darauf hin-gewiesen, dass auch nach dem Ko-sovo-Krieg viele traumatisierte Menschen nach Deutschland gekommen seien. Den Überlebenden des IS- Terrors wurde ebenfalls Furchtbares angetan. Trotzdem hat man bislang nicht vernommen, dass einer der Kriegsflüchtlinge wahllos auf Kinder eingestochen hätte.

Bis heute klammern sich viele an die Vorstellung, man könnte eine Änderung der Migrationspolitik umgehen, wenn man irgendwie mehr Verständnis für die Täter aufbringen würde. Weshalb fällt es gerade Politikern links der Mitte so schwer, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen? Auch im linken Milieu kann man bei gesellschaftlich schädlichem Fehlverhalten sehr un-nachsichtig sein. Einmal die Hand zum Hitlergruß gehoben oder im Suff „Ausländer raus“ gegrölt und selbst kirchentagsbewegte Grüne fordern sofortige Exklusion. Nur wenn es um afghanische Gewalttäter geht, herrscht erstaunliche Geduld.

Ich glaube, muslimische Flüchtlinge dienen als Projektionsfläche. Sie sind der Ersatz für die Unterdrückten und Entrechteten, die der Linken mit der Arbeiterklasse abhandengekommen sind. Dazu kommt eine gewisse Romantisierung. Schon der Ahnvater der Bewegung, der französische Phi-losoph Jean-Jacques Rousseau, schwärmte vom „edlen Wilden“, der im Einklang mit der Natur lebe, unberührt von allen Defiziten der Moderne. Dass es sich bei dem „edlen Wilden“ um eine westliche Fantasie handelte, gehört inzwischen zum Stand der Wissenschaft – nur bis zu den modernen Bewunderern des indigenen Weltenwanderers scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu haben.

Kritiker sagen, dass man nicht so tun solle, als ob ungesteuerte Migration das größte Problem Deutschlands sei. Es ist vielleicht nicht das größte, wäre meine Antwort, aber ein sehr großes. Ich kenne aus dem Kindergarten eine Reihe von Eltern, die inzwischen Menschenansammlungen meiden. Wir leben in einem der sichersten Länder der Welt, keine Frage. Aber wenn sich normale Bürger nicht mehr auf Weihnachtsmärkte oder Straßenfeste trauen und die Gewerkschaften Demos aussetzen, weil sie ihre Mitglieder nicht dem Risiko eines Angriffs aussetzen wollen, liegt etwas im Argen.

Auch ökonomisch bleibt der unkontrollierte Zuzug nicht ohne Folgen. Nahezu 50 Milliarden Euro geben wir dieses Jahr für das sogenannte Bürgergeld aus, wobei die Hälfte der Bezieher, anders als das Wort Bürgergeld vermuten lässt, gar keinen deutschen Pass hat. Dazu kommen die Kosten für Unterbringung, medizinische Versorgung, Schule, Kita und natürlich die Asylverfahren.

Der Attentäter von München hat nicht nur zwei Anhörungen im Bundesamt für Migra-tion und Flüchtlinge durchlaufen, wie man der Zeitung entnehmen konnte. Anschließend hat sich auch noch ein Gericht mit seinem Fall befasst, da er den abschlägigen Bescheid nicht hinnehmen wollte. Die Bundesregierung hat in ihrer un- endlichen Weisheit kurz vor dem Bruch der Ampel verfügt, dass ausreisepflichtigen Ausländern automatisch ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wird, der ihnen hilft, gegen die Ausweiseverfügung vorzugehen. All das will bezahlt sein. Zusammengerechnet kommt man auf einen Betrag, der leicht an den Verteidigungshaushalt heranreicht.

Bei „Markus Lanz“ saß neulich Michael Kyrath, der vor zwei Jahren bei der Messerattacke von Brokstedt seine 17-jährige Tochter verlor. Man sei inzwischen mit weit über 300 Elternpaaren im Kontakt, die das Schicksal teilten, sagte er. Und er fuhr dann fort:

„Was uns alle eint, es ist immer dasselbe Täterprofil, es ist dasselbe Tatwerkzeug, es ist nahezu derselbe Tathergang, es sind nahezu dieselben Tatmotive und es sind am Ende einer Tat dieselben Floskeln, die wir seit Jahren hören, die Versprechungen der Politiker ‚wir machen, wir tun‘ – ge-schehen ist überhaupt gar nichts. Wir werden die nächsten Fälle wieder erleben. Und wir werden wieder erleben, dass die üblichen politischen Verantwortlichen an der nächsten Tatstelle stehen und wieder Bedauern bekunden, wie schrecklich das doch ist, und wieder versprechen, was sie nicht alles in Bewegung setzen wollen, und danach wird wieder nichts passieren.“

Ich will nicht zu pathetisch werden, aber am 23. Februar geht es auch um die Frage, ob Herr Kyrath Recht behält oder nicht.

© Michael Szyszka

Der Niedergang

„Sagen, was ist“, hat „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein seinen Redakteuren mit auf den Weg gegeben. Heute verfährt die Redaktion lieber nach dem Motto: „Sagen, was sein soll“. Dabei kommt es zu haarsträubenden Fehlern

Der Brief, der die Meinung der „Spiegel“-Redaktion über Friedrich Merz zusammenfasst, ist 22 Zeilen lang. Er findet sich auf den letzten Seiten des Heftes, wo die Zuschriften der Leser abgedruckt sind.

Peter Krizan aus dem bayrischen Neuötting berichtet dort von einem desaströsen Auftritt des heutigen Kanzlerkandidaten an der Universität St. Gallen. Vor 20 Jahren habe Merz eine Vorlesung als Honorarprofessor gegeben, die so blamabel verlaufen sei, dass der Auftritt von der renommierten Hochschule als Schande empfunden worden sei. Unter den Studenten sei es zu Tumulten gekommen. Die Universitätsleitung habe sich gezwungen gesehen, sich vorzeitig von Merz zu trennen, um das ramponierte Image wiederherzustellen. Quite a story, wie der Engländer sagen würde.

Leider stimmt an der Geschichte nichts. Merz war nie zu Vorlesungen in St. Gallen; er hat schon gar nicht Wirtschaftswissenschaften unterrichtet, weder in der Schweiz noch anderswo. Merz ist Jurist, wie man leicht ergoogeln kann. Der Leserbriefschreiber, ein pensionierter Verfahrenstechniker, existiert, das immerhin. Aber alles andere entspringt der Fantasie.

Wie Krizan der „Süddeutschen“ berichtete, hatte er sich erinnert, dass sein Sohn in St. Gallen studiert und von einem Auftritt des CDU-Politikers erzählt habe. Weil der Sohn gerade nicht greifbar gewesen sei, habe er ChatGPT befragt, was die KI zu dem Vorfall wisse, worauf ihm obige Geschichte präsentiert worden sei, die er wiederum als Leserbrief nach Hamburg an den „Spiegel“ geschickt habe. Naja, habe er sich gedacht, die haben ja einen Faktencheck, die werden das schon überprüfen. Umso größer dann sein Erstaunen, als der Brief unverändert im „Spiegel“ erschien.

Ich habe 30 Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet. Ich hatte dort eine prima Zeit. Anders, als viele vermuteten, wurde ich auch nicht weggemobbt. Der damalige Chefredakteur hat mir glaubhaft versichert, dass er meinen Wechsel aufrichtig bedauere, als ich zu Burda ging. Aber wenn ich heute das Blatt lese, erkenne ich es kaum wieder.

Der Redaktion steht eine Dokumentation zur Seite, die ihresgleichen sucht. Jeder Text geht durch mehrere Hände, auch die Leserbriefe. Wie kann es also sein, dass ein Brief, der Behauptungen enthält, die jeder Plausibilität entbehren, seinen Weg ins Heft findet? Tumulte an einer Uni, weil BWL-Studenten mit der Qualität einer Vorlesung nicht einverstanden sind – und das ausgerechnet in der Schweiz? Da lachen ja die Hühner, wie man so schön sagt.

Der Quatsch fällt niemandem auf, weil er das Bild bedient, das man sich bis in die Chefredaktion von der CDU und ihrem Kandidaten gemacht hat. Hätte es sich um Robert Habeck gehandelt, wäre ein solcher Brief gleich in der Ablage Papierkorb gelandet. Aber bei Merz scheint alles möglich. Das ist wie beim Fall Relotius: Auch da versagten alle Sicherheitskontrollen, weil die Geschichten perfekt der Erwartungshaltung der Redaktion entsprachen.

„Sagen, was ist“, steht an einer Wand im Atrium des Verlagsgebäudes an der Hamburger Ericusspitze, ein Satz des Gründers Rudolf Augstein, mit der er seine Redakteure verpflichten wollte, über den politischen Gestaltungswillen die Wirklichkeit nicht zu vergessen. Tempi passati. „Sagen, wie es sein soll“, lautet das Motto, dem sich die Redaktion heute verpflichtet fühlt.

Damit man mich nicht missversteht: Es gibt wunderbare Kollegen beim „Spiegel“. Immer wieder findet man auch Geschichten, die es in dieser Qualität nur dort gibt. Aber es ist ein Glücksspiel geworden, ob sich der Kauf des Heftes lohnt. Oft herrscht nur gähnende Ödnis.

„Es ist bitter zu sehen, wie die ‚Zeit‘ jetzt regelmäßig den ‚Spiegel‘ abkocht“, schrieb ich neulich einem Kollegen, der wie ich inzwischen woanders arbeitet. „Mir liegt das Blatt immer noch am Herzen, und ich leide wirklich mit, dass es jetzt oft so abgehängt wirkt“, schrieb er zurück.

Früher hat man sich beim „Spiegel“ lustig gemacht, dass die „Zeit“ am Donnerstag die Geschichten kommentierte, die zuvor im „Spiegel“ gestanden hatten. Heute ist es genau umgekehrt. Wie die FDP den Ampel-Bruch vorbereitete oder die Grünen einen der ihren mit erfundenen Me-Too-Vorwürfen erledigten, liest man zuerst in der „Zeit“. Im „Spiegel“ folgt dann die Nachbereitung in der „Lage am Morgen“ – oder eine „Analyse“ der Vorgänge aus der Feder der stellvertretenden Berliner Büroleiterin Maria Fiedler.

Nichts gegen gepfefferte Kommentare. Aber selbst die wirken heute oft seltsam blutleer, weil kaum noch jemand aus der Reihe tanzt. Natürlich sind die Grünen, bei allen Fehlern, die Partei der Wahl. Selbstverständlich ist Trump verachtenswert und Musk noch verachtenswerter und die Sorge um die Demokratie und den liberalen Westen das, was uns alle bewegen muss.

Weil das auf Dauer kein abendfüllendes Programm ist, verlegt sich die Redaktion darauf, dieselben Gegner einfach noch einmal zu vermöbeln. Wenn ich mich nicht verzählt habe, gab es nach der Abstimmung über die Migrationspläne der CDU allein sechs Kommentare, weshalb Merz einen desaströsen Fehler begangen habe. Dass mitunter die Korrekturhinweise unter den Kommentaren fast so lang sind wie der Kommentar selbst, weil sich die Kommentatoren in ihrem Eifer über alle möglichen Fakten hinweggesetzt haben? Geschenkt. Es geht ja gegen die Richtigen.

Ginge es nur um den „Spiegel“, könnte man sagen: Nun ja, der „Spiegel“ halt. Aber ich sehe hier einen Trend. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es mit der Selbstabschottung eines journalistischen Milieus zu tun, das alles, was der eigenen Meinung widerspricht, einfach ausblendet – oder zum Werk von Feinden erklärt, denen man aus höheren Gründen trotzen müsse.

Wie sich die Dinge verschoben haben, sieht man bei dem, was für preiswürdig gehalten wird – und was nicht. Man kann aus der journalistischen Jurypraxis geradezu ein Gesetz ableiten: Wenn sich Teile der Berichterstattung als fragwürdig oder unwahr herausstellen, erhöht das eher die Chance auf eine Auszeichnung.

Wer erhielt den renommierten „Stern“-Preis für die „Geschichte des Jahres 2022“? Der „Spiegel“ für seinen Artikel „Warum Julian Reichelt gehen musste“ – und dabei blieb es auch, als sich wesentliche Vorwürfe der Hauptbelastungszeugin als frei erfunden erwiesen. Wer bekam die Auszeichnung für die „Geschichte des Jahres 2024“? Die „Süddeutsche“ für den Ursprungstext über den Fall Aiwanger, von dem selbst der „SZ“-Chefredakteur in einer Redaktionskonferenz gesagt hatte, das man das so im Nachhinein nicht hätte machen sollen.

Wer sind die „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2024“?: Das Team des Recherchenetzwerks „Correctiv“, dessen aufsehenerregende Reportage über die Remigrationspläne der AfD vor den Gerichten so zerpflückt wurde, dass man die Redaktion gerichtsfest der Unwahrheit bezichtigen darf. Funfact: Am Tag, als das „Medium Magazin“ die „Correctiv“-Mannschaft als Vorbild für die Branche auszeichnete, erklärte das Landgericht Berlin II die Bezeichnung „dreckige Lüge“ für den von ihr publizierten „Geheimplan“ als zulässig.

Wird sich etwas ändern? Ich habe wenig Hoffnung. Am Montag entschuldigte sich der „Spiegel“ bei seinen Lesern für den Abdruck des fehlerhaften Leserbriefs. Man habe ihn „depubliziert“. Das ist das Wort, auf das man sich redaktionsintern geeinigt hat. Es klingt nicht nur ungleich vornehmer als „gelöscht“ oder „entfernt“. In ihm schwingt auch die Suggestion mit, bei der Löschung handele es sich um eine souveräne Entscheidung der Redaktion.

Selbstverständlich saß die stellvertretende Chefredakteurin Melanie Amann, die am Wochenende die Depublizierung verfügt hatte, am Sonntag schon wieder bei „Caren Miosga“ – als „die einzig Unparteiische hier an diesem Tisch“, wie die Talkshow-Moderatorin die „Spiegel“-Frau vorstellte. Unparteiisch? Da muss nicht nur der „Spiegel“-Abonnent herzhaft lachen. Anderseits gilt bei Miosga jeder als unparteiisch, der sein Kreuz links der Mitte macht. Parteiisch sind immer die andern. So schließt sich der Kreis.

Weil nichts Konsequenzen hat, auch die haarsträubendsten Fehler nicht, gibt es auch keine Veranlassung, etwas zu ändern. Das Vertrauen der Leser erodiert, aber das ist ein anderes Thema. Damit beschäftigt man sich dann auf Podien, in denen man das sinkende Vertrauen in die Demokratie beklagt.

© Sören Kunz

Unter Belagerung

Hinter den Deutschen liegen zwei aufregende Wahlkampf-Wochen. Fünf Lehren – über alte weiße Frauen, die moralische Überlegenheit der Linken und ProSieben als Bastion der Anständigkeit

Noch zwei Wochen bis zur Bundestagswahl. Was lehrt uns der Wahlkampf? Vielleicht Folgendes:

  1. Das Alter macht leider auch böse

Im Konrad-Adenauer-Haus, der Bundesgeschäftsstelle der CDU, haben viele schon Angela Merkel mit Hingabe gedient. Ich erinnere mich an den Wahlabend 2005, als es so aussah, als könnte Merkel knapp die Wahl verloren haben. Nicht wenige waren damals den Tränen nahe.

Seit Tagen ist das Adenauer-Haus unter Belagerung. Tausende versammeln sich vor der Parteizentrale, um allen, die für die CDU einstehen, ihre Ablehnung zu zeigen. Am Donnerstag voriger Woche musste die Polizei den Mitarbeitern empfehlen, das Haus zu räumen, weil ernst zu nehmende Drohungen eingegangen waren. Und was macht Angela Merkel in dieser Situation? Veröffentlicht ein Statement, in dem sie sich von ihrer Partei distanziert und damit allen recht gibt, die vor der CDU-Zentrale aufmarschieren. Kein Wort zu den Drohungen und Beleidigungen, kein Wort zu den Einschüchterungen.

Manche denken, das Alter mache milder. Angela Merkel ist der Beweis, dass es auch böser und selbstsüchtiger machen kann. Eine selbstsüchtige Person war sie immer. Mutti war schon zu Amtszeiten ein in jeder Hinsicht unpassender Begriff. Tatsächlich hat kein anderer Regierungschef so sehr darauf geachtet, die Bürger gewogen zu stimmen. Deshalb ist das Land ja auch in dem Zustand, in dem es ist.

Es gehört schon eine besondere Form des Narzissmus dazu, ausgerechnet die Leute hängen zu lassen, die sich für einen ins Zeug gelegt haben. Gerhard Schröder hat nach Ausscheiden aus dem Kanzleramt ebenfalls nur noch auf eigene Rechnung gearbeitet. Aber er ist seiner Partei zumindest nicht öffentlich in den Rücken gefallen.

Was treibt Merkel? Sie erträgt die Vorstellung nicht, dass nach ihr wieder jemand von der CDU ins Kanzleramt einziehen könnte. Der ideale Kandidat war so gesehen Olaf Scholz, der sich als sozialdemokratischer Nachlassverwalter verstand. Schon bei Armin Laschet hat sie keine Hand gerührt. Sie hat das damit begründet, dass es ihrer Rolle als Ex-Kanzlerin nicht angemessen gewesen wäre, sich in den Wahlkampf einzumischen. Aber das war immer Mumpitz. Sie wollte einfach nicht helfen.

Einen Trost gibt es: In der politischen Hölle hält der Teufel einen speziellen Platz für Menschen frei, die alle verraten, die treu zu ihnen hielten.

  1. Nur tote Juden sind gute Juden

Vor wenigen Tagen am SPD-Wahlkampfstand. Das Kind greift nach den Gummibärchen, schon ist man im Gespräch. „Na, der Merz hat sich ja ganz schön verzockt“, sagt einer der Wahlkämpfer. „Ach“, sage ich, „schauen wir mal, wie es am 23. Februar ausgeht.“

Von der Seite nähert sich eine Frau mittleren Alters mit zwei Olaf-Scholz-Buttons am Revers: „Mit Nazis paktieren in der Woche des Holocaust-Gedenktags!“, ruft sie. Das ist das Argument, das jetzt nahezu unweigerlich kommt, wenn man mit Sozialdemokraten diskutiert: aber der Holocaust-Gedenktag!

Meine Antwort lautet: „Nie wieder“, finde ich super. Allerdings fände ich es noch besser, wenn es einem nicht nur zu Gedenktagen einfallen würde. Deutschland hat die höchste Zahl tätlicher Angriffe auf Juden gemessen an der Größe der jüdischen Bevölkerung, wie aus einer aktuellen Berechnung der Antidefamation League hervorgeht.

Was ich nicht gesagt habe, aber hätte sagen sollen: Der effektivste Schutz jüdischen Lebens ist die Abweisung von Menschen, denen von klein auf eingebimst wurde, Juden zu verachten. Es gibt unter den Flüchtlingen aus Afghanistan und Pakistan sicher viele anständige Kerle. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass man jemand ins Land lässt, der üble Vorurteile hegt, ist halt ziemlich groß.

Ich glaube, die Wahrheit ist: Links der Mitte schert man sich nicht wirklich um Antisemitismus. Das fällt einem immer ein, wenn man die eigene Argumentation moralisch aufbrezeln will. „Nie wieder ist jetzt“, heißt es auch in dem Aufruf, den eine Reihe von Schauspielern veröffentlichte, um gegen den Bruch des „historischen Konsens“ zu protestieren, darunter bekannte Namen wie Daniel Brühl, Jella Haase und Karoline Herfurth.

Ich habe mir die Liste der Unterzeichner angesehen. Es sind ziemlich genau die gleichen Leute, die nie die Zähne auseinanderbekamen, als jüdische Studenten bedroht und bespuckt wurden. Die eisern schwiegen, als an den Unis das Siegeszeichen der Hamas auftauchte und Vergewaltiger und Mörder als Widerstandskämpfer glorifiziert wurden. Aber wenn es gegen Friedrich Merz geht, entdecken sie plötzlich ihre Solidarität mit der jüdischen Gemeinde in Deutschland.

  1. Die größten moralischen Knallchargen kommen von ProSieben

Apropos Zivilcourage. Natürlich finden sich auf der Liste auch wieder die Namen von Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt, den beiden politischen Schwergewichten von ProSieben. Da fiel mir ein: Als der umtriebige „Welt“-Reporter Frédéric Schwilden die beiden vor anderthalb Jahren kontaktierte, ob sie ein paar Sätze der Anteilnahme für die in Deutschland lebenden Juden hätten – nichts Politisches, nichts zum Nahost-Konflikt, einfach nur ein Zeichen der Solidarität – antworteten deren Agenten, dass man leider aus zeitlichen Gründen absagen müsse. Auch die Nachfrage, ob eventuell zu einem späteren Zeitpunkt, ging ins Leere: „Leider sehen wir in naher Zukunft generell keine Kapazitäten.“

So gesehen muss man sagen: Wie schön, dass die zwei Rassismusexperten ihre Sprache wiedergefunden haben.

  1. Hetzer sind immer die anderen

Um was es am Ende bei der Abstimmung am Freitag im Bundestag ging? Um das Wort „Begrenzung“. Das war der Begriff, den die SPD partout nicht in dem Gesetzesentwurf der CDU sehen wollte und weshalb sie ihre Zustimmung verweigerte. Wäre ja auch zu schade gewesen, wenn man die Gelegenheit, Merz als Faschistenhelferlein hinzuhängen, hätte ungenutzt verstreichen lassen.

Ein Freund von mir, SPD-Mitglied seit 38 Jahren, sagt, er schreie regelmäßig den Fernseher an, wenn dort Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef, auftauche. So weit ist es bei mir noch nicht. Aber ich kann ihn verstehen.

Mützenich steht für alles, was die SPD heute unausstehlich macht: Nichts hinbekommen, das Land in drei Jahren so runtergerockt, dass buchstäblich gar nichts mehr funktioniert. Aber dafür den ganz hohen Ton anschlagen. Mich erinnert er in seiner verlogenen Rechtschaffenheit an einen dieser Evangelikalen, die von den Freuden der Treue predigen und dann beim Kaffeekränzchen mit der Gemeinde, den Frauen heimlich in den Ausschnitt starren.

  1. Die Mehrheit findet man nicht auf der Straße

Im Netz kursiert ein Augenzeugenbericht von der großen Brandmauer-Demo in Augsburg. Danach wurden folgende Forderungen erhoben: Aussetzung jeglicher Abschiebungen. Verbot der AfD. Und Befreiung von der Marktwirtschaft. Anschließend sangen alle im Chor: „Scheiß Friedrich Merz“.

Der Aufstand gegen Rechts wird gerne als Protest der Mitte verkauft. Aber in Wirklichkeit ist er zu einem Gutteil ein Gruppentreffen der Versprengten diverser Weltrevolutionen. Noch zwei Wochen solche Umzüge – und die CDU steht am Wahltag bei 35 Prozent.

In die Wahlkabine darf ja leider kein Vertreter des Anstands-Deutschlands. Das wäre natürlich der Traum: Wahlabgabe nur unter Aufsicht, damit niemand sein Kreuz an der falschen Stelle setzt. Aber bislang scheitert das an den Wahlgesetzen. Also ist man am 23. Februar auf die Einsicht der Wahlbürger angewiesen.

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen die Remigrationspläne der AfD zu demonstrieren. Und dann? Dann landete die SPD bei der Europawahl auf dem schlechtesten Ergebnis seit 1887. Ich habe das extra nachgeschaut: 1887, da ging es bislang noch einmal tiefer hinab.

© Silke Werzinger

Horrido zur Nazijagd

Woran erkennt man einen Nazi? An seinem Tesla. An Dackel und Polohemd (sagt die „SZ“). Und an seinem Wunsch nach sicheren Grenzen. „Keine Zusammenarbeit mit Nazis. Seit 1863“, lautet die Antwort der SPD auf Friedrich Merz

Ich kenne zwei Kollegen, die Tesla fahren. Ich werde ihre Namen nicht nennen. Man soll andere nicht ohne Not bloßstellen. Aber nachdem sie mit ihrem Kauf schon die Kampagne zur Wiederwahl von Donald Trump unterstützt haben, stellt sich nun die Frage, ob das Fahren eines Teslas nicht dem Zeigen eines verfassungsfeindlichen Symbols entspricht.

Eine Woche wogte der Streit, ob Tesla-Chef Elon Musk bei der Amtseinführung von Donald Trump einen Hitlergruß zeigte. Für Musks Unschuld sprachen: die Anti-Defamation League, der Historiker Niall Ferguson sowie diverse Kenner des Dritten Reichs.

Aber spätestens, nachdem der „Spiegel“ die „studierte Politologin“ Kira Ayyadi von der Amadeu-Antonio-Stiftung als Gruß-Koryphäe aufbot („Das war definitiv ein Hitlergruß“), darf die Sache in Deutschland als entschieden gelten: Wer in ein S-Modell steigt, kann auch gleich mit einem Hakenkreuz spazieren fahren.

Es reicht weniger als ein Tesla, um als Nazi identifiziert zu werden. Dackel, Polohemd und Sneaker sind ebenfalls verlässliche Anzeichen für eine braune Gesinnung. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das stand neulich in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ über „moderne Fascho-Fashion“.

Wenn alle Stricke reißen: Der Kampf gegen den Nationalismus geht immer. Auch retrograd, also rückwärts in der Geschichte. „Keine Zusammenarbeit mit Nazis. Seit 1863“, hat der SPD-Parteivorstand als Antwort auf die Migrationspläne von Friedrich Merz gepostet.

Vor 162 Jahren war Adolf Hitler noch nicht einmal geboren. Außerdem haben eine ganze Reihe ehemaliger Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus erfolgreich in der SPD Karriere gemacht, die können schon mal nicht gemeint sein. Aber egal, mit einem fröhlichen Horrido zur Nazijagd liegt man nie falsch.

Mal sehen, ob es auch als Argument für die Bundestagswahl reicht. Ich habe da meine Zweifel. In der grünen Blase kommt das wunderbar an, klar. Da ist der Kampf gegen Rechts das, was man ein Feelgood-Thema nennt. Deshalb sah man am Wochenende auch nur gut gelaunte Gesichter bei der großen Antifa-Demo am Brandenburger Tor.

Viele fanden es unangemessen, dass die grüne Parteispitze bei der ersten Kundgebung nach dem Kindermord von Aschaffenburg die Gelegenheit für fröhliche Selfies nutzte. Aber das verkennt die Funktion solcher Aufmärsche. Niemand, der dort aufläuft, glaubt daran, dass sich eine nennenswerte Zahl von Nazis von dem Motto „Magie ist stärker als Hass“ beeindrucken lässt. Solche Events dienen der Selbstvergewisserung. Endlich mal wieder das Gefühl haben, auf der richtigen Seite zu stehen – darum geht’s.

Die Grünen waren zuletzt arg geplagt von den sozialpolitischen Eskapaden ihres Kandidaten, dazu kommt die leidige Gelbhaar-Geschichte. Auch bei den Sozialdemokraten herrschte wahlkampfmäßig eher tote Hose. Der Antifaeinsatz wirkt in einer solchen Situation wie politisches Viagra. Aber darüber hinaus? Ich glaube, viele Wähler sehen das Treiben mit Befremden. Die meisten denken sich: Sicher, man kann nicht wachsam genug sein. Aber dass jetzt ausgerechnet Friedrich Merz die Tür zu einem neuen tausendjährigen Reich aufstößt, wie der SPD-Fraktionsvorsitzende behauptet: Das erscheint dann doch etwas weit hergeholt, da haben wir gerade drängendere Probleme.

Ich bin auch dagegen, dass die CDU sich mit der AfD einlässt. Aber darum geht es bei der sogenannten Brandmauer nur noch am Rande. In Wahrheit ist sie so etwas wie ein Dauerticket auf Regierungsbeteiligung ohne parlamentarische Mehrheit.

Egal, was sie sich im Adenauer-Haus einfallen lassen: Erst muss die CDU im Bundesvorstand der Grünen und im Willy-Brandt-Haus nachfragen, ob sie es dort ähnlich sehen. Nur wenn es dort ein Okay gibt, kann’s weitergehen. Das ist die genialste politische Erfindung seit Entdeckung der Wahlurne.

Der grüne Kandidat hat die Funktionsweise der Brandmauer sehr schön auf den Punkt gebracht, als er gefragt wurde, ob Parteien ihre Anträge stoppen sollten, wenn die Falschen zustimmen könnten. „So ist es“, sagte er in dankenswerter Klarheit. Kein Wunder, dass sie bei den Grünen trotz aller Rückschläge so gute Laune haben.

Ich kenne das Argument. Es heißt „Beifall von der falschen Seite“. Wenn ich den Eindruck habe, dass sich unter meinen Beiträgen zu viele Menschen sammeln, die von allen guten Geistern verlassen sind, steuere ich gegen. Oft reicht ein Post, indem man Annalena Baerbock lobt, und diese Follower zerstreuen sich in alle Winde.

Aber ich würde nie meine Positionen danach ausrichten, ob mir die falschen Leute zustimmen. Wenn man damit anfängt, kommt man in Teufels Küche. Das ist wie Opportunismus andersherum: Zu behaupten, dass eins und eins nicht zwei sind, weil das angeblich den falschen Leuten nutzt, führt direkt ins Verderben.

Wenn man die Position von Grünen und SPD zusammenfassen sollte, lautet die: Alles nicht schön, aber uns sind die Hände gebunden. Die SPD hat zwei Seiten veröffentlicht, weshalb alle Vorschläge der CDU, die Situation an der Grenze unter Kontrolle zu bekommen, nicht gehen.

Auch in den Talkshows wird eine Phalanx von Experten aufgeboten, die vor allem sagen können, was alles nicht möglich ist: also keine Zurückweisung an den Grenzen, keine Inhaftierung von ausreisepflichtigen Asylbewerbern, keine Aussetzung des Familiennachzugs.

Mich erinnert das an das Jahr 2015, als Angela Merkel sich zu Anne Will in die Talkshow setzte und unter dem schafsköpfigen Nicken der Moderatorin erklärte, dass man die deutsche Grenze leider nicht schützen könne. Das war damals so falsch wie heute. Es ist diese Schicksalsergebenheit, die Menschen an der Politik verzweifeln lässt.

Es muss alles so bleiben, wie es ist? Nein, sagt eine deutliche Mehrheit der Wähler, das wollen wir so nicht akzeptieren. Und sie haben aus meiner Sicht absolut recht. Genau das ist doch die Aufgabe von Politik: Auf Unsinniges oder Gefährliches zu reagieren, indem man es ändert.

Auch Europarecht ist nicht in Stein gemeißelt. Nennen Sie mich meinetwegen einen heillosen Chauvinisten, aber wenn der größte Nettozahler der EU damit droht, wegen Überforderung seine Zahlungen zu stunden, werden sich die Nachbarn überlegen, was ihnen wichtiger ist: deutsches Geld oder das Beharren auf offenkundig widersinnigen Regelungen.

Zumal unsere Nachbarn es mit den europäischen Verträgen ja auch nicht so genau nehmen. Würden sie es genau nehmen, würden bei uns nicht Tausende anklopfen, die über Italien oder Bulgarien oder einen anderen Dublin-Staat eingereist sind.

Es gibt jetzt sogar eine antifaschistische Wirtschaftspolitik. Der Begriff stammt von der in rot-grünen Kreisen hochgeschätzten Ökonomin Isabella Weber. Um Menschen davon abzuhalten, sich in die Arme rechtsextremer Parteien zu begeben, sollten die anderen Parteien in Deutschland umgehend die Schuldenbremse aufheben, empfiehlt sie. Die Schuldenbremse sei eine Gefahr für die Demokratie, da sie Verteilungskämpfe befördere.

Zur Verteidigung von Frau Weber muss man vielleicht hinzufügen, dass sie mit den politischen Verhältnissen in Deutschland etwa so vertraut ist wie Elon Musk. Sie sitzt zwar nicht in Texas, sondern im beschaulichen Amherst, einem der wokesten Colleges der USA. Aber auch von dort hat man einen eher eingeschränkten Blick auf den Rest der Welt.

Mit dem Wirtschaftsprogramm der AfD scheint sich die Professorin jedenfalls nicht näher beschäftigt zu haben. In Wahrheit ist es noch neoliberaler als das der FDP. Weshalb ausgerechnet eine Ausweitung des Sozialstaats die Anhänger der AfD von ihrer Wahlentscheidung abbringen soll, bleibt das Geheimnis von Frau Weber. Aber wenn es gegen rechts geht, ist alles egal, auch die Logik.

Annähernd 70 Prozent der Deutschen denken in der Migrationspolitik so ähnlich wie Friedrich Merz. Angeblich finden seine Vorschläge sogar unter sozialdemokratischen Anhängern eine Mehrheit. Für mich klingt das nach einem ziemlich starken Argument.

Man kann gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen die ganze Zeit regieren. Man kann gegen die Mehrheit eine Zeit lang regieren. Aber man kann gegen die Mehrheit nicht die ganze Zeit regieren.

© Michael Szyszka

Die Pforte zur Hölle

Was lehrt der Fall Stefan Gelbhaar? Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen: Von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie vielleicht besser fernhalten

In Umfragen geben 13 Prozent der Deutschen an, sie würden für die Grünen stimmen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Weitere zwölf Prozent sagen, dass sie sich eine Wahl der Grünen grundsätzlich vorstellen könnten.

Was macht die Grünen für Wähler attraktiv? Der Einsatz für den Klimaschutz? Sicher. Der Kampf für Gleichberechtigung und Minderheitenrechte? Auch das. Aber das eigentliche Versprechen ist ein anderes. Dass es in der Gesellschaft menschlich zugehe, dass nicht Neid und Missgunst regieren, sondern Anstand und Ehrlichkeit, das ist das wahre Angebot.

So steht es auch auf den Plakaten. Wo die anderen mehr Rente oder günstigere Mieten in Aussicht stellen, prangt bei den Grünen einfach das Wort „Zusammen“. „Ein Mensch. Ein Wort“, das ist der Satz, mit dem Robert Habeck und Annalena Baerbock für sich werben.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind 48 Jahre alt, mit zwei Kindern, seit sieben Jahren sitzen Sie im Deutschen Bundestag. Wenige Tage vor der für Sie entscheidenden Abstimmung, in der über den Listenplatz für die nächste Bundestagswahl befunden wird, tauchen Gerüchte auf, Sie hätten sich Frauen in ungebührlicher Weise genährt.

Es gibt nichts Fassbares, keine Namen oder konkrete Angaben, nur allgemeine, dazu anonyme Anschuldigungen. Aber das reicht, um Ihnen den Rücktritt nahezulegen. Sie müssten zurückziehen, werden Sie aus der Spitze der Partei bedrängt, dazu gäbe es keine Alternative.

Sie sind wie vom Donner gerührt, sie können sich auf alles keinen Reim machen. Dann steigt das Fernsehen ein. Und die Anschuldigungen werden immer wilder. Es heißt, sie hätten sich eine Frau gefügig gemacht, indem sie diese mit K.-o.-Tropfen betäubt hätten. Einer anderen Frau sollen Sie gegen ihren Willen an den Busen gefasst, einer weiteren einen Kuss aufgezwungen haben. Woher die Journalisten die Informationen haben? Sie können nur raten. Bis eben galten Sie als einer der Stars Ihrer Partei, Sie haben eines der wenigen Direktmandate gewonnen. Aber binnen weniger Tage bricht alles zusammen.

Wohin Sie sich auch wenden: Niemand ist bereit, sich für Sie zu verwenden. Die Bundestagsfraktion umfasst 117 Abgeordnete, jeder kennt jeden. Aber auch hier regt sich keine Hand zu Ihrem Schutz. Es gibt allenfalls ein verlegen genuscheltes Wort des Bedauerns, das ist es.

Sie bitten darum, dass man Ihnen die Chance einräumt, sich zu verteidigen. Aber das wird Ihnen verwehrt. Genauere Angaben, was Ihnen vorgeworfen wird? Das sei leider aus Rücksicht auf die Opfer nicht möglich. Sie ziehen einen Anwalt bei und strengen eine Strafanzeige wegen Verleumdung an. Aber es nützt nichts. Am Ende nimmt man ihnen auch noch das Direktmandat.

Eigentlich ist längst entschieden, dass Sie wieder für Ihren Wahlkreis antreten werden. Aber Ihre Gegner setzen eine Wiederholung der Abstimmung an. Die Gegenkandidatin erklärt, sie wolle, dass die Partei auch für Frauen sicher sei. Es klingt, als seien Sie ein gefährlicher Triebtäter, den man unschädlich machen müsse. Sie haben keine Chance.

Ein Mensch, ein Wort? Der Mann, der seinen Ruf und sein Amt verlor, heißt Stefan Gelbhaar. Seit ein paar Tagen kennt ihn die halbe Republik. Denn das alles war erfunden: die Geschichten über den erzwungenen Beischlaf, die aufgedrängten Küsse, der Griff an den Busen. Die wichtigste Belastungszeugin hat es nie gegeben, sie ist die Erfindung einer Parteikollegin. Die Frau, die sich das alles ausgedacht hat: eine Bezirkspolitikerin vom linken Flügel der Partei, gut vernetzt, wie es heißt.

Gibt es einen vergleichbaren Fall in der deutschen Parteiengeschichte? Ich kann mich an keinen erinnern. Dass man in der Politik mit Gerüchten und Unterstellungen arbeitet, um Konkurrenten zu Fall zu bringen, das hat es immer wieder gegeben. Aber eine Verleumdung, die eine Karriere zerstört, ohne dass jemand aus der Parteispitze auch nur eine Nachfrage stellt: Das ist einmalig. Auch einmalig beängstigend.

Viel war in den vergangenen Tagen von den eidesstattlichen Erklärungen die Rede, die vorgelegen hätten, so wollte man den Vorwürfen Glaubwürdigkeit verleihen. „Wer eine falsche stattliche Erklärung abgibt, macht sich strafbar“, hieß es in der ersten Stellungnahme der grünen Parteispitze – so steht es auch auf der Webseite des RBB, der die Anschuldigungen in Umlauf brachte.

Auch das gehört zum Mummenschanz, mit dem Gelbhaar zur Strecke gebracht wurde. Bei Journalisten abgegebene Versicherungen an Eides statt kennt das Strafrecht nicht, sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Wie eine Nachfrage des „Tagesspiegel“ ans Licht brachte, hat der RBB sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Identitäten der angeblichen Zeugen zu prüfen. Eine eidesstattliche Versicherung ohne Geburtsdatum und ladefähige Adresse: Das gibt es nur in der Berliner Welt.

Muss man noch erwähnen, dass die personellen Verflechtungen der Redaktion mit der grünen Partei außergewöhnlich eng sind? Man kennt sich, man schätzt sich. Der heutige Wahlkampfmanager der Grünen, Andreas Audretsch, der den Machtkampf gegen Gelbhaar für sich entschied: ein ehemaliger RBB-Redakteur. Der Ehemann der Berliner Spitzenkandidatin für die Bürgermeisterwahl Bettina Jarasch: war unter anderem Leiter der Abteilung „Aktuelle Magazine“.

Es ist nicht ganz klar, was der Ombudsstelle der Grünen vorlag, als sie den Stab über Gelbhaar brach. Waren es die Vorhaltungen, die dann auch beim RBB landeten und die, wie man jetzt weiß, größtenteils auf falschen Vorwürfen beruhten? Lagen ihr weitere Aussagen vor? Und wenn ja, waren diese ebenfalls anonym oder hat sich jemand im Bundesvorstand mal die Mühe gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen? Dem Beschuldigten gegenüber wurde die Partei nie konkret, über Andeutungen ging es nie hinaus.

Dem „Business Insider“ gegenüber hat Gelbhaar geschildert, wie ihm die Situation zugesetzt hat. Wie er nächtelang wach lag und darüber grübelte, was vorgefallen sein könnte. Wie er sich mit Beruhigungsmitteln runterzubringen versuchte. „Das Ganze zieht enorm Kraft, es macht einen fertig. Man weiß, da ist nichts dran, aber man sucht trotzdem nach einer Erklärung. Wo kann was so krass missverstanden worden sein, das ist ein zielloses Selbstgespräch. Es zermürbt einen.“

Und nun? Nun will es keiner gewesen sein. Die Schuld trägt aus Sicht der Partei allein der RBB und die bis eben noch für ihre „intersektionale, feministische Perspektive“ geschätzte Bezirkspolitikerin, die den Stein ins Rollen brachte.

Der grüne Kanzlerkandidat zog es zunächst vor, sich gar nicht zu äußern. Wäre man Spötter, würde man sagen, er brauchte halt Zeit, seine Gedanken zu sortieren, um zu überprüfen, wer er ist und was wir sein können. Die Außenministerin erklärte, als Außenministerin könne sie zu dem Fall gar nichts sagen, es gebe gerade andere Herausforderungen weltweit.

Das Tor zur Hölle hat sich nicht durch Zufall geöffnet. Der Verzicht auf die Unschuldsvermutung ist bei den Grünen kein Versehen, es ist für sie Ausdruck von Fortschrittlichkeit. Die Parteispitze hat sich ausdrücklich von dem Prinzip verabschiedet, Anschuldigungen zu überprüfen, bevor man aus ihnen Konsequenzen zieht. „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“, erklärt die Ombudsstelle, bei der alle Verfahren landen, ihr Selbstverständnis.

Und daran soll sich auch nichts ändern. Eine feministische Partei könne sich keine Unschuldsvermutung leisten, erklärte die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, in Verteidigung der Parteilinie. Die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber die Grünen seien kein Gericht, sondern eine politische Organisation. Widerspruch vom grünen Kanzlerkandidaten? Keiner, jedenfalls keiner, den man vernehmen konnte. Lassen Sie es uns vielleicht so sagen: Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen – von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie besser fern halten.

© Sören Kunz

Schlangenölverkäufer

Viele haben sich aufgeregt, dass die Grünen ein Habeck-Bild auf das Siegestor in München projizierten. Dabei lautet die Frage: Warum nicht gleich die Feldherrnhalle? Das hätte doch bei dem Wahlkampf viel näher gelegen

Die Deutschen müssen ein glückliches Volk sein. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man gewinnt, wenn man sich den Wahlkampf der Regierung ansieht.

Sicher, hier und da klemmt es. Das eine oder andere könnte besser laufen. Aber im Prinzip ist das Land auf dem richtigen Weg. Deshalb kann man sich auch vor allem den Gefahren zuwenden, die außerhalb lauern, jenseits der Grenzen dieses kleinen Paradieses.

Da ist der amerikanische Präsident, dieser Berserker, der mal eben die Grenzen verschieben will. Grönland zu Amerika? Nein, das können wir ihm nicht durchgehen lassen. Also stellt sich der Kanzler ins Kanzleramt und erinnert Trump daran, dass das Völkerrecht für jeden gelte. So steht es dann anderntags auch in den Zeitungen: Scholz weist Trump in die Schranken.

Dann ist da natürlich Elon Musk, dieser überdrehte Kindskopf, von dem es heißt, dass er unsere Demokratie zerstören wolle. Als die „Welt“ neulich einen Gastbeitrag des Milliardärs veröffentliche, stand im „Spiegel“ zu lesen, das sei ein Tabubruch.

Ich habe mir unter Tabubruch bislang etwas anderes vorgestellt. Dass Jürgen Klopp zu Red Bull wechselt zum Beispiel, das fällt für mich unter Tabubruch. Aber die Veröffentlichung eines Gastkommentars des reichsten Mannes der Welt in einer deutschen Tageszeitung? Anderseits: Was verstehe ich schon von Tabus, nicht wahr? Deshalb lesen sich meine Kolumnen ja auch, wie sie sich lesen.

„Die deutsche Sprache ist die tiefste, die deutsche Rede die seichteste“, schrieb Karl Kraus. Er kannte die Grünen nicht. Hätte er sie gekannt, hätte er noch ganz anders geurteilt.

Robert Habeck hat Auskunft darüber gegeben, was aus seiner Sicht die Gesellschaft zusammenhält und was nicht. Was sie nicht zusammenhält, sind Fakten – sagt Habeck. „Wir kommen nicht weiter, meine ich, wenn wir uns nur die Zahlen um die Ohren hauen, der eine sagt drei, der andere sagt vier, und der Nächste sagt: Wenn der vier sagt, sage ich fünf, und die Wahrheit ist aber dreieinhalb. Das bindet noch nicht eine Gesellschaft zusammen. Wir sind ganz wesentlich das Land, das wir uns sagen, das wir sein wollen, über das wir reden“, erklärte er vor ein paar Tagen in einem Interview.

Auf X schrieb jemand, der Auftritt erinnere ihn an seinen Gemeinschaftskundelehrer auf Abifahrt nach drei Bieren (alkoholfrei). Wer viel redet, liegt auch mal daneben, ließe sich anführen. Aber bei Habeck hat das Prinzip.

Wie sein Vorsatz für 2025 aussieht? „Kanzler werden, Mensch bleiben“. Als ich einem Freund in den USA von dem Plakat erzählte, dachte der, ich würde einen meiner üblichen Scherze machen. Zwei Tage später rief er mich an und sagte, das Plakat gäbe es ja wirklich, er habe es gerade im Netz gesehen.

Viele haben sich darüber aufgeregt, dass die Grünen ein überlebensgroßes Habeck-Bild auf das Siegestor in München projizierten. Ich habe mich gefragt: Warum nicht gleich die Feldherrnhalle? Das hätte doch viel näher gelegen.

Im Wahlkampf kommt ein Volk zu sich selbst. Hier bespricht es, was wichtig ist und was nicht so wichtig. So weit die Theorie. Auch die SPD legt eine Form der Unernsthaftigkeit an den Tag, die in merkwürdigem Kontrast zur Lage steht. Wenn der Kanzler Wachstum verspricht, und zwar „mit Sicherheit“, so als müsse ein Regierungschef nur den Hebel umlegen, damit die Sache wieder läuft, weiß man, dass sie sich bei den Sozialdemokraten von jeder Seriosität verabschiedet haben.

Im 19. Jahrhundert gab es die Schlangenölverkäufer, die übers Land zogen und den Leuten Wundertinkturen anboten, die alle Malaisen über Nacht zu heilen versprachen. Zur Ehrenrettung dieser Wunderheiler muss man sagen, dass sie immerhin nicht den Anspruch erhoben, das Land zu regieren.

Die Lage ist bedrohlich, anders kann man es nicht sagen. Deutschland ist gerade aus der Liste der 20 reichsten Nationen geflogen. Der Geschäftsklimaindex ist im Dezember auf den tiefsten Stand seit vier Jahren gesunken. Wenn kein Wunder geschieht, werden wir 2025 das dritte Jahr ohne Wachstum erleben. Wer einen Job hat, tut gut daran, an ihm festzuhalten. Noch sieht man den Abschwung nicht richtig auf dem Arbeitsmarkt. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er dort durchschlägt.

Man kann sich auch nicht damit herausreden, dass es im Rest von Europa ja nicht besser aussähe. Die Rahmenbedingungen sind überall nahezu gleich, aber nur Deutschland taumelt von einem Rezessionsmonat zum nächsten. „Überall läuft es, außer in Deutschland“: Das war die Überschrift in der „Süddeutschen Zeitung“, die nun wirklich nicht in Verdacht steht, ein neoliberales Kampfblatt zu sein.

Gut, die Bürokratie gedeiht. Allein im Regierungsapparat gab es einen Aufwuchs von 1600 Beamtenstellen, ein Plus von acht Prozent. Insgesamt stiegen die Personalkosten aller Bundesbehörden unter der Ampel auf 43,5 Milliarden Euro an, das ist gut ein Fünftel mehr als zu Regierungsbeginn. Aber ob auf Dauer ein Land funktioniert, in dem niemand mehr produktiv tätig ist, weil alle nur noch einander verwalten? Das wäre das Deutschland-Experiment.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe verglich die Wirtschaftslage in einem aufrüttelnden Aufsatz für die „FAZ“ mit der Spätphase der DDR. Dort wuchs am Ende auch nur noch der Staat. Tatsächlich ist ein hypertrophes Staatswachstum nicht Zeichen der Stärke, sondern im Gegenteil ein Zeichen des Niedergangs, wie der Historiker belegen kann. Doch eigenartig, in den Reden vieler Politiker kommt das nicht vor. Oder wenn, dann als Schicksal, das man halt ertragen muss.

Die Grünen haben sich komplett auf das Gefühlige verlegt. „Zusammen“ und „Zuversicht“ sind die Schlagworte, mit denen sie antreten. Im letzten Wahlkampf versprachen sie immerhin noch eine funktionierende Bahn und ein Internet, auf das man sich verlassen kann. Okay, wir wissen, wie das ausgegangen ist. Deshalb nun der sanfte Robert als Wahlkampfhit.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich es nicht anders machen. Wenn ihr Kandidat mal konkret wird, wie mit dem Vorschlag, Sozialabgaben auf Kapitalerträge zu erheben, muss die gesamte Parteispitze ausrücken, um die Sache zurechtzubiegen. Wer im Wolkigen bleibt, braucht es mit den Fakten nicht so genau nehmen. Das ist ein unbestreitbarer Vorteil.

Wie wird der nächste Kanzler heißen? Natürlich Olaf Scholz. Sagt Olaf Scholz. Die große Mehrheit der Deutschen meint etwas anderes, aber das bekümmert den Kanzler nicht. Wenn die Wähler am Wahltag aufgefordert sind, sich zwischen Friedrich Merz und ihm zu entscheiden, werden mehr Leute für ihn als für den Herausforderer stimmen. So verkündet es Scholz.

Zumindest in der SPD scheint es genug Leute zu geben, die das glauben. An der Basis macht sich leichte Panik breit. Wenn sich die Umfragen bewahrheiten und die SPD bei 15 Prozent landet, muss ein Drittel der Abgeordneten seinen Platz räumen. Und nicht jeder, der dann ohne Mandat dasteht, hat eine gut gehende Anwaltskanzlei, in die er zurückkehren kann. Aber an der Parteispitze: kein Zucken.

Das Ganze nötigt mir schon wieder Respekt ab. Einfach sein Ding durchziehen. Sich nicht darum scheren, was die andern sagen. Ich kenne das von dem verhaltensauffälligen Kind aus der Nachbarschaft. Das lebt auch in seiner ganz eigenen Welt.

Historiker Plumpe erinnerte zum Ende seines „FAZ“- Textes an zwei Grundsätze, die er bei Gottfried Benn gefunden hatte: „1. Erkenne die Lage. 2. Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“

Wir haben das umgedreht: Wir gehen von den Parolen aus und halten sie für Bestände.

Die Meute

Wir wiegen uns im Glauben, wir wären als Mensch zivilisierter als unsere Vorfahren. Die Zeiten, als wir uns zusammenrotteten, um Jagd auf Einzelne zu machen, lägen hinter uns. So betrügen wir uns gern selbst

Der Universalgelehrte und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti war zeit seines Lebens vom hypnotischen Sog fasziniert, den das Aufgehen in der Menge auf den Menschen ausübt. „Masse und Macht“ heißt sein Hauptwerk, an dem er mit Unterbrechungen fast 30 Jahre arbeitete.

Ein Kapitel widmet sich der „Hetzmasse“, wie Canetti die Meute nannte, die erst ablässt, wenn sie ihr Opfer zur Strecke gebracht hat. „Die Hetzmasse bildet sich auf ein rasch erreichbares Ziel“, heißt es dort. „Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist ihr auch nah. Mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los; es ist unmöglich, sie darum zu betrügen.“

Jetzt hat die Meute also den Journalisten Thilo Mischke zu Fall gebracht. Seit die ARD verkündete, dass sie dem mehrfach prämierten Fernsehmann die Moderation der Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ übertragen wolle, setzte eine Gruppe „Kulturschaffender“ alles daran, ihn zu Fall zu bringen. Am vergangenen Samstag knickte der Sender ein und erklärte, Mischke sei raus, man werde sich nach einem anderen Moderator umsehen.

Das Vergehen des Reporters? Er hat vor 15 Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel „In 80 Frauen um die Welt“. Außerdem hat er in einem Podcast erklärt, dass Männer biologisch gesehen Vergewaltiger seien, eine These, für die man als Kulturchefin beim „Spiegel“ sofort zwei Seiten freigeräumt bekommt. Ach ja, und er hat den Namen einer Gesprächspartnerin falsch betont. Das reichte, um zur Jagd auf ihn zu blasen.

Mischke hat niemanden unsittlich berührt. Er hat keine Frau durch anzügliche Bemerkungen in Verlegenheit gebracht oder seinen Status ausgespielt, um eine Kollegin herumzukriegen. Alles, was man ihm zu Lasten legen konnte, war loses Reden.

In dem offenen Brief, die seine Absetzung verlangte, hieß es, er befördere den Sexismus in der Gesellschaft. Das ist das Argument, auf das sich die Erstunterzeichner verständigten. Aber das ist erkennbar Unsinn. Mischkes Buch ist so alt, dass es nicht einmal als E-Book mehr verfügbar ist. Wie soll ein Text, den keiner mehr lesen kann, den Sexismus befördern?

Tatsächlich hat sich Mischke eines viel simpleren Vergehens schuldig gemacht: Er hat den Verhaltenskodex der Leute, die ihn verfolgen, missachtet. Er hat sich über ihre Benimm- und Sprachregeln hinweggesetzt – das war unverzeihlich.

Stilfragen sind auch immer Fragen der Exklusion. Mischke ist der seltene Fall eines Journalisten, dessen Karriere nicht über die Journalistenschule, sondern über Populärorgane wie „Playboy“, „GQ“ und ProSieben führte. Der 43-Jährige kommt aus dem proletarischen Osten und damit einer Welt, die man in den Kreisen, in denen man nun zum Halali blies, bestenfalls vom Hörensagen kennt. Darüber kann auch die Selbstproletarisierung als „Kulturschaffende“ nicht hinweghelfen.

Nichts triggert die Meute so verlässlich wie die Erkenntnis, dass einer nicht dazugehört. Das funktioniert wie vor 500 Jahren. Das Opfer steht immer am Rand, es ist der Außenseiter, der entweder als zu privilegiert oder als zu glaubensschwach oder als politisch nicht verlässlich genug gilt. Da kann sich einer noch so sehr bemühen, den richtigen Ton zu treffen, um nicht aufzufallen. Die Meute riecht sofort, ob er einer der ihrigen ist oder eben doch nur ein Parvenu.

Selbstverständlich hält man in dem Milieu, aus dem Mischke stammt, einen Titel wie „In 80 Frauen um die Welt“ nicht für degoutant, sondern für lustig. Zumal wenn am Ende der Weltreise die große Liebe steht. Hier käme auch niemand auf die Idee, von einem Moderator grundsätzlich als „Moderator*in“ zu sprechen, weil man nicht von Außen beurteilen könne, welches Geschlecht jemand als das seine bevorzuge.

Am Ende ist es die Feigheit der Institutionen, die der Meute den Triumph ermöglicht. Die meisten, die gelobten, niemals mehr einen Fuß in eine „Titel, Thesen, Temperamente“-Sendung zu setzen, würden nie in die Verlegenheit geraten, auch nur in die Nähe einer Erwähnung zu kommen. Wer hätte je von Zara Zerbe, Luca Mael Milsch oder Fikri Anıl Altıntaş gehört?

Und die drei, vier Namen, die man kennt, gehören zu den üblichen Verdächtigen, die immer dabei sind, wenn es darum geht, sich aufzublasen. Der Autor Saša Stanišić, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – Leute, die alles dafür geben, dass ihr Name in der Zeitung steht, und für die man früher, als der Tag noch nicht mit einem Blick über die Schulter begann, das schöne Wort Arschkrampe verwendet hätte.

Es wäre so einfach, man müsste nur für ein paar Tage die Neven behalten. Am Ende hat die Petition „Verhindert Thilo Mischkes Moderation von ‚Titel, Thesen, Temperamente‘“ nicht einmal das selbst gesteckte Ziel von 5000 Unterschriften erreicht, sondern blieb bei 3600 stecken. Aber zu solcher Gelassenheit sind sie bei der ARD nicht in der Lage, das ist die politische Dimension. Die Journalistin Wiebke Hollersen hat das klar erfasst, als sie den Kotau der Programmdirektion in der „Berliner Zeitung“ eine „Katastrophe“ nannte: „Ein paar Tausend Menschen können bestimmen, wer in der ARD nicht moderieren darf“, das sei das Beängstigende.

Unter den Unterzeichnern findet sich auch die Person, die in einer „Taz“-Kolumne Polizisten auf den Müll wünschte. Ich hätte gedacht, dass man vorsichtiger urteilt, wenn man selbst einmal in die Mühle geraten ist. Dass man sich nicht zum Unterschriftenclown macht, wenn man als Autorin ernst genommen werden will. Doch da habe ich mich geirrt. Am Ende ist diesen Leuten das Ansehen, das sie in ihrer kleinen Welt genießen, wichtiger als jede Integrität.

Wenn die Annika anruft und um Unterstützung bittet, mag man nicht Nein sagen. Es könnte ja darauf hinauslaufen, dass die Annika in Umlauf bringt, dass auf die Hengameh auch kein Verlass mehr ist. Und dann, Gott bewahre, in ihrem Podcast ein paar abträgliche Bemerkungen fallen lässt. Der findet zwar praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil sich kein normaler Mensch für ihre feministische Esoterik interessiert. Aber wer weiß, einer könnte es ja doch mitbekommen, und davor hat man Angst.

Das alles ist so arm und eng, dass man weinen möchte. Aber so gesehen passt es dann wiederum zur Kulturwelt der ARD, in der man sich nicht an dem orientiert, was die Zuschauer interessieren könnte, sondern an dem, was die „Community“ denkt. Das steht in der Erklärung, mit der die ARD Mischke beerdigte, wörtlich so: Die Diskussion über die Personalie stehe den Themen im Weg, die „wir gemeinsam mit der Community diskutieren möchten“.

Vielleicht sollte man sich die Liste der Unterzeichner aufbewahren, damit man weiß, von wem man sich besser fernhalten sollte, wenn man sich sein Vertrauen in die Menschen bewahren will. Man muss nur die 100 Erstunterzeichner auf Google suchen, dann sieht man das ganze Elend. Es sind erstaunlich viele frühzeitig gealterte Menschen, die schon mit 35 solch tiefe Magenfalten um den Mund haben, als litten sie an einem furchtbaren Ulkus. Niedertracht macht hässlich, innen und außen.

Canetti kannte sich aus mit den Menschen. Deshalb traute er ihnen auch nicht. Der Einzelne mag verträglich sein, sein Verderben ist die Zusammenrottung. „Der Abscheu vor dem Zusammentöten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht“, schrieb er in „Mensch und Masse“. „Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrichtungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und kann unter hundert Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen.“

Und weiter: „Nicht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuss. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. Aber man weiß mehr darüber als in früheren Zeiten, da man stundenlang gehen und stehen musste und schließlich auch nur wenig sah.“

Denn auch das gehört ja zur traurigen Wahrheit: Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit im „Spiegel“, in der „Zeit“ oder der „Taz“ wäre die moderne Hetzmeute machtlos. Dann würde kaum jemand in der großen Welt von ihren Rasereien Notiz nehmen und alles würde da enden, wo es seinen Anfang nahm: in der Einsamkeit des unerfüllten Lebens.

© Michael Szyszka