Kategorie: 2025

Das wird kein gutes Ende nehmen

Friedrich Merz gilt als Macher und harter Knochen. In Wahrheit war er die größte Zeit seines Berufslebens damit beschäftigt, anderen gefällig zu sein. Das hat abgefärbt

Am Ende bleibt das Genderverbot. Das hat die CDU auf den Weg gebracht, um zu zeigen, dass sie nun im Kanzleramt sitzt. Dafür hat die Kraft gereicht.

Künftig sind alle Angestellten von Kulturinstitutionen angehalten, im offiziellen Schriftverkehr zur zweigeschlechtlichen Anrede zurückzukehren. So hat es Kulturstaatsminister Wolfram Weimer verfügt. Wobei, so ein richtiges Genderverbot ist es nicht, eher ein Appell. Wenn die Museumsdirektorin in Wuppertal weiterhin den Genderstern benutzt, was will der Kulturstaatsminister unternehmen? Ihr den Stern persönlich aus allen Schreiben herausstreichen?

Ah ja, und die Flagge der LGBT-Bewegung kommt nur noch einmal im Jahr auf das Dach des Reichstags. Das hat die tapfere Julia Klöckner so angeordnet, gegen den erbitterten Widerstand von „Süddeutsche“ und „Zeit“. Aber ansonsten?

„Links ist vorbei“ – das war die Ankündigung von Friedrich Merz zum Wahlsonntag. Deswegen wurde er mit großem Abstand vor seinem Konkurrenten von der SPD gewählt. In Wahrheit läuft alles weiter wie gehabt, nur die Geschwindigkeit hat sich geändert. Das Geld für den deutschen Sozialstaat fließt jetzt einfach doppelt so schnell.

Der „Spiegel“-Kollege René Pfister hat kürzlich an den berühmten Ausspruch von Barack Obama erinnert, mit dem dieser auf die Empörung gegen seine Gesundheitsreform reagierte: „Elections have consequences“ – Wahlen haben Folgen. Wer die Mehrheit einbüßt, muss damit leben, dass er nicht mehr das Sagen hat. Aber genau das Prinzip ist in Deutschland auf den Kopf gestellt.

Das Unglück der Union ist, dass sie an einen Partner gekettet ist, der die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen will. Nominell ist das linke Lager stark zusammengeschnurrt. Legt man aktuelle Umfragen zugrunde, kommen SPD, Grüne und Linkspartei gerade mal auf 37 Prozent der Wählerstimmen. Aber die Sozialdemokraten tun einfach so, als säßen sie noch immer im Kanzleramt.

Das Symbol für diese Wirklichkeitsverweigerung ist der Heckmeck um den Fraktionssaal. Bis heute weigert sich die SPD, ihren Sitzungssaal im Bundestag zu räumen. Der Saal sei schließlich nach dem Antifaschisten Otto Wels benannt, heißt es zur Begründung. Niemand könne der SPD zumuten, ihn ausgerechnet für die AfD zu räumen.

Alles daran ist illusionär. Der Saal heißt nur in der Einbildung der Sozialdemokraten Otto-Wels-Saal. Als die Linkspartei dort saß, war er nach der linken Säulenheiligen Clara Zetkin benannt. Wenn man in den Raumplan des Bundestags schaut, steht da die schnöde Bezeichnung S 001.

Die Reihen der SPD-Fraktion sind so stark gelichtet, dass jeder Abgeordnete sein ganzes Büro samt Haustieren mitbringen kann. Dafür platzt jetzt der Sitzungssaal der AfD-Fraktion aus allen Nähten, weil sie um das Doppelte gewachsen ist. Mich wundert, dass die Feuerwehr nicht einschreitet. Eigentlich müssten Zusammenkünfte der AfD schon aus feuerpolizeilichen Gründen untersagt werden.

Normalerweise würde man den Genossen sagen: Holt euch Hilfe. Macht ’ne Therapie oder nehmt etwas, was euch runterholt. Aber um Gottes willen, haltet euch von Posten fern, auf denen ihr über die Geschicke des Landes bestimmt. Wer im Traumreich lebt, darf in Deutschland nicht mal ein Auto besteigen, ohne dass ihn die Packungsbeilage verwarnt. Doch nach Lage der Dinge ist Therapie keine Option. Wenn die SPD ausfällt, bleibt zum Regieren nur die AfD. Und das will keiner.

Dummerweise werden die Sozialdemokraten in ihrer Realitätsflucht von vielen Presseorganen bestärkt, die ebenfalls so tun, als habe es den Wahltag nie gegeben. Was die SPD vorschlägt, gilt als grundvernünftig. Was die CDU anregt, ist Ausdruck eines Kulturkampfes. Der Kollege Pfister hat das sehr schön auf den Punkt gebracht, als er schrieb, dass sich die Linke angewöhnt habe, die eigenen Anliegen für alternativlos zu halten. Kulturkämpfer sind immer die andern.

Wenn wenigstens auf den Kanzler Verlass wäre. Dann könnte man sagen: Sei’s drum. Merz umgibt der Nimbus des Machers und harten Knochens, aber nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. In Wirklichkeit hat er die letzten 15 Jahre seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen damit verdient, anderen die Tür aufzuhalten.

Wikipedia führt ihn etwas hochtrabend als Wirtschaftsanwalt. Nach allem, was man weiß, war Merz ein mittelmäßig erfolgreicher Lobbyist, der den Ruf zu versilbern wusste, in Berlin die richtigen Leute zu kennen. Unternehmensführer sind erstaunlich naiv, was das politische Geschäft angeht. Politik ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb kommt man als Berater schon mit relativ wenig Erfahrung durch.

Merz stammt aus einer Welt, in der grundsätzlich der Recht hat, der die Rechnung bezahlt. In den vergangenen Jahren war das Larry Fink, der Chef von Blackrock. Unverrückbare Grundsätze? Werte, die den Tag überdauern? In Firmenbroschüren stellt man das gerne aus, aber im Tagesgeschäft zählt das nicht die Bohne. Wenn 70 Prozent der Deutschen ein Ende von Waffenlieferungen wünschen, die ohnehin nur auf dem Papier existieren, wäre man doch verrückt, ihnen diesen Wunsch abzuschlagen, nicht wahr?

Dass Merz als konservativ gilt, verdankt er den Auftritten, in denen er sich schnell in Rage redete, und dem Urteil seiner Gegner. Verheiratet, drei Kinder, nicht geschieden und dann noch aus der Provinz: Das reicht heute schon, um als rechter Hardliner durchzugehen.

Eine überraschende Volte ist, dass der Politiker Merz jedes Gespür für die Stimmung im eigenen Laden vermissen lässt. Das ist die eigentliche Pointe: Ausgerechnet der Mann, der seine politische Spätkarriere darauf begründete, den Ausverkauf der Werte und Prinzipien zu stoppen, räumt beim ersten Gegenwind alles ab, was von der CDU noch übrig ist. Finanzielle Solidität? Mehr Eigenverantwortung statt Bevormundung? Solidarität mit Israel? Wenn man Pech hat, ist schon eine Nachtsitzung später davon nichts mehr übrig.

Das ist die Kehrseite des Opportunismus der Wirtschaftswelt: Wer ganz oben ist, bestimmt, wo es langgeht. Da reicht ein Stirnrunzeln, damit alle springen. Jetzt ist Merz ganz oben. Also macht er den Larry Fink. So hat er es gelernt.

Dummerweise funktioniert eine Fraktion nicht wie ein Unternehmen und ein Parteivorstand nicht wie ein Aufsichtsrat. Im Zweifel trifft man hier auf sehr eigenwillige Charaktere, die nicht einsehen, weshalb sie spuren sollen, nur weil Chefe es so will. Einem kleinen Staatssekretär kann man einen gewaltigen Schreck einjagen, indem man ihn böse anguckt, das ist wie bei Blackrock. Aber ein direkt gewählter Abgeordneter oder Ministerpräsident winkt müde ab, wenn man ihm drohen will.

Wohin das führt? Bislang hält die Angst vor dem Scheitern die Leute in der Union zusammen. Man sollte die Angst allerdings nicht überschätzen. Menschen agieren weniger strategisch, als man meinen sollte. Schlimmer geht immer, wäre meine Lehre aus 35 Jahren Politikbeobachtung. Wenn der Frust überhandnimmt, rückt alles in den Hintergrund, auch der Blick auf den Tag danach.

 

© Silke Werzinger

»Du kannst dich online bewerben«

Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass. Das ist eine schöne Geste des Sozialstaats. Aber es ist nicht das, was man den Leuten versprochen hat, als man sie über die Vorzüge der Einwanderung belehrte

Deutschland ist ein großzügiges Land. Es ist so großzügig, dass es Zuwanderern aus dem Ausland nicht nur erklärt, wie man einen Job ergattert, sondern auch gleich, wie man ohne Arbeit in Deutschland über die Runden kommt. „Citizen’s benefit (Bürgergeld) for People from Abroad“ heißt eine Seite der Bundesagentur für Arbeit, auf der Interessenten über die Möglichkeit des staatlich finanzierten Lebens aufgeklärt werden.

Damit niemand auf die irrige Idee kommt, Bürgergeld sei nur etwas für Menschen, die zu alt oder zu krank zum Arbeiten sind, strahlt einen von der Seite ein junges Pärchen an, das so aussieht, als ob es mühelos eine Beschäftigung fände. Links ein junger Mann Anfang dreißig mit einem grün eingebundenen Buch in der Hand; neben ihm eine junge Frau mit Hijab, die ebenfalls nicht so wirkt, als ob sie auf den Kopf gefallen wäre.

Besucher der Webseite erfahren nicht nur alles über die Bedingungen für ein Leben auf Stütze („Du bist arbeitsfähig“, „Du bist mindestens 15 Jahre“, „Du hast deinen Lebensmittelpunkt in Deutschland“). Die Agentur gibt auch hilfreiche Tipps, die sie mit einer kleinen Glühbirne versehen hat, damit der Leser sie nicht übersieht: „Gut zu wissen: Wenn du Bürgergeld erhältst, bist du automatisch im System der gesetzlichen Gesundheits- und Pflegeversicherung eingeschrieben.“ Hand aufs Herz, wer könnte da Nein sagen?

Bürgernähe wird bei der Agentur für Arbeit überhaupt großgeschrieben. Deshalb findet sich am Ende der Seite ein rot markiertes Feld, das man nur anklicken muss, um sich unbürokratisch für die Transferleistung registrieren zu lassen. „Du kannst dich online bewerben“, heißt es dort, so als handele es sich beim Bürgergeld um einen Sprachkurs oder ein Fortbildungsprogramm für Hochbegabte. „Wenn du bereits einen Account besitzt, logge dich bitte mit deinem Accountnamen ein. Du kannst dann augenblicklich mit der Bewerbung beginnen.“

Ich weiß nicht, ob es viele Länder gibt, die so stolz ihr Sozialsystem bewerben. Ich habe nicht die Probe aufs Exempel gemacht. Aber ich bezweifle, dass man in den Vereinigten Staaten oder in Kanada Einwanderern in den leuchtendsten Farben die Vorzüge des Wohlfahrtsstaats ausmalt.

Gemessen an den Zugangszahlen ist die Werbekampagne der Agentur für Arbeit ein voller Erfolg. Gut die Hälfte der Bürgergeldbezieher hat inzwischen einen ausländischen Pass. Das steht zwar in krassem Widerspruch zum Talkshow-Mantra, wonach wir Einwanderung bräuchten, um unsere Sozialsysteme am Laufen zu halten. Aber kaum jemand in der Politik scheint sich daran zu stören. Beziehungsweise: Das Sozialsystem wird am Laufen gehalten, nur ganz anders, als es von seinen Architekten in Aussicht gestellt wurde.

Man sieht den Erfolg auch bei den Kosten. Allen Ankündigungen zum Trotz sind die Ausgaben in den vergangenen Jahren laufend gestiegen, von 39 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 43 Milliarden in 2023 und dann 47 Milliarden in 2024. Der Bundeskanzler hat angekündigt, die Bürgergeldkosten zu senken. Aber ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass daraus nichts folgen wird.

Und das sind nur die offiziell ausgewiesenen Zahlen. Daneben gibt es ja noch die Kosten für Unterbringung und medizinische Versorgung, die nirgendwo so richtig auftauchen. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken hat neulich einen Vorstoß gemacht, die Leistungen für Bürgergeldempfänger aus dem Etat der Krankenkassen herauszunehmen. Dass die Krankenkassenbeiträge ebenfalls dramatisch steigen, liegt auch daran, dass immer mehr Leute beim Arzt vorsprechen, die selbst keine Beiträge zahlen.

Warken hat vorgeschlagen, die Behandlungskosten künftig aus Steuereinnahmen zu decken. Aber nichts fürchten die Bürgergeld-Advokaten so sehr wie Transparenz. Solange die Kosten im allgemeinen Gesundheitsbudget untergehen, gibt’s auch keine politische Diskussion. Nicht auszudenken, wenn zutage träte, wie viele Milliarden allein die Zahnbehandlung kostet. Das möchte man dann doch lieber vermeiden.

Hin und wieder kommen die Probleme an die Oberfläche, so wie Blasen in einem großen Teich. Vor ein paar Tagen trat der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit einem Notruf auf. Die Kommunen befänden sich im freien Fall. Auf die Frage, weshalb die Lage so desolat sei, nannte er zwei Gründe: steigende Personalkosten (plus acht Milliarden) und wachsende Sozialausgaben (plus neun Milliarden).

Frage der „FAZ“: „Gibt es einzelne Posten, die besonders auffällig sind?“ Antwort: „Wir hatten die Anpassung der Regelsätze in der Sozialhilfe und im Bürgergeld, außerdem sind mehr Menschen in den Leistungsbezug gekommen.“

Jeder Stadtkämmerer kann einem vorrechnen, was das bedeutet. Weil die Kommunen immer mehr für Personal und Sozialleistungen ausgeben, muss an anderer Stelle gespart werden – beim Bus, beim Freibad, beim Sport, beim Theater. Das bekommen auch die Bürger mit, die nicht von Sozialtransfers leben, sondern die Chose über ihre Steuern am Laufen halten. Entsprechend ist die Stimmung. Und im Augenblick ist die Wirtschaftslage noch so, dass überall händeringend Leute gesucht werden, die mit anpacken. Man mag sich nicht ausmalen, wie die Lage erst aussieht, wenn die Zahl der Arbeitslosen mal wieder bei fünf Millionen steht.

Der Ort, der am weitesten von der Realität entfernt liegt, ist das Willy-Brandt-Haus. Dort hat man sich entschieden, die Wirklichkeit für etwas zu halten, dem man am besten mit Verdrängung und Beschwörung beikommt. Ich würde sagen, das ist schon bei der Ampel gründlich schiefgegangen. Aber das sieht man in der SPD-Zentrale anders.

Dort hat man den Eindruck, wenn man dabei geblieben wäre, die Probleme zu leugnen, wäre man noch immer im Amt. Deshalb hat Lars Klingbeil die Parole ausgegeben, dass beim Bürgergeld alles beim Alten bleiben soll. Man dürfe nicht auf dem Rücken von Menschen sparen, die gerade hier angekommen seien, wie er sich ausdrückte.

Auch so untergräbt man das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Man verspricht den Menschen, dass sie von Einwanderung profitieren werden, und dann präsentiert man ihnen eine Rechnung, die allen Ankündigungen Hohn spricht.

Die neue Regierung hat das größte Schuldenprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht. Trotzdem fehlt überall das Geld, weil die Ausgaben noch schneller steigen als die Schulden. Ich will nicht unken. Aber der Weg in den Untergang begann schon einmal mit der Zerrüttung der Staatsfinanzen. Wenn der Bürger den Eindruck hat, dass Solidität nichts mehr zählt, dann wählt er irgendwann auch unsolide. Das gilt zumal, wenn an der Spitze Leute stehen, die eben noch für sich in Anspruch nahmen, der Garant für Seriosität und Verlässlichkeit zu sein.

Dass Sozialdemokraten nicht mit dem Geld auskommen, das sie anderen abnehmen: geschenkt. Das ist bekannt. Aber dass auch auf Konservative kein Verlass mehr ist, das könnte der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

© Silke Werzinger

»Seht euch vor!«

In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffengewalt außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen. Das ist das Ziel der Leute, die jede Woche Hassgesänge anstimmen

Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule in München besucht. Wenn Sie sich fragen, weshalb der Bub auf einer jüdischen Schule gelandet ist: Wir brauchten eine Ganztagsschule, und von denen gibt es im Umland von München nicht so viele. Dann fragte mich eine Freundin, ob ich schon mal über die Sinai-Grundschule nachgedacht hätte, die könne sie sehr empfehlen.

Wir haben die Entscheidung nie bereut. Es gibt durch die Bank großartige, den Kindern zugewandte Lehrer. Keine Klasse hat mehr als 20 Schüler. Und die Klassengemeinschaft ist so, wie man sich eine Klassengemeinschaft wünscht. Ich habe nicht nachgefragt, wie viele der Mitschüler nicht jüdischen Glaubens sind, aber es hat auch nie eine Rolle gespielt.

Es gibt ein paar Besonderheiten, das muss man wissen. Die Kinder lernen von der ersten Klasse an außer Deutsch und Englisch Hebräisch. Zweimal am Tag wird gebetet, die Jungs mit Kippa, und das Essen ist selbstverständlich koscher.

Ach so, noch eine Sache unterscheidet sich von jeder anderen Schule in Deutschland: Der Schulbesuch ist nur unter Polizeischutz möglich.

Schon vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Hamas Israel den Krieg erklärte, stand immer ein Polizeiwagen in Sichtweite. Seitdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal deutlich erhöht. Wenn die Kinder einen Ausflug machen, und sei es nur zu einem Museumsbesuch oder einem Sportfest, sind bewaffnete Sicherheitsleute dabei. Als es im Herbst auf das Oktoberfest gehen sollte, wurde der Klassenausflug kurzfristig abgesagt: Zu gefährlich, hieß es. Zweimal im Jahr wird der Ernstfall geprobt. Dann lernen die Kinder, sich zu verstecken.

Es ist viel über die schwierige Lage der Muslime die Rede. Aber ich glaube, es gibt kein einziges muslimisches Kind in Deutschland, das die Schule nur unter Aufsicht von Polizisten mit Maschinenpistole im Arm betreten kann – und das aus einem einzigen Grund: weil es muslimisch ist.

Es sind übrigens auch nicht irgendwelche Glatzen, vor denen man sich vorsieht, oder die AfD. Es sind die Leute, die auf deutschen Straßen ungehindert ihren Hass auf Israel und die Juden herausplärren dürfen und von denen man nicht weiß, ob nicht der eine oder andere auf die Idee kommt, den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Ich schildere das so genau, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass vielen nicht klar ist, welche Folgen es hat, wenn man alles an Israelhass zulässt. Ich bin normalerweise vorsichtig, von Worten auf Taten zu schließen. Aber es wäre weltfremd anzunehmen, dass es keinen Einfluss hat, wenn der Vorsitzende der Linkspartei die Israelis als „Hungermörder“ bezeichnet und dem Land die Durchführung eines „Genozids“ unterstellt wird.

Manche mögen einwenden, dass sich die Kritik ja gegen Israel richte und nicht gegen die hier lebenden Juden. Dummerweise wird der Unterschied im Alltag oft nicht näher beachtet.

Deshalb sind die antisemitischen Straftaten auf einem Rekordhoch. Und deshalb findet die Besatzung eines spanischen Ferienfliegers auch nichts dabei, die Teilnehmer eines jüdischen Ferienlagers als Repräsentanten eines Terrorstaates zu identifizieren und aus dem Flugzeug zu werfen. Wo wir schon dabei sind: Begeht Israel einen Völkermord in Gaza? Der amerikanische Journalist Bret Stephens hat dazu in einem sehr lesenswerten Kommentar in der „New York Times“ das Nötige gesagt.

Gesetzt den Fall, Israel wollte das palästinensische Volk vernichten – und das ist die UN-Definition eines Genozids: die Auslöschung einer Volksgruppe aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zusammensetzung –, warum ist die Zahl der Toten nicht höher, fragt Stephens. Die Möglichkeit, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, hätten die Israelis. Wer wollte sie hindern? Aber statt alles Leben zu beseitigen, halten sie sich mit Verhandlungen über Hilfslieferungen auf.

Dass man links der Mitte so versessen darauf ist, das Wort Genozid zu benutzen, hat einen einfachen Grund. Man will endlich gleichziehen. Es ist eine irre Pointe, dass die linken Enkel vollenden, wovon ihr Wehrmachtsopa immer geträumt hat, die Befreiung Deutschlands vom „Schuldkult“. Darum geht es ja in Wahrheit: Israel und Nazideutschland auf eine Stufe stellen, um endlich wieder fröhlich heraus sagen zu können, was man von den Juden hält.

Im Augenblick wird darüber gestritten, ob die Bundesregierung eine Erklärung unterschreiben soll, in der Israel als Aggressor markiert wird. Im Prinzip kann uns das egal sein. Wenn der Kanzler seine Ohnmacht demonstrieren will, indem er seinen Namen unter einen Appell setzt, der völlig folgenlos bleiben wird – soll er es tun. Ich bin dennoch dagegen, weil die Unterschrift eine Auswirkung hätte: Sie würde das Leben der hier lebenden Juden weiter verschlechtern.

Die Unterschrift ist eine Trophäe. Sie wird von den Leuten als Bestätigung gesehen werden, die Israel als Terrorstaat bezeichnen. Deshalb sind sie so dahinter her, dass auch der Name von Friedrich Merz unter der Erklärung steht.

Ich glaube, den meisten Bundesbürgern ist nicht bewusst, dass sich nach wie vor sechs deutsche Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Wer wollte es ihnen verdenken? Es ist ja auch so gut wie nie von den Geiseln die Rede. Sie kommen weder in den Ansprachen des Bundeskanzlers vor noch in Berichten aus dem Kriegsgebiet.

Sie heißen Alon Ohel, Itay Chen, Gali und Ziv Berman, Rom Braslavski, Tamir Nimrodi. Kennt Herr Wadephul ihre Nahmen? Sind sie den Diplomaten im Auswärtigen Amt bekannt, von denen es heißt, sie wollten eine entschiedenere Verurteilung Israels?

Vor zwei Wochen haben sie vor der Schule meines Sohnes demonstriert. Weil die Stadt nicht aufgepasst hatte, führte der Weg des Bündnisses „Palästina Spricht“ an der Synagoge vorbei, die neben der Schule liegt. Auf der Demo trat ein Genosse Aboud auf, der erst alle Synagogenbesucher als „Faschistenfreunde“ bezeichnete und dann die Berichte über das Leid der Geiseln als „Lüge“. Selbstverständlich war die Route von den Demonstranten nicht zufällig gewählt, so wie es auch kein Zufall war, dass die Demo pünktlich zum Freitagsgebet stattfand.

Weil wir in München sind und nicht in Berlin, fanden sich sofort Münchner Bürger ein, um sich schützend vor das Gebetshaus zu stellen. Aber die Botschaft der Demonstranten war klar. Seht euch vor! Niemand ist sicher, nicht mal am Münchner Sankt-Jakobs-Platz.

Es geht um Einschüchterung, das ist das Ziel. In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffen außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen.

Manche Menschen werfen mir vor, nicht unbefangen zu sein. Das stimmt. Was das Existenzrecht der Juden in Deutschland angeht, bin ich nicht unbefangen. Ich glaube allerdings, das hat weniger mit der Tatsache zu tun, dass mein Sohn eine jüdische Schule besucht, sondern eher mit meiner sozialdemokratischen Erziehung.

Wenn es etwas gab, was mir von klein auf beigebracht wurde, dann, dass Deutschland dafür Sorge zu tragen hat, dass jüdische Menschen bei uns nie wieder Angst um ihr Leben haben müssen. Nennen Sie mich einen unverbesserlichen Linken, aber das gilt für mich bis heute.

© Sören Kunz

Plötzlich scheinen die Rechten cooler als die Linken

Eine Politikerin darf nicht zu Wort kommen, weil man jeden Satz so fürchtet, dass er sofort übertönt werden muss – lässt sich ein größeres Eingeständnis der Hilflosigkeit denken?

Wie muss man sich den gemeinen CDU-Abgeordneten vorstellen? Wenn man der stellvertretenden „Spiegel“-Chefredakteurin Melanie Amann glauben darf, dann so: als zitterndes Affektbündel, das seine Stichworte von rechts außen bezieht, unfähig zu einem eigenständigen Gedanken oder einer echten Gewissensregung, getrieben von der Angst vor populistischen Einpeitschern.

Wenn sie bei der Union über Migration, Bürgergeld oder neue Verfassungsrichter abstimmen: Es sind die „rechten Hetzportale“, die den Takt bestimmen. „Sie haben in Unionskreisen eine beängstigende Reichweite, und gegen ihre Propaganda fruchtet kein Argument. Diese Woche waren sie nicht nur wirkmächtiger als seriöse Medien, sie haben de facto die Unionsfraktion regiert.“ So stand es vor ein paar Tagen in einem „Morning Briefing“, so stand es mehr oder weniger offen auch in einem Leitartikel. Die Idee, dass CDU-Abgeordnete aus freien Stücken oder innerer Überzeugung handeln könnten? Für Frau Amann offenbar ausgeschlossen.

Von Charaktermasken sprach die RAF verächtlich, so drückt man sich heute nicht mehr aus. Aber gemeint ist Ähnliches. Auch deshalb hat der Fall Brosius-Gersdorf für die Linke solche Bedeutung. Er gilt als der Beweis für den Einfluss rechter Plattformen – oder wie es Lars Klingbeil ausdrückt: die Macht rechter Netzwerke.

Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft mir in den vergangenen Tagen das Schaubild eines grünen Thinktanks präsentiert wurde, wie man bei „Apollo News“, „Nius“ und „Tichys Einblick“ Stimmung gegen die Richterkandidatin macht. Umgekehrt liegt hier auch der Grund, weshalb unbedingt an Frauke Brosius-Gersdorf festgehalten werden muss. Würde man die Kandidatur zurückziehen, hätte man dem Druck der rechten Netzwerke ja nachgegeben.

Dass sie auch links der Mitte bei der Verschwörungstheorie angekommen sind, zeigt das Ausmaß der Verzweiflung. Wer sich die Welt nur noch als Ergebnis einer rechten Kampagne erklären kann, ist mit seinem Latein am Ende. Tatsächlich ist es wie so oft, wenn ein Thema hochkocht: Zum Schluss sind alle möglichen Leute beteiligt. Aber von der Beteiligung zur Anstiftung ist es ein großer Schritt.

Wo man überall nur noch Verschwörer sieht, neigt man zu Überreaktionen, auch das ist nahezu unvermeidlich. Wenn es ein Symbolbild gibt für die Hysterie, die das linke Lager erfasst hat, dann ist es der Protest gegen das ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel.

Eine Politikerin, die nicht zu Wort kommen darf, weil man jedes Wort so fürchtet, dass es übertönt werden muss – kann man sich ein größeres Eingeständnis der Hilflosigkeit vorstellen?

Kulturkampf war einmal die Paradedisziplin der Linken. Eine ganze Generation ist in dem Bewusstsein groß geworden, über die flotteren Begriffe, die prägenderen Überschriften und die zündenderen Ideen zu verfügen. Einer der Großmeister, der Theaterintendant Claus Peymann, wurde gerade zu Grabe getragen. Ich habe mich weidlich über ihn und den steuerfinanzierten Revolutionsgestus lustig gemacht, der nur mit ausreichend Staatsknete die Verhältnisse zum Tanzen bringt.

Aber erstens verdanke ich Peymann eine der besten Szenen meines Films „Unter Linken“. Wie er vor laufender Kamera die ihm gereichte Honorarvereinbarung unterschrieb, weil er nichts ohne Subvention machte, auch kein Interview mit „Spiegel TV“, ist wahnsinnig komisch.

Außerdem musste ich immer neidvoll anerkennen, dass Peymann in all seiner Großsprecher- und Angeberei eine Grandezza und Coolness besaß, von der die TikTok-Epigonen nur träumen können. Schaut man sich bei den Nachfolgern um, entdeckt man vor allem Angst und Langeweile. Wenn dort einer aus der Reihe tanzt, dann aus Versehen.

Ich komme aus dem goldenen Jahrzehnt der Theorie. Ich weiß noch, wie glitzernd und verführerisch die Linke sein konnte. Als ich die Uni besuchte, stand die Franzosenlehre hoch im Kurs. Michel Foucault, Jacques Derrida, Luce Irigaray, dazu natürlich ein strukturalistisch aufgebürsteter Marx. Auch wenn ich nur die Hälfte verstand, fühlte ich mich doch als Eingeweihter. Keine Ahnung, was die Juso-Anführer so lesen. Aber ich fürchte, wenn man ihnen mit dem Überbau kommt, schlagen sie einem als Erwiderung das Berliner Enteignungsgesetz um die Ohren.

Der für die Grünen zuständige „Zeit“-Redakteur Robert Pausch hat neulich in einem längeren Artikel festgehalten, dass die interessantesten Debatten heute bei der Rechten stattfinden würden. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war ein Rededuell, das sich das Verlegerpaar Götz Kubitschek und Ellen Kositza mit dem AfD-Auf- und Anrührer Maximilian Krah zum Begriff „Remigration“ geliefert hatte.

Der Text von Pausch (Kernsatz: „Die radikale Rechte ist heute der Ort, an dem am lebhaftesten über Politik diskutiert wird“) hat für einige Furore gesorgt. Im eigenen Blatt wurde Pausch sofort getadelt, er unterschätze die Gefährlichkeit der Bewegung. Aber ich denke, er hat recht. Was Scharfsinn und Belesenheit angeht, steckt einer wie Kubitschek jeden, der bei den Linken den Ton angibt, in die Tasche. Das ist am Ende wie vieles andere auch eine Frage der Bildung.

Die Anhänger von Rot-Grün ziehen sich jetzt auf das Argument zurück, SPD und Grüne seien vielleicht etwas langweilig, aber dafür verlässlich. Wenn man sich die neue SPD-Vorsitzende Bärbel Bas ansieht, fällt es schwer zu widersprechen. Dass von Frau Bas auch nur ein Satz zu erwarten wäre, der über Parteistanzen hinausginge, glauben nicht einmal die treuesten Fans.

Deshalb darf auch in keinem Porträt der Hinweis fehlen, dass sie aus einfachen Verhältnissen stamme. So will man Kritik vorbeugen. Dabei verrät der Satz eine erstaunliche Unkenntnis der einfachen Verhältnisse. Gerade dort, wo man sich einen klaren Blick auf die Dinge bewahrt hat, sprechen viele eine anschauliche und oft auch humorvolle Sprache.

Eine der lustigsten Szenen aus dem Innenleben des Bundestags, die sich im Netz finden lassen, zeigt eine Schulklasse, die bei Alice Weidel für Selfies ansteht, während die Lehrerin verzweifelt zum Aufbruch drängt. Jugendliche haben ein untrügliches Gefühl, wer cool ist und wer nicht. Dagegen kommen weder die Omas gegen Rechts mit ihren Trillerpfeifen an noch der Lärmbus des Zentrums für Politische Schönheit.

Was vielen, die ständig gegen rechts anschreiben, völlig zu entgehen scheint, ist, welch unverhofftes Geschenk sie denjenigen bereiten, die zu verachten sie vorgeben. Wäre ich Julian Reichelt, könnte ich mein Glück nicht fassen. Was kann einem Besseres passieren, als vom „Spiegel“ attestiert zu bekommen, dass man mehr Einfluss besitzt als der „Spiegel“ selbst? Das ist der Ritterschlag.

„Wirkmächtiger als seriöse Medien“? Ich halte das für großen Unsinn. In Wahrheit erreichen Plattformen wie „Nius“ und „Apollo News“ nur diejenigen, die ohnehin überzeugt sind. Aber ich würde das an deren Stelle sofort auf die Werbeplakate schreiben. Und wer weiß: Wenn man es lange genug behauptet, wird es irgendwann sogar wahr.

© Silke Werzinger

Was uns der Fall Brosius-Gersdorf lehrt

Mit dem Votum gegen Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin hätten sich CDU und CSU aus der demokratischen Mitte des Landes verabschiedet, erklärt der grüne Parteichef. Wenn er sich da mal nicht täuscht

Knapp 40 Millionen Deutsche sind Mitglied einer christlichen Kirche, 20 Millionen bei den Katholiken, 18 Millionen bei den Protestanten. Ich glaube, das ist vielen, die über Politik urteilen, nicht klar.

Der vorherrschende Eindruck ist, dass wir in einem durchsäkularisierten Land leben, in dem nur noch ein paar Käuze an so etwas wie Gott glauben. Wenn über die Kirche geschrieben wird, dann über Missbrauchsfälle oder den Einsatz der Kirchenoberen fürs Tempolimit.

Überhaupt herrschen über die Lebensverhältnisse in Deutschland eher irrige Vorstellungen. Wer eine der führenden Zeitungen des Landes aufschlägt, muss zu dem Schluss kommen, dass die Mehrheit der Deutschen mit dem Gedanken an den drohenden Klimatod aufwacht und sich dann fragt, wie sie sich so ausdrücken können, dass sich niemand zurückgesetzt oder beleidigt fühlt.

Der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der über ihn berichtet wird, lebt der Durchschnittsbürger in ergrünter Innenstadtlage auf gewachster Altbaudiele, wo man schon deshalb über den Autowahn der Deutschen den Kopf schüttelt, weil der Stellplatz vor der Tür der radgerechten Stadt zum Opfer gefallen ist.

Das ist nur nicht die Realität in Deutschland. Die Realität ist: In Großstädten, also Städten mit mehr als 400 000 Einwohnern, leben lediglich 17 Prozent der Deutschen – was möglicherweise erklärt, warum der Bundeskanzler Friedrich Merz und nicht Robert Habeck heißt. Jeder zweite Deutsche ist Mitglied in einem Verein, obwohl das Vereinswesen als Inbegriff der Spießigkeit gilt. 70 Prozent der Kinder kommen nach wie vor in einer Ehe zur Welt, allem Gerede über die Vorzüge von Patchwork zum Trotz.

Warum ich das schreibe? Weil die Fehlwahrnehmung, was normal ist und was nicht, Folgen hat. Wer nach einer Erklärung sucht, weshalb die Wahl der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf so schrecklich schiefgehen konnte, findet sie in der Verwechslung von Mehrheit und Minderheit.

Der grüne Parteivorsitzende Felix Banaszak ließ sich nach der Verschiebung der Richterwahl zu folgendem Statement hinreißen: „CDU und CSU haben sich heute aus der demokratischen Mitte unseres Landes verabschiedet. Man kann nur hoffen, dass sie den Weg zurückfinden.“ Seine Parteifreundin Renate Künast setzte noch einen drauf, indem sie schrieb: „CDU auf Kurs Abschaffung der Demokratie und des Rechtsstaates.“

Das ist der Stand der Debatte: Wer es nicht übers Herz bringt, eine Frau zu wählen, die die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung für obsolet erklärt und den Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft zu einer reinen Privatsache machen will, hat den demokratischen Rahmen verlassen.

Die CDU habe sich von rechten Influencern in eine Kampagne hineintreiben lassen, lautet jetzt die Lesart im linken Lager. Die Kandidatin sei eine über jeden Zweifel erhabene Juristin, gegen die niemand klaren Verstandes Einwände vorbringen könne. Das ist die Deutung von Leuten, die lange nicht mehr vor die Tür getreten sind, würde ich sagen.

Wer ist die Mitte? Die Mitte fährt Auto, und das ganz konventionell. Sie hört Helene Fischer und schunkelt auch bei „Layla“ ohne schlechtes Gewissen mit. Wenn sie morgens aufsteht, fragt sie nicht als Erstes nach der Work-Life-Balance, sondern sorgt dafür, dass Deutschland einigermaßen funktioniert.

Die Mitte benutzt Worte, für die man beim „Spiegel“ sofort vor die Tür gesetzt wird, und lacht an Stellen, an denen es sich nicht gehört. Sie trägt im Zweifel Tracht, mag Volksmusik und ist bei der freiwilligen Feuerwehr. Kurz: Sie ist so, wie man links der Mitte als Eltern seinen Kindern immer gesagt hat, wie sie nie werden sollen.

Die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner berichtete neulich, wie sich die Reaktionen auf ihren Flaggenerlass unterscheiden. In Berlin herrscht Fassungslosigkeit, dass Klöckner die Regenbogenflagge nur noch einmal im Jahr auf dem Reichstag erlauben will. Im Bundestag gab es dem Vernehmen nach Tränen. Aber sobald Klöckner zu Besuch in ihrer Heimat ist, spielt das Thema keine Rolle. Oder die Leute bestärken sie in ihrer Auffassung, dass die Queer-Bewegung eine politische Bewegung wie andere ist, also nicht schlechter, aber auch nicht besser.

Das Provinzielle stand in Deutschland immer unter Verdacht. Die Provinz gilt als Hort des Betulichen und Beschränkten, Brutgebiet der Intoleranz, die auf alles Fremde mit Ablehnung reagiert. Nicht viel besser steht es um den Ruf des Vororts. Die Reihenhaussiedlung im Grünen ist die Endstation des Mittelschichtspaars mit Nachwuchs, Schauplatz von Nachbarschaftsstreitigkeiten, stillen Ehedramen und Kindesmisshandlung. Wer hier landet, so muss man es verstehen, hat mit seinem Leben abgeschlossen.

Ich würde dagegenhalten, dass wir in Wahrheit ein erstaunlich tolerantes und liberales Land sind. Dafür sprechen alle soziologischen Befunde. Noch die tolerantesten Menschen lassen sich allerdings so weit in die Ecke treiben, dass sie biestig werden. Man muss ihnen nur ständig vorhalten, wie rückständig sie denken.

Der Streit über den Paragrafen 218 ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel, wie weit sich die Berliner Sicht von der Sicht im Lande entfernt hat. Frau Brosius-Gersdorf mag in der rot-grünen Szene ein Star sein. Die meisten finden ihre Position zur Abtreibung fragwürdig oder lehnen sie rundweg ab.

Warum einen Kompromiss aufkündigen, der das Land befriedet hat? Es wird immer Menschen geben, denen der Paragraf 218 zu weit geht – oder eben nicht weit genug. An dem einen Ende der Skala stehen die Lebensschützer, die vor den Beratungsstellen von Pro Familia Mahnwachen abhalten – am anderen Ende befindet sich die „Mein Bauch gehört mir“-Fraktion, die am liebsten Abtreibung bis zur Geburt straffrei stellen würde.

Aber das ist nicht die Mitte, von der Felix Banaszak spricht. Die Mitte findet, dass es sich mit dem Kompromiss, den das Verfassungsgericht fand, leben lässt. Keine Frau, die ihr Kind nicht austragen will, wird dazu gezwungen – gleichzeitig aber erinnert der Paragraf 218 daran, dass wir es vermeiden sollten, menschliches Leben zu beenden.

Zur Wahrheit gehört, dass ein wichtiger Grund für eine Abtreibung heute eine mögliche Behinderung des Kindes ist. Die Pränataldiagnostik ist auf einem Stand, dass selbst kleinste Chromosomenstörungen auffallen. Der Harmony-Test, den auch die Krankenkassen bezahlen, erfasst zuverlässig Trisomie 21, 18 und 13. Das teurere Kingsmore-Panel liefert Hinweise auf mehr als 500 genetische Auffälligkeiten.

Man sieht den Erfolg im Straßenbild. Als ich zur Schule ging, gehörten Kinder mit Downsyndrom zum Alltag, heute sind sie die große Ausnahme. Meine Tochter besucht eine Montessori-Schule. Das gemeinsame Lernen mit behinderten Kindern ist dort Teil des Konzepts. Jedes Mal, wenn ich sie abhole, fällt mir auf, was wir an Selbstverständlichkeit verloren haben.

Es sind übrigens oft Frauen, die in der Kirche verwurzelt sind, die sich gegen eine Abtreibung entscheiden. Man kann den Glauben in Zweifel ziehen. Oder es wie der SPD-Fraktionschef Matthias Miersch empörend finden, wenn sich die Kirche in die Debatte einschaltet. Aber auch Herr Miersch kommt nicht an dem Umstand vorbei, dass viele Menschen, die in der Kirche sind, anders über den Schutz ungeborenen Lebens denken als Menschen, denen der Glaube wenig oder nichts bedeutet.

Am Ende steht Katzenjammer

Die einzige Berufsgruppe, bei der sich jede Kritik verbietet, sind Richter. Was immer sie entscheiden, hat der Bürger klaglos hinzunehmen. Dabei zeigt das Ringen um die Besetzung des Verfassungsgerichts, wie politisch auch Gerichte sind

Eines der zentralen Versprechen der Union ist es, den ungesetzlichen Zustand an den Grenzen zu beenden. Jeden Tag kommen Menschen, die auf Nachfrage nicht einmal sagen können, wie sie heißen oder wie alt sie sind. Beziehungsweise sie zeigen Papiere vor, die zwar Namen und Altersangaben enthalten, sich aber schon bei flüchtigem Augenschein als gefälscht erweisen. Bisher ist die übliche Praxis, diese Menschen erst einmal freundlich ins Land zu bitten, um dann mit ihnen gemeinsam den mühseligen Prozess der Prüfung ihres Asylantrags zu beginnen. Da dieses Verfahren oft Jahre dauert, hat sich ihr Aufenthaltsstatus am Ende allein aufgrund der inzwischen verflossenen Zeit so verfestigt, dass an eine Abschiebung nicht mehr zu denken ist.

Die neue Regierung will das ändern. Deshalb hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt die Grenzpolizei angewiesen, Asylbewerber in das Nachbarland zurückzuweisen, aus dem sie gekommen sind. Er kann sich dabei auf die Verfassung berufen. Wer aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreist, und das sind nach Lage der Dinge alle Länder um Deutschland herum, hat keinen Anspruch auf Asyl. So steht es in Artikel 16a des Grundgesetzes.

Anfang Mai griff die Polizei im Bahnhof von Frankfurt (Oder) drei Somalier auf, die über Polen eingereist waren. Es war ihr dritter Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen. Kurioserweise waren die Flüchtlinge mit jedem Grenzübertritt nicht nur juristisch besser beraten, sondern auch von Mal zu Mal jünger. Der Fall ging vor das Verwaltungsgericht in Berlin, das in einem Eilentscheid die Abschiebung für rechtswidrig erklärte.

Seitdem herrscht große Aufregung. Der Innenminister tat das Urteil als Einzelfall ab, was ihm wiederum den Vorwurf eintrug, geltendes Recht zu brechen. Von einem „gruseligen Rechtsverständnis“ sprach die „Tagesschau“ in einem Kommentar, das Verhalten des Ministers sei „besorgniserregend“. Dass in dem Zusammenhang auch die (grüne) Parteizugehörigkeit des Richters zur Sprache kam, wurde als besonders anstößig empfunden.

Die einzige Berufsgruppe, bei der sich jede Kritik verbietet, ja bei der diese als geradezu staatsgefährdend gilt, ist die Richterschaft. Egal was ein deutscher Richter entscheidet, der Bürger hat es klaglos hinzunehmen. Wer mault oder die Beweggründe hinterfragt, gilt als gefährlicher Querulant, der an den Grundfesten des Gemeinwesens rüttelt.

Wie sich denken lässt, ist auch die Justiz von politischen Moden nicht frei. Es wäre weltfremd anzunehmen, dass Richter mit dem Überstreifen der Robe ihre politischen Überzeugungen ablegen würden. Aber das ist die Fiktion, an die zu glauben die Deutschen aufgefordert sind.

Besagter Verwaltungsrichter in Berlin beispielsweise hat eine Blitzkarriere unter seinem Parteifreund, dem grünen Justizsenator Dirk Behrendt, hingelegt. Behrendt hat sich nicht nur einen Namen wegen eines sehr eigenwilligen Rechtsverständnisses gemacht, sondern auch als besonders eifriger Advokat der linken Sache. Beim Abschied aus dem Amt konnte er sich zu Recht der Grünfärbung der Berliner Justizlandschaft rühmen.

Ich erinnere mich gut an die Kommentare, als vor zwei Jahren in Tel Aviv Tausende auf die Straßen gingen, um gegen die Pläne des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu protestieren, der Politik bei der Richterauswahl Einfluss zu verschaffen. Was Netanjahu in Israel einführen wollte, ist bei uns seit Langem üblich. Kein Verfassungsrichter, den nicht die Parteien nach Karlsruhe entsendet hätten. Und selbstverständlich verbinden sich mit der Ernennung Erwartungen. Wäre es anders, würde über die Auswahl ja nicht so hart gerungen.

Wer das Bundesverfassungsgericht politisiere, der delegitimiere eine der letzten angesehenen demokratischen Institutionen, heißt es auch jetzt wieder von linker Seite. Das ist kurios, denn SPD und Grüne haben mit der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf eine Kandidatin ins Feld geführt, die jedes Klischee der Aktivistin erfüllt, bis hin zum SPD-Doppelnamen. Alles, was in linken und sehr linken Kreisen en vogue ist, findet in ihr eine Befürworterin.

Frau Brosius-Gersdorf hält die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, für „einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss“. Sie befürwortet Frauenquoten auf Wahllisten und widerspricht damit der gängigen Auffassung, wonach Frauen Männer repräsentieren können und Männer Frauen. Sie hielt in der Corona-Epidemie eine Impfpflicht für geboten, würde gerne das Grundgesetz durchgendern und hat auch nichts gegen das Kopftuch im Justizdienst. Selbstverständlich unterstützt sie ein Verbotsverfahren gegen die AfD, wie sie bei „Markus Lanz“ ausführte.

Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder schilderte in einer Anekdote das Sendungsbewusstsein der Kandidatin. Während einer zufälligen Begegnung anlässlich einer Ballnacht in Berlin sei sie von dieser sofort in Beschlag genommen und in eine Diskussion über das Ehegattensplitting verwickelt worden. Alle Versuche, zum Small Talk zurückzukehren, seien gescheitert. „Ich weiß noch, wie befremdlich ich dieses aktivistische Auftreten bei einem feierlichen Anlass fand“, berichtete Schröder.

Dass man über die Justiz Macht ausüben kann, haben die Linken früh begriffen. Deswegen nahmen die Achtundsechziger bei ihrem Marsch durch die Institutionen besonders das Rechtswesen in den Blick. Dafür waren sie sogar bereit, sich den anstrengenden Auswahlverfahren zu unterziehen.

Soll das Volk doch wählen, wen es will. Am Ende entscheidet man am Richtertisch, welche parlamentarischen Beschlüsse Bestand haben und welche nicht. Dann ist der Soli eben doch kein Soli, sondern eine Reichensteuer, das Bürgergeld eine Art Grundeinkommen und die Kontrolle der Grenze ein Verstoß gegen Europarecht.

Am Montagabend empfahl der Wahlausschuss des Bundestags die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf als neuer Verfassungsrichterin. Zuvor hatte schon die CSU beigedreht: In einer Zeit, in der Demokratie von den Rändern unter Druck gerate, brauche es ein Zeichen des Zusammenhalts. Wenn Sie mich fragen, droht der Demokratie eher Gefahr durch Urteile, die sich weit von der Mitte wegbewegen.

Auch die Union hatte ursprünglich einen eigenen Kandidaten, den Verwaltungsrichter Robert Seegmüller. Aber den wollten Sozialdemokraten und Grüne nicht. Seegmüllers Vergehen? Er hatte vor Jahren in einem Interview mal darauf hingewiesen, dass die nationale Rechtslage durchaus Zurückweisungen an der Grenze erlaube. Damit war er raus. Politische Zuspitzung vertrage sich schlecht mit dem hohen Karlsruher Amt, hieß es anschließend in einem Kommentar. Deswegen stand ja nun auch Frau Brosius-Gersdorf auf der Vorschlagsliste.

Es ist wie immer in solchen Fällen: Die Union gibt sofort nach, wenn sie es bei Rot-Grün verlangen. Stößt der eigene Vorschlag auf Skepsis, entschuldigt man sich.

Auf X, wie Twitter heute heißt, habe ich folgenden Eintrag gelesen: „Die CDU hat die Grünen unterschätzt. Die CDU hat die Identitätspolitik unterschätzt. Die CDU hat die Unterwanderung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterschätzt. Die CDU hat die links-grünen NGOs unterschätzt.“

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich den Katzenjammer auszumalen, sollte das Verfassungsgericht in strittigen Fragen zum sozialdemokratischen Regierungspartner halten. Aber das ist ja das Wesen des Katzenjammers: Er kommt immer zu spät.

Die Selbstverstümmelung

»Wie soll man einem Medium vertrauen, dessen eigene Angestellte glauben, dass man gewisse Sichtweisen lieber nicht äußert?« Diese Frage stellte »Zeit«-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Tja

Anlässlich des 75. Geburtstags der „Zeit“ verfasste der Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im Februar 2021 ein leidenschaftliches Plädoyer für die Meinungsfreiheit. Der Text stand unter der Überschrift „Wofür stehen wir?“ und entfaltete auch deshalb Wirkung, weil di Lorenzo, anders als viele erwartet hatten, die Feinde der Freiheit vor allem links der Mitte ausmachte.

Er erinnerte an den Fall einer Food-Kolumnistin, die ihren Job verlor, weil sie als Weiße zwei Frauen mit asiatischen Wurzeln kritisiert hatte. Er nannte den Fall von Donald McNeil, einem allseits anerkannten Wissenschaftsjournalisten, der in einer Diskussion das sogenannte N-Wort benutzt hatte, nicht in böser Absicht, sondern als Zitat, was seine Verfolger aber nicht davon abhielt, ihn so lange zu jagen, bis sie seine Kündigung erreicht hatten. Er zitierte einen Bericht, wonach die Hälfte der bei der „New York Times“ tätigen Journalisten Angst hätten zu schreiben, was sie denken

Der Leitartikel endete mit dem Appell, auch abweichenden Meinungen Platz zu geben. „Wie soll man einem Medium vertrauen, dessen eigene Angestellte glauben, dass man gewisse Sichtweisen lieber nicht äußert?“

In Teilen der „Zeit“-Redaktion rief der Kommentar Bestürzung hervor. Das helle Deutschland vereint im Kampf gegen rechts – und dann schert ausgerechnet der eigene Chefredakteur aus und erklärt die übertriebene Political Correctness zur eigentlichen Gefahr? Das kann ja wohl nicht wahr sein!

Di Lorenzo hatte recht. Und es ist sein eigenes Blatt, das dieser Tage Anschauungsmaterial liefert, wie recht er doch hatte.

Es gibt viele gruselige Wörter. „Depublikation“ steht ganz oben. Am Donnerstagabend vergangener Woche gab die Redaktion bekannt, dass sie eine Kolumne ihres Autors Maxim Biller „depubliziert“ habe. Der Beitrag habe mehrere Formulierungen enthalten, die nicht den Standards der „Zeit“ entsprochen hätten, hieß es in einer knappen Erklärung. „Unsere aufwändige redaktionelle Qualitätssicherung hat leider nicht gegriffen.“

Ich bin seit Langem Abonnent der „Zeit“. Ich gehöre zu denen, die auf das Privileg bestehen, sie am Donnerstag im Briefkasten vorzufinden. Ich habe mir also sofort das Feuilleton gegriffen, und siehe da, da stand der depublizierte Text, 124 Zeilen in schönstem Biller-Deutsch über die merkwürdige Obsession der Deutschen mit Israel. Was bedeutete, dass jeder sein Fett abbekam, angefangen bei Markus Lanz, von dem es hieß, er rolle beim Thema Nahost die Augen wie Elon Musk auf Ketamin.

Die Löschung ist auf vielen Ebenen ein beispielloser Vorgang, auch beispiellos bescheuert. In ihrer Werbung stellt die „Zeit“ gerne die wachsende Auflage heraus. 600 000 Käufer findet die Wochenzeitung jede Woche. Aber offenbar hält das Blatt seine Print-Käufer für altersschwache Zausel, die ohnehin nicht mehr begreifen, was man ihnen vorsetzt. Anders ist es nicht zu verstehen, dass man meint, einen Text erledigt zu haben, wenn man ihn aus der Online-Ausgabe im Netz entfernt.

Auch menschlich ist der Vorgang bodenlos. Biller ist der „Zeit“ seit Jahrzehnten verbunden, sein erster Text erschien 1985. Aber wenn die Verantwortlichen meinen, ihre „aufwändigen Qualitätssicherungen“ seien unterlaufen worden, zählt das nicht. Dann setzt man den Autor in knappen Worten in Kenntnis, dass man einen seiner Texte entfernt hat. Jedes Einwohnermeldeamt verhält sich da rücksichtsvoller.

Wenn man sich unter den Redakteuren umhört, wie es zu diesem Akt der Selbstverstümmelung kommen konnte, verweisen sie auf die Unruhe in Teilen der Redaktion. Es ist wie so oft in solchen Fällen: In den Kommentarspalten versammeln sich die Leute, die umgehend Konsequenzen verlangen. Aber die eigentlichen Heckenschützen sitzen im eigenen Haus.

Die „Zeit“ ist in der Frage, wie viel Meinungsfreiheit sie zulassen soll, tief gespalten. Die Linie verläuft ziemlich genau entlang der neuen und der alten Welt. Die Vertreter einer robusten Meinungsfreiheit, die im Zweifel auch Texte einschließt, die übers Ziel hinausschießen, finden sich vor allem in der Printredaktion. Die eher aktivistisch gesinnte Fraktion, die bei jedem Artikel zuerst die Frage stellt, wem er nutzt, trifft man hingegen mehrheitlich bei den Onlinern. So gesehen handelt es sich bei der Biller-Abstrafung auch um eine Machtdemonstration des zum Co-Chefredakteur aufgestiegenen Online-Chefs Jochen Wegner.

Die Trennlinie geht durch viele Redaktionen. Ich erinnere mich gut an eine der ersten Konferenzen beim „Spiegel“ nach der Zusammenlegung von Print und Online. Greta Thunberg stand damals noch am Anfang ihrer Karriere, ihr Talent war aber schon ersichtlich.

„Haben wir etwas zu Thunberg im Heft?“, fragte einer der Ressortleiter in die Runde. „Ich glaube, Fleischhauer macht etwas dazu in seiner Kolumne“, antwortete der Chefredakteur. Worauf
jemand in einer der hinteren Reihen, wo die Online-Kollegen Platz genommen hatten, Würgegeräusche imitierte. Diesen Umgangston kannte man bislang beim „Spiegel“ nicht. Auf seine hanseatische Contenance war man an der Ericusspitze immer stolz gewesen, auf die hanseatische Liberalität auch.

Wenn man einmal auf dem Weg nach unten ist, rutscht man irgendwann immer schneller. Auf die Depublikationsnotiz folgte die Erklärung einer Verlagssprecherin, man halte einige Formulierungen in der Biller-Kolumne für „nicht vertretbar“. Man hätte zu gern gewusst, über welche Expertise die Sprecherin verfügt, um sagen zu können, wo die sprachliche Zurechnungsfähigkeit bei einem der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren endet.

Wäre ich bei der „Zeit“, ich würde vor Scham ins Grab sinken. Die Tantenhaftigkeit, die behördenhafte Eilfertigkeit und die grandiose Selbstüberschätzung sind jede für sich genommen schlimm – in der Kombination rechtfertigen sie die sofortige Abo-Kündigung. Oder muss man sagen: Abo-Depublikation?

Billers Text sei durchgerutscht, heißt es jetzt aus der Redaktion. Der diensthabende Feuilletonchef habe nicht richtig draufgesehen, was so nie hätte passieren dürfen. Warum eigentlich nicht? Weil es über die Hungerblockade von Gaza heißt, sie sei unmenschlich, aber strategisch richtig? Oder weil in der Form eines Witzes auf das Dilemma des Soldaten hingewiesen wird, der jeden Tag Menschen erschießen muss, da es keinen Staat Israel mehr gäbe, wenn er die Waffe niederlegte?

Es ist nicht die KI oder die Macht der amerikanischen Monopole, die meiner Profession den Garaus macht. Es ist die Angst anzuecken. Wenn man nach einem Grund sucht, warum
immer mehr Leute das Gefühl haben, sie kämen auch ohne Zeitungsabonnement aus, dann liegt er hier.

Man kann es den Lesern nicht verdenken. Was sollen sie von Journalisten halten, die behaupten, sie hätten keine Angst vor den Mächtigen, aber schon wegen eines scharfen Absatzes von den Socken sind? Lasst die Kritiker doch meckern, würde ich sagen. Wenn sie sich aufregen, umso besser. Im Zweifel steht im nächsten Heft eine deftige Replik.

Aber das traut man sich nicht. Dann müsste man ja beweisen, dass man besser und schärfer schreiben kann als der Angegriffene. Dazu sind die meisten nicht in der Lage. Wer jeden Tag mit dem Gedanken aufwacht, was er alles nicht sagen und schreiben darf, ist dann leider ziemlich hilflos, wenn er mal richtig hinlangen soll. Deshalb bleibt als letzter Ausweg nur die Löschung.

Sagen, wie es ist

Wir werden regelmäßig über die Gefahr des antimuslimischen Rassismus belehrt. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, wenn jemand einen Migrationshintergrund hat

In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien Mitte Mai ein unerhörter Text, der bis heute erstaunliche Nachwirkungen zeitigt. Vor wenigen Tagen erst musste die Berliner Schulsenatorin bekennen, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Wäre man nicht in Berlin, würde man an der Eignung der Frau zweifeln.

Der Text schildert das Schicksal des Berliner Lehrers Oziel Inácio-Stech, eines besonders engagierten Pädagogen, wie Kollegen bezeugen. Inácio-Stech unterrichtete an der Carl-Bolle-Grundschule im Berliner Bezirk Moabit Kinder mit besonderem Förderbedarf. Die Carl-Bolle-Grundschule gilt als Brennpunktschule, 95 Prozent der Schüler haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Es war der ausdrückliche Wunsch des Lehrers, an dieser Schule zu unterrichten. Er wollte die Welt ein Stück besser machen, wie er sagt.

Nach allem, was man weiß, war Inácio-Stech bei seinen Schülern anerkannt und beliebt. Das änderte sich schlagartig, als in einer Unterrichtsstunde die Frage aufkam, mit wem er denn verheiratet sei, und er wahrheitsgemäß sagte, mit einem Mann. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Inácio-Stech wurde beschimpft und bedroht. Schüler bezeichneten ihn als Schwuchtel. Er sei eine Familienschande und eine Schande für den Islam. Wohlgemerkt, wir reden nicht von 17-Jährigen, die vor Kraft nicht laufen können, sondern von Fünftklässlern.

Der Bericht war auch deshalb unerhört, weil er mit einem Tabu brach. Eine Reportage über einen schwulen Mann, dem muslimische Kinder das Leben zur Hölle machen? Das ist normalerweise nicht das, was man auf den Seiten der „Süddeutschen“ zu lesen bekommt. Wenn Probleme mit Zuwanderern aus Ländern wie dem Libanon oder Afghanistan geschildert werden, dann in der Regel so, dass man anschließend sagt: Nicht schön, aber die haben’s ja auch nicht leicht.

Der Text enthält eine zweite Geschichte, die beinah noch düsterer ist. Diese Geschichte handelt vom Versagen der Schulleitung. Man sollte meinen, dass der bedrängte Pädagoge sofort Hilfe bekam. Mobbing gilt im Schulalltag gemeinhin als schweres Vergehen. Aber nichts da. Tatsächlich wurde Inácio-Stech alleingelassen.

Mehr noch: Die Schulleitung bezichtigte ihn, Grenzen nicht gewahrt zu haben. Die Schule werde „von überdurchschnittlich vielen Kindern aus traditionellen Elternhäusern“ besucht, erklärte der Personalrat. Er möge sein pädagogisches Konzept bitte der „sozialen Ausgangsvoraussetzung“ an der Carl-Bolle-Grundschule anpassen.

Die Schulaufsicht belehrte ihn „vorsorglich“, dass man von ihm einen „professionellen Umgang mit Schülerinnen und Schülern“ erwarte. Dazu gehöre „die Vermittlung einer offenen und nicht diskriminierenden Weltanschauung“. Das klang so, als seien die Schüler belästigt worden, als ihr Lehrer bekannte, schwul zu sein – und nicht der Lehrer durch die Schüler.

Was bringt eine Schulleitung dazu, sich gegen eine Lehrkraft zu stellen, der erkennbar Unrecht geschah? In jedem Mobbing-Seminar würde man von Täter-Opfer-Umkehr sprechen. Der Fall hat inzwischen auch politische Weiterungen. Auf Nachfrage erklärte die Schulsenatorin, von den Vorgängen nichts gewusst zu haben, gleichlautend äußerte sich ihre Behörde. Ende letzter Woche, als diese Version nicht länger haltbar war, teilte sie in einer „persönlichen Erklärung“ mit, doch informiert gewesen zu sein.

Ich musste an den Fall der Grooming-Gangs denken, der in England hohe Wellen schlägt. In einer Reihe von englischen Kleinstädten konnten pakistanische Männer minderjährigen Mädchen über Jahre ungehindert nachstellen. Die Mädchen, oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wurden mit Drogen gefügig
gemacht und zu sexuellen Handlungen gezwungen. Alle Hinweise auf den systematischen Missbrauch versickerten bei den Behörden oder wurden aus Angst, als rassistisch zu gelten, ignoriert.

Wir werden regelmäßig über die Gefahr eines antimuslimischen Rassismus belehrt. Eine eigene Meldestellen-Infrastruktur ist pausenlos damit beschäftigt, offene und verborgene Diskriminierung aufzuspüren. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, weil jemand über einen Migrationshintergrund verfügt.

Ich glaube, die meisten Menschen sind durchaus in der Lage zu differenzieren. Wenn sie vom Fehlverhalten Einzelner hören, folgt daraus nicht automatisch, dass sie alle in Mithaftung nehmen. Das ist übrigens die Definition von Rassismus: vom Verhalten einiger Missetäter auf die gesamte Gruppe zu schließen.

Aber viele Journalisten trauen ihren Lesern dieses Differenzierungsvermögen nicht zu. Deshalb werden große Anstrengungen unternommen, dem Publikum die Herkunft vorzuenthalten. Das trägt mitunter kuriose Züge. Dann ist vage von einer Hochzeitsgesellschaft die Rede, die mit einem Autokorso die A 8 blockiert habe. Was denken sich die Redakteure, die solche Meldungen absetzen? Dass die Leser nicht eins und eins zusammenzählen können? Unter Deutschstämmigen ist der Autokorso als Ausdruck der Begeisterung eher ungebräuchlich.

Die „Spiegel“-Redakteurin Anna Clauß hat im Februar ebenfalls einen unerhörten Text veröffentlicht. „Neulich überkam es mich wieder. Dieses Unbehagen Migranten gegenüber. Gefolgt von einem Schreck über das plötzlich aufgetauchte rechtskonservative Gedankengut in meinem Kopf“, so fängt der Text an.

Clauß schilderte dann, dass der muslimische Freund ihres Sohnes nicht zum Kindergeburtstag erschienen sei. Seine Eltern hätten es auch nicht für nötig befunden abzusagen. Es folgte eine Beobachtung aus der Kita, wo die Leitung Schweinefleisch vom Speiseplan genommen habe, und das Bekenntnis, konservativer zu denken, seit der Sohn mit Paschasprüchen aus der Grundschule nach Hause komme und der Mutter vorhalte, sie sei „ehrlos“.

Weil wir beim „Spiegel“ sind, endete der Text mit einem Loblied auf die Bereicherung durch fremde Kulturen. Auf der nächsten Redaktionskonferenz war trotzdem die Hölle los. Clauß wurde vorgeworfen, Vorurteile gegen Minderheiten zu befördern. Ein besonders aufgeregter Redakteur verstieg sich zu der Anklage, sie würde das Leben von migrantischen Menschen gefährden.

Ein paar Kollegen versicherten ihr später, sie sähen es wie sie, aber die Botschaft war gesetzt: Wer sich öffentlich so äußert wie Clauß, muss damit rechnen, vor versammelter Mannschaft gekielholt zu werden. Deshalb ist auch im „Spiegel“ so selten von Problemen die Rede, die sich nicht mit einem grünen Sozialprogramm aus der Welt schaffen lassen.

Ich bin sicher, dass viele Leser den inkriminierten Text ganz anders gelesen haben. Sie haben ihn als Bestätigung verstanden, dass sie mit ihrem Blick auf die Welt nicht allein stehen. Das Unbehagen, von dem Clauß schrieb, erfüllt viele Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen.

Was ist zu tun? Mein Vorschlag wäre: sagen, wie es ist. Eine Gesellschaft, die es vorzieht, unangenehme Dinge auszublenden, wahrt oberflächlich den Frieden. Aber das endet wie in jeder dysfunktionalen Familie: Irgendwann kommt das Verdrängte hoch, und dann wird es sehr schnell sehr hässlich.

Man trägt jetzt Palituch

Ist Luisa Neubauer eine Antisemitin? Nein, sie hat nichts gegen Juden im Speziellen. Sie ist einfach gerne auf jeder Party dabei. So wie die meisten, die ihre Solidarität mit Gaza erklären und dabei auch Hardcore-Israel-Hasser umarmen

Wie ernst soll jemand mit 26 Jahren genommen werden? Wie verantwortlich ist man in diesem Alter fürs eigene Handeln?

Die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, hat ein kurzes Video aufgenommen, in dem sie ihre Position zum Krieg in Gaza erklärte. Sie stellte dabei die Familien, die am 7. Oktober 2023 auf bestialische Weise ermordet wurden, auf eine Stufe mit den Opfern des Anti-Terror-Krieges in Gaza. Das Massaker an 1200 jüdischen Männern, Frauen und Kindern bezeichnete sie als „Militäroperation“. Dass die Hamas in Teilen der Linken als antikoloniale Widerstandsbewegung gilt, das wusste man. Dass dies offenbar auch für die Spitze der Grünen Jugend gilt, war neu.

Im linken Kosmos hieß es anschließend entschuldigend, Nietzard sei schließlich noch eine junge Frau, die zudem selbst vielfachen Anfeindungen ausgesetzt sei. „Unerträglich ist es, dass sie schon seit Langem als junge Frau von einem rechten Mob zur Zielscheibe gemacht wird. Sie hat unsere Solidarität!“, schrieb ihr Parteifreund Michael Bloss auf X. Möglicherweise habe ich die neueste Wendung der feministischen Theorieentwicklung verschlafen: Auf mich wirkt der Verweis auf Alter und Geschlecht ziemlich altbacken, um nicht zu sagen antifeministisch. Junge Frau plappert, bis der Arzt kommt – aber da sie eine junge Frau ist, darf man das nicht so ernst nehmen?

Ich hatte eine längere Diskussion mit einem Freund, der meint, der Krieg in Gaza sei für viele Menschen ein Kulminationspunkt. Ich bin da nicht so sicher. In den Medien sind sie alle furchtbar besorgt, das schon. Doch darüber hinaus? Die Mehrheit der Deutschen sieht das Vorgehen der israelischen Armee skeptisch. Über 60 Prozent äußern in Umfragen Kritik. Aber dass nun alle mit den Palästinensern fiebern würden, daran glaube ich nicht.

Die Bürger sind ja nicht blöd. Sie sehen die Leute, die bei uns auf der Straße Bambule machen, und denken sich ihren Teil. Zum Beispiel denken sie sich: Wenn diese Krawallbrüder und -schwestern nur einen Bruchteil der Energie in die Ausbildung ihrer Kinder stecken würden, wäre allen geholfen.

Es ist eher erstaunlich, dass nicht noch mehr Leute die Kriegsführung Israels ablehnen. Wer den Fernseher anmacht oder den „Spiegel“ aufschlägt, muss den Eindruck gewinnen, dass eine wild gewordene Soldateska alles daransetzt, Gaza von der Landkarte zu tilgen.

So gut wie nie liest man, dass die Hamas die Verluste in der Zivilbevölkerung zu maximieren versucht, indem sie sich in Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten versteckt. Es ist auch nie davon die Rede, dass viele Palästinenser Hunger leiden, weil die Hamas einen Gutteil der Hilfslieferungen abzweigt, um sie als Machtmittel einzusetzen. Es ist übrigens auch die Hamas, die eine Waffenruhe ablehnt, und es ist auch die Hamas, die angedroht hat, jeden zu erschießen, der von den Israelis Hilfsgüter annimmt.

Unter Promi-Linken ist Gaza-Solidarität das große Ding, so gesehen hat mein Freund recht. Da werden offene Briefe geschrieben, Petitionen verfasst und Schiffe gechartert. Und von Luisa Neubauer über Kurt Krömer bis Greta Thunberg sind alle dabei.

Ich habe mir die Besatzungsmitglieder der „Madleen“ angesehen, die vergangene Woche von Sizilien aus in See stach, um den Belagerungsring um Gaza zu durchbrechen. Auf vielen Fotos posierte Greta Thunberg neben einem jungen Mann mit Bart, der leicht als Thiago Ávila zu identifizieren war, ein brasilianischer Aktivist, der den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei der Trauerfeier als „geliebten Führer“ würdigte.

Deutschland wiederum war an Bord durch Yasemin Acar vertreten. Ich habe Frau Acar das erste Mal wahrgenommen, als sie Videos postete, wie sie in ihrer
Wohnung vor Freude Veitstänze aufführte, als der Iran zum Schlag gegen Israel ausholte und 200 Raketen über die Grenze schickte.

Wenn es gegen Israel geht, gibt es keine Zurückhaltung mehr. Wenige Stunden bevor die israelische Marine das Schiff stoppte und in den Hafen von Aschdod brachte, setzte Lusia Neubauer einen flammenden Appell an die Bundesregierung ab, sich für Acar einzusetzen. „Weltweit verfolgen Menschen die humanitäre Mission der Madleen auf dem Mittelmeer“, schrieb sie. „Das Team rechnet in diesen Stunden mit allem. Somit liegt es akut auch in der Verantwortung der Bundesregierung, für den Schutz der Crew bzw. Yasemin politisch einzustehen.“

Der „Bild“-Redakteur Filipp Piatov fand dazu den treffenden Kommentar: „Es gibt tatsächlich deutsche Staatsbürger in Not. Sie befinden sich seit mehr als 600 Tagen in Geiselhaft der Hamas.“ Fairerweise muss man sagen: Die Geiseln liefern auch nicht so schöne Bilder wie Thunberg und ihre Freunde. Mit einer instagram-tauglichen Segeljacht im Mittelmeer können sie leider nicht dienen.

Gaza-Betroffenheit ist ein politisches Fashion-Item – so wie der Kampf gegen den Klimawandel oder der Einsatz für mehr Transrechte. Letzte Saison haben sich alle die Regenbogenflagge umgelegt, diese Saison trägt man halt Palituch. Es geht darum, sich im Gespräch zu halten.

Ist Luisa Neubauer eine Antisemitin? Ich bin überzeugt, dass sie nichts speziell gegen Juden hat. Sie ist einfach gerne auf jeder Party dabei. Wenn es angesagt ist, seine Solidarität mit Israel zu zeigen, findet man sie bei der „Nie wieder“-Demo. Wenn Pali-Solidarität hoch im Kurs steht, drückt sie eben Hardcore-Israel-Hasser wie Yasemine Acar ans Herz. In einem anderen Leben hätte sie statt Schutz für Yasemine freies Geleit für Ulrike und Andreas gefordert – und noch früher noch etwas ganz anderes.

Ihre Solidarität hat die Halbwertszeit einer Insta-Story. Und wenn sie unglücklicherweise doch einmal auf dem falschen Fuß erwischt werden sollte, setzt sie eine Entschuldigung ab und sagt, dass sie falsch verstanden wurde.

Auch Jette Nietzard hat sich entschuldigt. Ihr habe nichts fernergelegen, als die Hamas hochleben zu lassen. Hat die Entschuldigung sie dazu verleitet innezuhalten, bevor sie den nächsten Post absetzte? Natürlich nicht. Sie hat einfach ihr Gaza-Soli-Video gleich noch einmal hochgeladen, dieses Mal ohne den Verweis auf die „Militäroperation“ am 7. Oktober. An ihrem Engagement für die palästinensische Sache soll schließlich kein Zweifel aufkommen.

Das Foto der Woche ist für mich das Bild von Greta Thunberg, wie sie bei Ankunft in Aschdod ein abgepacktes Brot und eine Wasserflasche erhält, um sie von den Strapazen der Seereise zu erlösen. Das ist das Bild, das am Ende einer langen Bildergalerie steht: das Foto eines israelischen Soldaten, der ihr freundlich ein Sandwich reicht.

Von den 50 Kilogramm Mehl, die die Freedom Flotilla schnell noch im Supermarkt besorgt hatte, um den Belagerten von Gaza ein symbolisches Geschenk überbringen zu können, hat man hingegen nichts mehr gehört.

Wobei, Selbstkorrektur, das ist nicht ganz richtig. „Israel stoppt Schiff mit Hilfsgütern für Gaza“, lautete die Überschrift der Meldung in der„Tagesschau“. Wenn es um Gaza geht, erneuert sich für die „Tagesschau“ sogar das Pfingstwunder: Dann reichen auch 50 Tüten Mehl zur Speisung der 5000.

© Silke Werzinger

Drei Tage in Wien

Das linke Milieu liebt die radikale Geste. Anstößig sein, wild und unangepasst, das ist das Banner, unter dem man sich zusammenfindet. Aber wenn es mal wirklich radikal wird, rennt man schreiend davon

Ich war drei Tage in Wien, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Der Regisseur Milo Rau hatte mich eingeladen, im Rahmen der Wiener Festwochen an einem seiner „Wiener Kongresse“ teilzunehmen. Der Kongress bestand aus einer Art Gerichtsverfahren, bei dem mehrere Fälle sogenannter Cancel-Culture zur Verhandlung kamen. Meine Rolle war es, als Mitglied einer vierköpfigen Jury die geladenen Zeugen zu vernehmen – eine Aufgabe, wie geschaffen für mich.

Schon der Auftakt endete im Eklat. Zunächst zerdepperte die Schauspielerin Mateja Meded in einem Eingangsstatement das Patriarchat, die katholische Kirche und den Kapitalismus gleich mit. Das fanden alle super. Diese Form der Radikalität ist in der linken Kulturwelt eingeübte Praxis.

Dann betrat der Autor und „Welt“-Herausgeber Ulf Poschardt die Bühne und setzte zu einer Verteidigung Israels und des israelischen Militärs an (Kernsatz: „Benjamin Netanjahu ist mir näher als Milo Rau“). Das fanden alle nicht mehr so super.

„Genozidales Schwein“, schrie eine Frau im Parkett. Andere pfiffen laut und buhten, bevor sie unter Protest den Saal verließen. Ich fand’s klasse. Ich hatte mich auf einen eher anstrengenden Abend eingestellt, und nun war gleich Leben in der Bude. Aber so konnte man das bei der Festivalleitung nicht sehen. Dort ließ man bedröppelt die Köpfe hängen, wie ich von meinem Platz auf der Bühne erkennen konnte.

Das ist das Lustige an der Theaterwelt: Man liebt die radikale Geste. Anstößig sein, wild und unangepasst, das ist das Banner, unter dem man sich zusammenfindet. Aber wenn es wirklich mal radikal wird, rennt man schreiend davon.

Wann ist die Linke so auf den Hund gekommen? Früher hätte man zur Widerrede angesetzt. Oder die Bühne gestürmt, um selbst wilde Parolen zu schmettern. Heute verzieht man sich durch den Nebeneingang, wenn’s brenzlig wird. Da ist jedes bürgerliche Premierenpublikum in Hamburg oder München härter im Nehmen. Dem kann man Bäche von Blut und Sperma vor die Füße kippen, und es verzieht nicht einmal die Mundwinkel.

Cancel-Culture ist in Wahrheit der verzweifelte Versuch, das Wenige zu retten, was noch zu retten ist. Wer nicht mehr auf die Kraft des eigenen Wortes vertrauen kann, greift zu Verboten und Ausschlüssen, um sich oben zu halten. Dann wird nicht diskutiert, sondern befohlen, was als richtig und was als falsch zu gelten hat.

Am Samstag stand der Fall Ulrike Guérot auf der Tagesordnung. Die ehemalige Professorin der Universität Bonn hat sich einen Namen als rabiate Verteidigerin der russischen Aggressionspolitik gemacht. Vorher war sie als Kritikerin der Corona-Politik aufgefallen.

Nach einem Fernsehauftritt kündigte ihr die Universität, allerdings nicht wegen des Auftritts, dazu war man zu feige. Stattdessen wurden Plagiatsvorwürfe ins Feld geführt. Sie habe abgeschrieben und damit die Uni getäuscht, machte die Hochschulleitung geltend.

Der Absturz macht etwas mit den Menschen. Cancel-Culture ist ja mehr als nur der Verlust von Auftrittsmöglichkeiten. Oft geht damit ein Reputationsschaden oder, wie im Fall Guérot, sogar der Verlust des Arbeitsplatzes einher. In jedem Fall markiert der Angriff einen tiefen Einschnitt, von dem sich manche nicht mehr erholen.

Frau Guérot macht es einem nicht leicht. Bevor sie mit ihrer Zeugenaussage dran war, stürmte sie auf mich zu, um mich mit ihren Thesen in Beschlag zu nehmen. Ich zog mich mit der Ausrede aus der Affäre, dass es den Mitgliedern der Jury verboten sei, vor der Verhandlung mit den Zeugen zu sprechen.

Sie ist jetzt die Ikone einer Bewegung, die davon überzeugt ist, dass die Regierung die Menschen hinters Licht führt und jeden mundtot macht, der die Wahrheit sagt. Wichtige Gespräche führt sie im Wald, damit sie nicht abgehört werden kann. So scheint die weitere Entwicklung im Nachhinein allen recht zu geben, die sie loswerden wollten. Aber das ist post ante gedacht. Wer weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn die Uni ihr nicht gekündigt hätte. Eine Festanstellung ist immer auch ein Halteseil in die normale Welt. Wenn man es kappt, führen die Gravitationskräfte Menschen an den Rand.

Im Zuge der Zeugenvernehmungen trat auch der Anführer des Studentenparlaments auf, der mit seiner Resolution das Kündigungsverfahren in Gang gesetzt hatte. Auf meine Nachfrage, was sich Frau Guérot denn aus
seiner Sicht habe zu Schulden kommen lassen, antwortete er, sie habe mit ihren Auftritten den Boden der Wissenschaft verlassen. Ein Studentenparlament, das darüber befindet, ob eine Politikwissenschaftlerin sich mit öffentlichen Äußerungen im Rahmen ihrer Expertise bewegt: Früher hätte man das als Anmaßung verlacht – heute ist das Uni-Alltag.

Es ist die Feigheit der Institutionen, die der Cancel-Culture die Türen öffnet. Irgendwo taucht eine Anschuldigung auf, bei Guérot war es ein Artikel in der „FAZ“, sie habe sich zu freizügig bei Zitaten bedient. Dann machen irgendwelche Studenten mobil. Am Ende heißt es, die Professorin sei untragbar. Ob jemand von der Universitätsleitung vor der Kündigung mal das Gespräch mit ihr gesucht habe, lautete eine Frage an sie. Nicht einmal, antwortete Guérot. Das ist die Spitze der Feigheit.

Handelt es sich um einen Einzelfall? Eher nicht. Zu den eindrucksvollsten Stellungnahmen des dreitägigen Kongresses in Wien gehörte die von Heike Egner, einer Professorin für Humangeografie. Egner hat systematisch Fälle von Professoren zusammengetragen, die entlassen oder degradiert wurden. „Wer stört, muss weg!“ lautet der Titel des Buchs, in dem sie ihre Erkenntnisse versammelt hat.

Ich ging bislang davon aus, dass Professoren besonders geschützt seien. Aber dem scheint nicht so zu sein. Neben angeblichem Fehlverhalten gegenüber Studenten sind es vor allem ideologische Unbotmäßigkeiten, die zum Ausschluss führen. Dass ein Professor heute aufgrund einer Meinungsäußerung mit dem Verlust seines Amtes sanktioniert werden könne, sei eine wirklich besorgniserregende Entwicklung, stellte Egner nüchtern fest. Und sie wies darauf hin, dass es Professoren rechts wie links gleichermaßen treffen kann.

Auch das wird oft übersehen: Cancel-Culture mag in der modernen Form des Ausschlusses eine Erfindung der Linken sein. Aber die andere Seite erweist sich als durchaus lernfähig.

Hinter allem steht als treibende Kraft die Angst. Die Angst, anzuecken oder in dem Milieu, in dem man sich bewegt, scheel angesehen zu werden. Deshalb sah sich auch der Regisseur Milo Rau veranlasst, Poschardt mit 14 Stunden Verspätung in die Schranken zu weisen.

Bevor es am Samstag endlich mit der Verhandlung losgehen konnte, verlas er ein außerplanmäßiges Statement, in dem er das Publikum um Entschuldigung bat. „Gestern hat einer unserer Redner Dinge gesagt, für die wir uns bei Ihnen entschuldigen wollen. Wir haben diesen Menschen nicht unterbrochen oder des Saales verwiesen, weil er in jenem Moment offensichtlich verwirrt war.“

Das ist vielleicht das Traurigste an der Cancel-Culture: Sie macht auch Leute, von denen man ein wenig Größe erwarten sollte, ganz klein.

© Michael Szyszka

Albtraum ohne Ende

Der Fall des grünen Abgeordneten Stefan Gelbhaar gilt als Super-GAU der MeToo-Berichterstattung: Die wichtigsten Belastungszeuginnen waren ausgedacht. Aber die Verfolger lassen nicht los. Der Sturz reicht ihnen nicht

Am Freitag vergangener Woche hat der Politiker Stefan Gelbhaar wieder einmal recht bekommen. Das Landgericht Hamburg verurteilte eine Parteifreundin, sich nicht länger zu seinen Nachteilen zu äußern. Sie habe den Eindruck erweckt, er habe ihr nachgestellt, befand das Gericht. Tatsächlich jedoch sei die Kommunikation alles andere als einseitig verlaufen.

Stefan Gelbhaar ist der Mann, der aus einem langen Albtraum erwachte, um dann festzustellen, dass es nach dem Aufwachen nicht besser wird. Im Dezember vergangenen Jahres waren plötzlich Anschuldigungen aufgetaucht, er habe sich mehreren Frauen gegenüber unangemessen verhalten.

Erst waren es nur vage Andeutungen, aber da Gelbhaar Mitglied bei den Grünen ist, reichte das seinen Parteifreunden, um den Stab über ihn zu brechen. Dann stieg der RBB ein und zeichnete das Bild eines Mannes, dem man als Frau besser aus dem Weg geht, weil er sich nicht im Griff hat. Seine Beteuerungen, die Vorwürfe gegen ihn entbehrten jeder Grundlage, wurden mit einem müden Achselzucken quittiert.

Wie sich herausstellte, waren die vermeintlichen Übergriffe frei erfunden. Die Hauptbelastungszeugin, eine „Anne K.“, existierte nur in der Fantasie der Frau, die den Stein ins Rollen brachte. Auch zwei weitere Zeuginnen, auf die sich der RBB berief, gab es allein auf dem Papier. Man sollte meinen, das reiche, um jemanden zu rehabilitieren. Oder, wenn sich das mit dem parteiinternen Ethos nicht verträgt, ihn künftig zumindest in Ruhe zu lassen.

Aber die Verfolger lassen nicht los. Dass Gelbhaar seinen Job als Bundestagsabgeordneter verloren hat und in der Politik nach menschlichem Ermessen nie wieder ein Bein auf den Boden bekommen wird? Egal. Dass seine Lebensgefährtin monatelang davon ausgehen musste, ihr Partner hintergehe sie? Dass die Kinder in der Schule zu hören bekamen, ihr Vater sei ein Grapscher und Frauenfeind? Das alles ist nicht genug.

Es muss bewiesen werden, dass irgendwie doch was dran war. Deshalb finden sich in den Medien immer neue Vorwürfe, vieles wieder anonym und damit nur schwer nachprüfbar.

Einmal soll Gelbhaar eine Parteikollegin bei einem Spiel an die Hüfte gefasst und zurück in den Kreis der Teilnehmer gezogen haben. Eine Frau berichtet, dass er sie gefragt habe, ob sie mit ihm ein „Kaltgetränk“ trinken wolle. Als sie ein Foto von sich in Top und Unterhose auf ihrem Bett postete, habe Gelbhaar mit der Frage reagiert: „Na, viel Rückmeldung bekommen? :)“ Auch der ausgiebige Gebrauch von Emojis steht zur Debatte.

Von „grenzverletzendem Verhalten“ ist die Rede. Grenzverletzungen, so führt ein Jurist in einem Artikel in der „Süddeutschen“ aus, beschreibe kein strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern eine „durch die Personen selbst als solche empfundene Überschreitung des persönlichen Wohlbefindens“. Das Strafrecht kennt aus gutem Grund keine Verstöße, die allein in die subjektive Einschätzung der Betroffenen fallen. Sich unwohl fühlen ist eine Kategorie, nach der nahezu jede Äußerung außerhalb des streng Sachlichen als potenziell übergriffig gelten kann.

Ende Februar hat Gelbhaar sein Büro im Bundestag geräumt, auch seinen Aufsichtsratsposten bei der Deutschen Bahn ist er los. Aber es nützt nichts. So leicht will man ihn nicht davonkommen lassen.

Bei der Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht erschien die Parteifreundin, die sich bereitwillig den Medien
zur Verfügung gestellt hatte, nicht allein. Drei Frauen aus der grünen Parteiprominenz hatten den Weg nach Hamburg auf sich genommen, um ihre Solidarität zu zeigen: Bettina Jarasch, Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Nina Stahr, Berliner Landeschefin, die frühere Bundesfrauenministerin Lisa Paus.

Dass der Ehemann von Frau Jarasch beim RBB arbeitet, also dem Sender, dessen Berichterstattung über Gelbhaar als journalistischer Super-GAU gilt, würde ihr in jeder anderen Partei Nachfragen wegen Befangenheit eintragen. In der grünen Welt ist so etwas normal.

Auf „Spiegel Online“ erschien ein ausführlicher Text, der keinen Zweifel daran ließ, wer aus Sicht der Redaktion Opfer und wer Täter war. „Klara Schedlich steht auf dem Flur im Landgericht Hamburg, sie lächelt unsicher“, lautete gleich der erste Satz. „Sie wirkt nicht darauf vorbereitet, was sie hier erwartet.“

Was ist eine verlorene Ehre wert? Das ist die Frage, die die Gerichte in der nächsten Runde beschäftigen wird. Gelbhaar hat den RBB auf 1,7 Millionen Euro verklagt – Schmerzensgeld plus das, was über vier Jahre an Abgeordnetendiäten zusammengekommen wäre, hätte man ihm nicht sein Direktmandat genommen.

Wenn die „Bild“-Zeitung danebenliegt, sind sich alle einig. Bei eigenen Fehlernist man erstaunlich schmallippig

Bei sogenannten sexuellen Übergriffen zeigt sich ein Muster. So vorsichtig sie sonst sein können, so schnell sind Medien mit Beschuldigungen zur Hand, wenn es um Belästigungsvorwürfe geht. Dann geben auch sogenannte Qualitätsmedien ihrem Jagdeifer nach und werfen alle Bedenken über Bord. Im Zweifel für die Frauen, lautet das Motto.

Die juristische Aufarbeitung der MeToo-Berichterstattung erweist sich für die beteiligten Verlage mehr und mehr als Desaster. Von den strafrechtlich relevanten Vorwürfen gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann ist so gut wie nichts übrig geblieben. Die Beschuldigung, er habe weibliche Fans durch K.-o.-Tropfen gefügig gemacht, hat sich vor Gericht ebenso aufgelöst wie der Vorwurf, er habe sich junge Mädchen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zuführen lassen.

Auch der Fall des Moderators Luke Mockridge, dem der „Spiegel“ trotz Einstellung eines Ermittlungsverfahrens noch einmal den Vergewaltigungsprozess machte, entwickelte sich immer mehr zum Drama – in dem Fall für den „Spiegel“. Nach einem anderthalb Jahre währenden Rechtsstreit untersagte das Hanseatische Oberlandesgericht die Verbreitung wesentlicher Teile des ursprünglichen Artikels.

Hat das Fehlverhalten Konsequenzen? Der Chefredakteur des RBB wurde mit einem Posten als „Hauptabteilungsleiter Programmressourcen“ versorgt – viel höher kann man nicht fallen. Die im Fall Mockridge federführende „Spiegel“-Redakteurin versucht jetzt halt, andere Männer des Missbrauchs zu überführen.

Wenn die „Bild“-Zeitung danebenliegt, sind sich alle einig. Als neulich eine Berliner Polizistin fälschlicherweise als gewalttätige Transfrau durch das Blatt gezerrt wurde, war das für die Konkurrenz ein gefundenes Fressen. Bei eigenen Fehlern ist man erstaunlich schmallippig. Dann zieht man sich auf den Standpunkt zurück, noch sei ja juristisch nicht abschließend entschieden. Im Zweifel gilt das Urteil, das die eigene Berichterstattung konterkariert, als Ausdruck patriarchaler Justiz.

Die Frauen fühlten sich alleingelassen, heißt es jetzt im Fall Gelbhaar. Gemeint sind die Frauen, die sich bei der Ombudsstelle der Grünen gemeldet haben, um grenzverletzendes Verhalten zu Protokoll zu geben. Das ist eine eigenartige Formulierung. Was soll das bedeuten: „alleingelassen“? Finden sie, dass ihr Parteikollege noch nicht ausreichend bestraft wurde? Wünschen sie sich, dass er noch einmal öffentlich hingehängt wird? Oder wollen sie einfach, dass ihnen zugehört wird, wie schlecht sie sich gefühlt haben?

Ist der Verfassungsschutz noch zu retten?

Der Obrigkeitsstaat ist zurück. Seine Fans kommen heute allerdings nicht mehr von rechts, sondern von links. „Vertraut uns“, sagen sie. „Wir wissen am besten, wer Verfassungsfeind ist und wer nicht“

Sprache ist verräterisch. Wer sich seiner Sache nicht wirklich sicher ist, neigt zur Übertreibung. Indem man große Worte wählt, versucht man, Zweifel zu zerstreuen. Faustregel: Je markiger die Wortwahl, desto schwächer die Beweislage.

Dass eine Partei rechtsextrem sei, dürfte als Urteil reichen, sollte man meinen. Was gibt es Vernichtenderes als den Befund, jemand sei ein Verfassungsfeind? Aber nein, in den Medien firmiert die AfD als „gesichert rechtsextrem“. So als sei das Urteil TÜV-geprüft, damit die Leute auch wirklich von der Gefährlichkeit der AfD überzeugt sind.

Kein Beitrag, von der „Tagesschau“ abwärts, der auf den TÜV-Zusatz verzichtet. 3,5 Millionen Treffer weist Google in seiner Suchleiste aus. Einer der ersten Beiträge, den ich finden konnte, stammt vom Zentrum für Politische Schönheit. In einer Art Steckbrief bezichtigte das Künstlerkollektiv Alexander Gauland, „gesichert“ über Naziverbindungen zu verfügen.

Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet die AfD jetzt als „gesichert rechtsextremistisch“. Es hat sogar ein Gutachten erstellt, dessen Belege angeblich so vernichtend sind, dass man zu keinem anderen Schluss kommen kann. 1100 Seiten umfasst es, wie man hörte.

Leider konnte man das Gutachten nicht sehen, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Alles, was die Öffentlichkeit von offizieller Seite zu sehen bekam, war eine dürre Pressemitteilung, wonach die AfD gegen das Grundgesetz verstoße. Alles weitere musste man glauben. Vertraut uns, lautet die Botschaft der Behörde aus Köln-Chorweiler: Wir wissen es besser als ihr.

So etwas kannte man bislang nur aus den Anfangsjahren der Republik. Auf dem Höhepunkt der „Spiegel“-Affäre stellte sich Konrad Adenauer vor die Abgeordneten des Bundestags und verlangte, man solle die Beamten doch einfach mal in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Das war das Staatsverständnis, gegen das wenig später eine ganze Generation auf die Straße ging.

Der Obrigkeitsstaat ist zurück. Seine Fans kommen allerdings nicht mehr von rechts, sondern von links. Ironischerweise sind es heute vor allem die Grünen, die am vehementesten für einen Vertrauensvorschuss werben.

Dass niemand das Gutachten beim Verfassungsschutz einsehen kann? Die Männer und Frauen verrichten ihren Dienst zum Schutz der Demokratie: Wir sollten ihnen danken, statt ihre Urteilsfähigkeit anzuzweifeln. Was, Sie haben trotzdem Zweifel? Wer Misstrauen gegen die Sicherheitsorgane hegt, wird dafür wohl seine Gründe haben!

Um zu den einfach nachprüfbaren Fakten zurückzukommen: Der Verfassungsschutz ist keine unabhängige Instanz, wie behauptet wird. Er untersteht direkt dem Bundesinnenministerium und ist damit weisungsgebunden. Wenn die Bundesinnenministerin einen Bericht bestellt, darf sie erwarten, dass er umgehend auf ihrem Tisch liegt.

So ganz scheint auch das Bundesamt für Verfassungsschutz der Überzeugungskraft seiner Pressemitteilung nicht getraut zu haben. Deshalb ging das Gutachten aus interessierten Kreisen an den „Spiegel“ und die „Bild“. Der „Spiegel“ bietet sich als Verbreitungsorgan an. Hier arbeiten vor allem Redakteure, die sich selbst als kleine Verfassungsschützer sehen. Seit Mitte der Woche kursiert eine vollständige Kopie im Netz.

Ich habe mir die Belege angeschaut. Nach Lektüre fragt man sich: Und das muss „geheim“ gestempelt sein? Auch in Köln-Chorweiler ernährt man sich im Wesentlichen von Zeitungslektüre. Einiges von dem, was nun als Beleg für eine gesichert rechtsextreme Position gilt, fand sich außerdem eben noch bei führenden CDU-Politikern. Witzbolde haben umgehend ältere Clips ins Netz gestellt, in denen prominente Christdemokraten vor Multikulti und einer zu eilfertigen Aufgabe deutscher Leitkultur warnen.

Selbstverständlich gibt es in den Reihen der AfD Rassisten, Sexisten und Faschisten – und das bis in die Führungsetagen. Deshalb stößt die AfD ja bei der Mehrheit der Bürger auf Argwohn oder Abwehr. Aber man muss offenbar immer wieder in Erinnerung rufen, dass Meinungsfreiheit nicht bei Annalena Baerbock und Robert Habeck endet. Sie umfasst auch unziemliches und pöbelhaftes Reden. Ja sogar explizit fremdenfeindliche Auffassungen sind von ihr gedeckt. Die AfD ist eine dezidiert unbürgerliche Partei. Ein Teil der Funktionäre lehnt das System ausdrücklich ab, jede Zusammenarbeit mit den sogenannten Altparteien gilt als Verrat. Aber arbeiten nennenswerte Teile der AfD aktiv auf die Überwindung des Systems hin? Planen sie den Umsturz? Das ist die entscheidende Frage. Dafür wiederum ist die Beweislage erstaunlich dünn.

Was tun? Der ehemalige mecklenburgische Bildungsminister Mathias Brodkorb hat vor ein paar Monaten ein schmales Büchlein mit dem Titel „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ vorgelegt. Es ist in der Flut der Neuerscheinungen untergegangen, was bedauerlich ist, denn selten hat man eine so fundierte Kritik gelesen.

Falls jemand meint, der Autor tendiere möglicherweise selbst nach rechts: Die Angst kann ich ihm nehmen. Brodkorb ist aller Sympathie mit der AfD unverdächtig. Er ist nicht nur seit vielen Jahren SPD-Mitglied. Am Anfang seiner politische Karriere steht die Gründung des Onlineprojekts „Endstation Rechts“ zur Dokumentation rechtsextremistischer Umtriebe. Wenn der Mann also vor dem „Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“ warnt, sollte man das ernst nehmen.

Brodkorb erinnert ihn seinem Buch daran, dass dieser Geheimdienst eine für westliche Demokratien ziemlich einmalige Einrichtung ist. Eine Behörde zur Überprüfung der politischen Gesinnung ihrer Bürger: Das gibt es in keinem anderen fortschrittlichen Land.

Zudem ist das Amt höchst fehleranfällig. Weil auch der Verfassungsschutz nicht an dem Grundsatz vorbeikann, wonach die Gedanken frei sind, muss er sein Augenmerk auf den Punkt legen, wo sich böse Gedanken zu bösen Absichten verdichten. Damit aber bewegt er sich ins Reich der Vermutungen, denn auch die raffinierteste Behörde der Welt kann nicht in die Herzen der Bürger sehen. Abwarten, bis man genauer weiß, ob einer nur wilde Reden schwingt oder es wirklich ernst meint, ist keine Option. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es ja gerade, tätig zu werden, bevor sich die Absicht zur Tat materialisiert.

Verteidiger werfen ein, dass der Verfassungsschutz keine reale Macht habe. Er kann missliebige Subjekte nicht festsetzen oder anklagen lassen. Aber das verkennt die politische Macht. Wer als Verfassungsfeind in den Jahresberichten oder Sondergutachten auftaucht, ist in der Regel erledigt. Und es gibt wenig, was man dagegen tun kann. Alle Versuche, sich gegen eine Nennung zu wehren, sind mit langwierigen Verfahren verbunden. Das Stigma bleibt.

„Das Gutachten des Verfassungsschutzes verschiebt jetzt eigentlich die Beweislast“, hat die Grünen-Politikerin Ricarda Lang vor wenigen Tagen im ARD-„Morgenmagazin“ erklärt. „Das heißt, diejenigen, die gegen eine Prüfung des Verbots sind, die müssen doch begründen, warum unsere Demokratie eine gesichert rechtsextreme Partei dulden sollte.“

Nennen Sie mich altmodisch, aber ich bin bis heute der Auffassung, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen muss, sondern der Ankläger die Stichhaltigkeit seiner Vorwürfe.

© Michael Szyszka

Deutsche Exzessjustiz

3500 Euro wegen Verbreitung eines Fotos, auf dem Karl Lauterbach mit erhobenem Arm zu sehen ist. 1500 Euro für das ironische Zitat eines Hashtags. Der Kampf gegen Hass im Netz nimmt groteske Formen an

Wie viele Menschen erinnern sich noch an Einzelheiten der Wulff-Affäre? Ich meine nicht das Ehedrama, obwohl auch das eine längere Betrachtung wert wäre. Dreimal einander das Jawort geben und dreimal vor den Scherben seiner Ehe stehen: Das verlangt schon eine besondere Form der Demut.

Und die Umstände der Trennung sind wieder nicht schön. Wie ich lesen musste, ist es dieses Mal ein Bodyguard aus Sylt, mit dem Bettina Wulff in inniger Umarmung gesichtet wurde. Dass mich die zugehörigen Fotos in meiner Meinung über den zweifelhaften Charakter des Inselparadieses bestärken, muss ich Ihnen nicht sagen. Warum konnte es nicht zumindest ein Personenschützer aus Husum oder von der Hallig Hooge sein? Aber nein, natürlich Sylt!

Wenn ich heute an Christian Wulff erinnere, dann meine ich die Vorwürfe, er habe sich als Politiker Vorteile verschafft, die ihm nicht zustanden. Ich bin neulich noch einmal auf die Ermittlungen gestoßen, die ihn das Amt als Bundespräsident kosteten. Im Rückblick ist es atemberaubend, was die Staatsanwaltschaft alles unternommen hat, um den Mann zur Strecke zu bringen. Über 20 000 Seiten umfasste die Ermittlungsakte. Mehr als hundert Zeugen wurden vernommen.

Um was es ging? Am Ende um den Vorwurf, Wulff habe sich bei einem Oktoberfestbesuch im Käfer-Zelt unrechtmäßig einen Entenschlegel zum Mund geführt. Die Ermittler hatten nicht nur die Sitzordnung mittels einer Schautafel minutiös rekonstruiert. Sie hatten sich auch bis auf die letzte Maß einen Überblick verschafft, was es zu essen und zu trinken gab und wie ausgelassen es dabei zuging.

Aber was ist die Macht eines Polizeibeamten gegen die einer deutschenStaatsanwaltschaft?

Wenn Wulff behauptete, er trinke vor allem Obstsaft, sichteten seine Verfolger Tausende von Fotos, um ihm nachzuweisen, dass er sehr wohl hin und wieder dem Alkohol zuneige. Erklärte er, sich aus Haxen nichts zu machen, wurde die Kellnerin ausfindig gemacht, die vier Jahre zuvor Bier und Fleisch aufgetragen hatte.

Wenn wir über Amtsmissbrauch sprechen, haben wir übereifrige Behördenmitarbeiter oder schikanöse Polizisten vor Augen. Aber was ist die Macht eines Polizeibeamten gegen die einer deutschen Staatsanwaltschaft? Wer einmal in deren Fänge gerät, dem gnade Gott. Der braucht sehr viel Geld und sehr gute Anwälte, um nicht zu verzagen.

Eigentlich soll ein Staatsanwalt unparteiisch agieren, so sieht es die Strafprozessordnung vor. Aber damit geben sich immer weniger Vertreter zufrieden. Im Zweifel auch Beweise sichten, die für den Angeklagten sprechen? Wo kommen wir denn da hin! Dann müsste man ja ein wenig leiser auftreten, am Ende sogar bescheiden.

Ich habe den Fall Wulff auch deshalb erwähnt, weil er geradezu mustergültig für eine Politisierung der Justiz steht, die uns besorgen sollte. Der Unterschied zu heute ist: Was damals vor allem die Reichen und Berühmten betraf, kann heute nahezu jeden treffen.

Ich habe vergangene Woche mit dem Anwalt Marcus Pretzell telefoniert. Pretzell vertritt den Rentner Stefan Willi Niehoff aus dem fränkischen Burgpreppach. Das ist der Mann, der im November in aller Herrgottsfrühe Besuch von der Polizei bekam, weil er auf X ein Bild verbreitet hatte, auf dem Robert Habeck als „Schwachkopf“ verhohnepipelt worden war.

Man sollte meinen, dass die Staatsanwaltschaft Bamberg, die Niehoff die Polizei auf den Hals hetzte, etwas behutsamer auftritt, seit der Fall als Beispiel für Exzessjustiz durch alle Medien ging. Aber nein, jetzt erst recht, lautet das Motto. Nun versucht man, den Rentner wegen der „Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher und terroristischer Organisationen“ dranzukriegen, wie es in einem Strafbefehl vom 15. April heißt.

Der Beweis? Unter anderem eine Bildmontage auf X, bei der neben ein Foto der Moderatorin Sarah Bosetti („Der Ungeimpfte ist der Blinddarm, der im strengeren Sinne für das Überleben des Gesamtkomplexes nicht essenziell ist“) ein Bild des KZ-Arztes Fritz Klein gestellt wurde, der Juden als den Blinddarm am Körper Europas bezeichnete.

Vor Kurzem hätte er jemanden, der ihn aufgrund eines Ermittlungsverfahrens wegen Volksverhetzung kontaktierte, gebeten, sich an einen der einschlägig bekannten Szeneanwälte zu wenden, sagt Pretzell. Da sei das fast ausnahmslos ein Delikt rechtsradikaler Aktivisten gewesen. Inzwischen sei es ein Allerweltsvorwurf, der alle naslang vorkomme.

Es ist nicht so, dass es im Netz nicht genug Dinge gäbe, die verfolgungswürdig wären. Ich habe vor Jahren für einen „Spiegel“-Report wochenlang zu den Abgründen recherchiert, die sich bei Facebook auftun. Es ist irre, was einem dort präsentiert wird: Naziverherrlichung, Holocaustleugnung, Vergewaltigungsandrohungen, Aufrufe zur Gewalt – das ganze Programm.

Und die Strafwürdigkeit ist in vielen Fälle auch keine Auslegungsfrage. Wer das Bild von SS-Soldaten postet, die mit dem Maschinengewehr in eine Gruppe von Menschen halten, und dazu schreibt: „Meine Lösung der Flüchtlingsfrage“, benötigt keinen Übersetzer. Angeblich ist die Löschpraxis bei Facebook zwischenzeitlich strenger geworden. Aber nach wie vor findet man dort allen möglichen Wahnsinn, ohne dass es Konsequenzen hätte.

Weshalb lassen die mit dem Kampf gegen Hass und Hetze betrauten Staatsanwälte das laufen? Es gibt nur eine plausible Erklärung: Es ist ihnen zu anstrengend und zu kompliziert, sich mit Facebook anzulegen. Dann müssten sie ja gegen einen Milliardenkonzern vorgehen, der seinen Sitz praktischerweise in Irland hat, was Schriftverkehr in englischer Sprache erforderlich macht, um mit dem naheliegendsten Hindernis zu beginnen. Also greifen sie sich lieber die armen Kerle, die so unvorsichtig sind, auf X irgendwelchen Quatsch zu posten.

Da gibt es dann kein Halten mehr. 3500 Euro Strafbefehl wegen Verbreitung eines Schnappschusses, auf dem Karl Lauterbach mit erhobenem rechtem Arm zu sehen ist (Staatsanwaltschaft Schweinfurt). 1500 Euro wegen des Postens eines ironisch kommentierten Screenshots eines Twitter-Rankings, bei dem der Hashtag #AllesfürDeutschland ganz oben trendet (Staatsanwaltschaft Köln).

Es geht auch immer nur in eine Richtung. Nach den Todesschüssen auf einen jungen Mann
setzte die Amadeu Antonio Stiftung vorletzte Woche folgenden mittlerweile gelöschten Tweet ab: „Ein Polizist ermordet in Oldenburg den Schwarzen Lorenz A. ‚Einzelfall‘ schreit die Polizei. Außerdem hätte
er den Polizisten mit einem Messer bedroht – gelogen wie sich herausstellt. Die Wahrheit: In Deutschland herrschen ‚amerikanische Verhältnisse‘.“

Bislang ist der Tathergang völlig ungeklärt. Steht die Staatsanwaltschaft bei der Stiftung jetzt wegen Falschbeschuldigung in der Tür? Lässt man Computer beschlagnahmen und die Mitarbeiter vernehmen? Selbstverständlich nicht. Hass und Hetze gegen Polizeikräfte gilt vielerorts als zivilgesellschaftliches Engagement, da drückt man beide Augen zu.

Außerdem wäre eine Strafverfolgung ja eine Art Ermittlung des Staates gegen sich selbst. Unter den mit reichlich Steuergeld bedachten NGOs ragt die Amadeu Antonio Stiftung heraus. Auf vier Millionen Euro beliefen sich im Haushaltsplan 2023 allein die Zuwendungen der Bundesregierung.

Bleibt die Frage, wem eine Staatsanwaltschaft gegenüber
Rechenschaft ablegen muss. Formal untersteht sie dem Justizministerium. Aber wie es aussieht, kümmert das niemanden. Warum auch?

Die vier Jahre währenden Ermittlungen gegen Christian Wulff gingen mit einem Freispruch für den ehemaligen Bundespräsidenten zu Ende. Hatte das unrühmliche Ende der Wühlarbeit, die
den Steuerzahler ein Vielfaches der Oktoberfestsause kostete, für die beteiligten Staatsanwälte irgendwelche negativen Folgen? Selbstverständlich nicht.
In dieser Welt bemessen sich Erfolg und Misserfolg an anderen Kriterien.

© Sören Kunz

Der große TÜV-Schmu

Demnächst sollen Autofahrer ihren Wagen bereits alle zwölf Monate in die Werkstatt bringen. Und für Häuser soll es einen jährlichen Gebäude-TÜV geben. Aber klar, die neue Regierung verspricht tapfer mehr Bürokratieabbau

Geniale Idee: Die deutschen Autofahrer bringen ihr Auto nicht mehr alle zwei Jahre zum TÜV, sondern schon nach zwölf Monaten. Auf einen Schlag mehr Werkstattbesuche, mehr ausgelastete Techniker, mehr Gebühreneinnahmen. Und das alles nicht per Appell an die Einsicht, sondern per Verordnung, die bei Nichtbefolgung empfindliche Strafen nach sich zieht. Wenn ich beim TÜV wäre, ich könnte mein Glück kaum fassen.

Für alle anderen, insbesondere die gebeutelten Autofahrer, ist die Idee nicht ganz so genial. Eine Hauptuntersuchung schlägt mit 150 Euro zu Buche, egal ob die Prüfer etwas finden oder nicht. Meist finden sie nichts. Das ist zwar beruhigend, aber eben auch ärgerlich, weil es zeigt, dass es den Zirkus gar nicht gebraucht hätte.

Der deutsche Autobestand ist gottlob in einem Zustand, dass man den Prüfungszeitraum gefahrlos auf drei Jahre ausweiten könnte. In vielen Ländern gibt es gar keinen TÜV, ohne dass der öffentliche Verkehr zusammenbräche. Selbst die risikoscheuen US-Amerikaner, bei denen jeder Spielplatz einer Hochsicherheitszone gleicht, kennen nichts Vergleichbares.

Beutelschneiderei ist kein gutes Verkaufsargument, deshalb heißt es zur Begründung: aber die Sicherheit! Irgendjemand hat ausgerechnet, dass man noch mehr Verkehrstote vermeiden könnte, wenn man alle Autos, die älter als zehn Jahre sind, einmal im Jahr in die Werkstatt schickt.

Die Experten, die nicht beim TÜV angestellt sind, widersprechen. Totaler Quatsch sagt der ADAC. Wegen ein paar hängender Auspuffrohre Millionen Kraftfahrzeugbesitzer drangsalieren: Was für eine Schnapsidee. Aber weil der ADAC als fiese Lobbyorganisation gilt, der TÜV hingegen als eine Art Samariterbund, ist die Sache so gut wie entschieden. Ab 2026 ist es so weit, wenn nicht noch ein Wunder geschieht.

Heute ist es das Auto, morgen der Alkohol – irgendein Quatschexperte findet sich immer. Der „Spiegel“ präsentierte vergangene Woche einen Suchtforscher, der ausgerechnet hat, dass sich 850 alkoholbedingte Todesfälle im Jahr vermeiden ließen, wenn man alkoholische Getränke um fünf Prozent teurer machte, weil dann der Pro-Kopf-Verbrauch um 2,2 Prozent sinken würde.

Dass so etwas in einem seriösen Magazin steht, ohne dass die Redaktion in Gelächter ausbricht, ist der wahre Clou. Anderseits: Wer will sich schon nachsagen lassen, dass ihm der Tod von Menschen egal sei, nicht wahr?

Die sicherste Welt ist zweifellos die, in der man nicht mehr aus dem Haus tritt. Wobei: Selbst das stimmt ja nicht. Zu Hause droht der gefürchtete Hausunfall. Wie viele Menschen jedes Jahr von der Leiter fallen, weil sie mal eben die Gardinenstange richten wollen: schockierend! Selbst in der Büroklammer steckt der Tod. Wussten Sie, dass mehr Mitteleuropäer an einer verschluckten Büroklammer sterben, als einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer fallen? Ich nicht, bis ich es zufällig beim Googeln entdeckt habe.

Niemand ist für mehr Bürokratie. Trotzdem haben wir immer mehr davon. Das ist das Paradox unserer Zeit.

Auf X hat neulich ein Unternehmer das Bild einer Herstellerangabe gepostet, die von den zuständigen Behörden moniert wurde, weil die Buchstabengröße im Adressfeld beim „e“ im Wort „Soundsoweg“ zu klein geraten war. Die Abweichung vom geforderten Standard war nur mit einem Elektronenmikroskop zu erkennen. Ohne Lupe konnte man kein, aber wirklich gar kein Problem sehen. Egal: Der arme Mann muss sein Produkt aus dem Verkehr ziehen, um es dann mit korrigierter Angabe erneut in Umlauf zu bringen.

Das Prinzip ist theoretisch unendlich ausweitbar. Warum nicht auch Gehölze überprüfen lassen, deren Zweige Spaziergänger erschlagen könnten? Oder Häuser? Aber halt, das ist ja genau die neue Idee der TÜV-Gemeinde. Eine Art Gebäude-Hauptuntersuchung, einmal im Jahr, verbindlich für jede Wohnimmobilie in Deutschland – so schlägt es das Deutsche Institut für Normung in einem 40-seitigen Papier vor.

Wenn man schon einmal dabei ist, belässt man es selbstverständlich nicht bei einer flüchtigen Bestandsaufnahme. 250 Kontrollen umfasst das DIN-Papier. Ist die Dachrinne sicher befestigt? Können die Dachluken ordentlich verschlossen werden? In welchem Zustand befindet sich der Schornstein? Auch die Sicherheit von Treppengeländern, Balkongeländern, Vordächern und Markisen sollte jedes Jahr gecheckt werden!

Zu meiner Osterlektüre gehörte „Wolfszeit“, Harald Jähners hochgelobte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre. Dass in Deutschland Einrichtungen wie der TÜV, das DIN oder die Stiftung Warentest in so hohem Ansehen stehen, führt Jähner auf das Trauma der Schwarzmarktzeit zurück, als man sich Gaunern und Schiebern anvertrauen musste, wenn man nicht verhungern wollte. Jeder Tauschhandel war von der Angst begleitet, über den Tisch gezogen zu werden. Und oft genug wurde
man das ja auch. Dann stellte man, wenn man Pech hatte, fest, dass das Öl gepanscht, die Zigaretten gestreckt und das Brot gar kein richtiges Brot war.

Auch im neuen Koalitionsvertrag findet sich wieder ein Kapitel zum Bürokratieabbau. „Durch einen umfassenden Rückbau der Bürokratie werden wir unseren Staat wieder leistungsfähig machen“, heißt es dort. Wenn ich mich recht erinnere, stand das so ähnlich allerdings schon im letzten Koalitionsvertrag. Und in dem davor.

Ich fürchte, es braucht eine Art Selbstverpflichtung, wenn man vorankommen will. Für jedes neue Gesetz, das der Gesetzgeber erlässt, muss er eines benennen, das er abschafft. Und damit würde man die Flut an Regelungen und Vorschriften ja nur konstant halten.

Wenn man den Wildwuchs wirklich eindämmen wollte, bräuchte es eine Art Beweislastumkehr. Also statt immer zu vermuten, dass jemand eine Gesetzeslücke ausnutzen könnte, wenn man sie nicht rechtzeitig schließt, wartet man erst einmal ab, ob der Schaden wirklich so groß ist, wie angenommen wird.

Apropos TÜV, wird sich der eine oder andere aufmerksame Zeitungsleser vielleicht sagen. Ist das nicht die Vereinigung, die in Brasilien einen Staudamm als sicher zertifizierte, der dann leider doch brach und eine Schlammlawine freigab, die 270 Menschen unter sich begrub? Doch, genau das ist er, in diesem Fall der TÜV Süd.

Na ja, gut, nobody is perfect. Der Fall ist seit fünf Jahren beim Landgericht München anhängig. Die Sache zieht sich, weil immer noch nicht geklärt ist, welches Recht für die Entschädigungsforderungen gelten soll, brasilianisches oder deutsches.

Was ich bei der Gelegenheit gelernt habe: dass der TÜV Süd ein weltweit operierendes Unternehmen ist, das bei Bedarf alles Mögliche prüft, nicht nur makellose Autos auf ihre dann TÜV-garantierte Makellosigkeit. Der Technische Überwachungsverein, wie das Kürzel TÜV ausgeschrieben heißt, ist auch gar kein Verein, sondern eine Aktiengesellschaft, die einen Jahresumsatz von mehreren Milliarden Euro ausweist.

Ach, bei einem Unternehmen beschäftigt zu sein, das sich seine Kunden vom Staat zutreiben lässt, das möchte man auch mal erleben. Das ist fast so gut wie eine Bank, die sich ihr Geld selbst druckt.

© Silke Werzinger

Kleine Paschas

65 Prozent der Schulleiter berichten von Fällen, in denen Lehrkräfte von Schülern bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Was geschieht an deutschen Schulen?

In einem Text über die Bergius-Schule in Berlin-
Friedenau bin ich an einem Satz hängen geblieben, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Bergius-
Schule hat es zu überregionaler Bekanntheit gebracht, seit sich das Lehrerkollegium in einem Brandbrief an die Schulaufsicht wandte.

Wie die Lehrer es schilderten, vergeht kein Tag ohne Beleidigungen und Bedrohungen. Auf dem Schulhof werden Böller gezündet und sowohl Schüler als auch Pausenaufsicht mit gefüllten Wasserflaschen beworfen. Regelmäßig muss die Polizei erscheinen, um die Lage zu beruhigen. Nach Bekanntwerden des Briefes machte ein Vorfall die Runde, bei dem sich ein Siebtklässler vor Jugendlichen, die ihn mit Messern und Schlagringen verfolgten, in einen angrenzenden Supermarkt flüchtete.

Zu den großen Defiziten der Schule gehöre die mangelnde Kooperation der Eltern, lautete der Satz, der mir in einer der Reportagen, die sich an den Lehrerbrief anschlossen, auffiel. Er habe Elternabende mit drei Teilnehmern erlebt, wurde ein Elternvertreter zitiert.

Ich habe mich dann an ein Gespräch erinnert, das ich vor einem halben Jahr mit einem Bekannten führte, der seine Kinder auf einem Gymnasium in Ottobrunn, einem sozial ebenfalls eher heterogenen Vorort von München, hat. Dort bietet sich ein ähnliches Bild: Die deutschen Eltern erscheinen fast alle zum Elternabend, um sich mit den Lehrkräften über den Schulalltag auszutauschen. Von den Eltern, die über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügen, ist weit und breit nichts zu sehen.

Was ist da los? Ist es ihnen egal, wie ihre Kinder abschneiden? Haben Sie keine Zeit, den Elternabend zu besuchen? Sind sie verhindert?

Eigenartigerweise wird so gut wie nie über die Eltern gesprochen, wenn es um die deutsche Bildungsmisere geht. Wenn ein deutsches Elternpaar kein Interesse am Fortkommen seiner Kinder zeigt, löst das kritische Nachfragen aus. Wenn ein türkisches oder arabisches Elternpaar unsichtbar bleibt, wird darüber vornehm hinweggesehen. Oder es heißt entschuldigend: „Die haben sicher andere Probleme.“ Doch welche Probleme könnten das sein?

Die Befunde zum Bildungsstand sind verheerend. Bei den Pisa-Ergebnissen liegt Deutschland inzwischen eher auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes als auf dem einer entwickelten Industrienation. Ein Viertel der Schüler kann 
auch nach Abschluss der neunten Klasse keinen geraden deutschen Satz schreiben. Jeder Dritte versagt beim Lösen einfacher Mathematikaufgaben.

Auf der Suche nach einer Erklärung, landet man schnell bei der sich verändernden Zusammensetzung der Schülerschaft. 40 Prozent der Kinder kommen heute aus Migrantenfamilien. In Kita und Schule sind wir das Einwanderungsland Nummer eins unter den OECD-Nationen, wie es der Bildungsredakteur der „Zeit“, Martin Spiewak, in einem aufschlussreichen Report über die pädagogische Ratlosig­keit angesichts der Vielfalt im Klassenzimmer festhielt. ­Leider ziehen wir daraus bis heute keine Schlüsse für den Bildungsauftrag. Wir tun einfach so, als ob alles so laufen würde wie vor 20 Jahren, als das deutsche Gymnasium noch der Goldstandard war.

Gibt es hervorragend ausgebildete Ärzte und Ingenieure, deren Eltern aus der Türkei, dem Libanon oder Syrien stammen? Natürlich gibt es die. Das Problem ist nur: Der Anteil ist gemessen am Bevölkerungsanteil viel zu gering.

Es sind in der Regel auch die Mädchen, die Karriere machen, nicht die Jungen. Ich sehe das Geschlechtergefälle in meinem Beruf. Im Journalismus setzen sich immer mehr Migrantenkinder durch, sie gewinnen Preise und besetzen Ressortleiterposten. Aber sie heißen so gut wie nie Omar oder Mustafa, sondern fast ausschließlich Fatma, Özlem und Ferda.

Woran das liegt? Ich würde vermuten 
am Elternhaus. Man soll ja nicht von „kleinen Paschas“ reden. Nennen wir sie deshalb „kleine Prinzchen“. Wenn ein 
Junge merkt, dass man ihm alles durchgehen lässt, weil er ein Junge ist, erlahmt die Leistungsbereitschaft. Wie soll es anders sein? Selbstverständlich sind es 
auch nie die Mädchen, sondern fast im
mer die Jungen, die wie an der Bergius-Schule über Tische und Bänke gehen.

Migration ist nicht gleich Migration, auch das gehört zum Bild. Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule 
in München besucht. In seiner Jahrgangsstufe waren Kinder aus Russland, der Ukraine, Israel, den Niederlanden. Schüler ohne Migrationshintergrund sind die Ausnahme. Ein Mädchen tut sich bis heute mit dem Lesen schwer, sie hat Legasthenie. Alle andern haben selbstverständlich keine Probleme beim Diktat. Auch Futur 1 und Futur 2 bilden sie mühelos.

Sind die Klassenkameraden meines Sohnes intelligenter als ihre muslimischen Altersgenossen? Das glaube ich nicht. Wenn die Lehrerin zum Elternabend bittet, sind alle da, auch die Eltern der Kinder, die orthodox aufwachsen. Selbstverständlich achtet jeder darauf, dass die Hausaufgaben erledigt sind und die Kleinen nicht den ganzen Tag ihre Köpfe über das iPad beugen.

Man zeige mir eine einzige muslimische Grundschule in Deutschland, deren Schüler regelmäßig bei Leistungswettbewerben unter den Top-zehn-Prozent landen, und ich schweige forthin für immer.
Alle wissen, dass es wahr ist. Deshalb setzt ja zum Beginn des Schuljahres in vielen Großstädten auch eine stille Völkerwanderung aus Vierteln ein, in denen der Migrantenanteil besonders hoch 
ist. Nicht weil die Eltern von Finn und 
Louisa nicht wollen, dass ihr Sohn 
oder ihre Tochter neben Omar und 
Fatima sitzen. Sondern weil sie genau wissen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter erhebliche Nachteile erleiden, wenn die Hälfte der Klasse aus Kindern besteht, die 
auch nach Abschluss der vierten Klasse kaum lesen und schreiben können.

Vor zwei Wochen hat das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden herausgegeben, wie sich Lehrer bei Attacken zu Wehr setzen können. Es ist ein Dokument der Kapitulation. „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone“, lautet ein Ratschlag. „Verlassen Sie das Gesichtsfeld des Angreifers, vermeiden Sie jede Eskalation.“

Wie bei der Gelegenheit zu erfahren war, berichten 65 Prozent der Schulleiter von Fällen, in denen Lehrkräfte bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Das sind irre Zahlen. Man sollte meinen, dass sie die Schlagzeilen dominieren, aber niemand scheint Notiz zu nehmen.

Ich habe die Osterferien wie jedes Jahr in Marokko verbracht. Was mir immer auffällt, wenn ich dort bin: wie höflich die Kinder sind. Hier käme kein 14-Jähriger auf die Idee, sich gegenüber einer Lehrkraft unziemlich zu verhalten oder gar die Hand gegen sie zu erheben. Und wenn er es tut, dann weiß er, was ihm blüht.

Was also ist zu tun? Der Bildungsredakteur Spiewak verweist auf Hamburg, wo man den Lehrplan angepasst hat. Deutsch wird jeden Tag in Gruppen geübt, im Chor, zu zweit, allein still vor sich hin. Deutsch ist nicht alles, aber ohne Deutschkenntnisse ist alles nichts.

Vermutlich müssen wir auch dazu kommen, dass man die Eltern stärker in die Pflicht nimmt. Wer nicht zum Elternabend erscheint, erhält eine Aufforderung von der Schule. Wer darauf nicht reagiert, bekommt Besuch vom Schulleiter. Und dort, wo ein Jugendlicher seine ­Lehrer bedroht hat, schaut die Polizei vorbei. Gefährder­ansprache nennt man das im Polizeijargon.

Die kleine Völkerwanderung, die sich jedes Jahr zum Schulbeginn in deutschen Großstädten vollzieht, gibt es mittlerweile auch im größeren Maßstab. 276 000 Bürger haben im vergangenen Jahr Deutschland den Rücken gekehrt, weil sie ­fanden, dass der Staat zu wenig bietet für das Geld, das er einem abnimmt.

Wir sollten Sorge tragen, dass sich der Trend nicht beschleunigt. Es sind nämlich in der Regel nicht die Müh­seligen und Beladenen, die das Land verlassen, sondern die Cleveren und Gutausgebildeten.

© Michael Szyszka

Das Ende der freien Presse

Im Wettbewerb der Verlage mit den internationalen Digitalmonopolisten herrscht reine Willkür. Die Antwort der Politik: freundliches Desinteresse. Dafür verfolgt man lieber Journalisten, wenn sie regierungskritische Bildchen posten

Für alle hat die neue Koalition ein Herz und ein gutes Wort. Die Rentner. Die Mütter, die auf ein wenig Ruhe nach Jahren der Plackerei hoffen. Die Gastronomen, die durch ihr freundliches Gewerbe zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen.

Die Einsamen finden Beachtung, für die extra eine „Einsamkeitsstrategie“ aufgelegt wird. Die Künstler natürlich, von denen es heißt, dass ihre Arbeit das Fundament für die Freiheit bilde. Selbst die Gegner des Bonwesens, die sich darüber ärgern, dass ihnen bei jedem Kauf ein Fetzen Papier in die Hand gedrückt wird, haben die Regierung auf ihrer Seite: Die Bonpflicht wird abgeschafft.

Nur eine Gruppe hat nichts zu erwarten: Journalisten. Auf einer Liste bedrohter Berufsstände würden Medien­leute ganz oben rangieren. Wenn man sich die Aussichten in der Medienbranche anschaut, kann man jungen Menschen nur raten: Augen auf bei der Berufswahl! Aber jeder Kabelträger beim Film oder Entwickler von Ballerspielen ist der Politik wichtiger. Sie alle erhalten Förderung oder Steueranreize oder beides zusammen.

Es hat nicht an Fürsprechern gefehlt. Der bayerische Ministerpräsident hat sich für eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Printprodukte starkgemacht. Dem Vernehmen nach war auch SPD-Chef Lars Klingbeil dafür. Doch alle Versuche, das Los der Medienschaffenden etwas zu ­bessern, scheiterten am Einspruch des künftigen Kanzlers. Hier blieb er hart. Weniger Mehrwertsteuer für Magazine? Wo kommen wir denn da hin: Sollen sie in der Presse doch sehen, wo sie bleiben!

In der Branche kursiert das Ondit, Friedrich Merz habe sich geärgert, dass er auf den Fotos, die in ihren Blättern zu sehen sind, immer so schlecht aussehe. Die Fotos aus der Pressestelle wären viel schöner. Wahrscheinlich ist das nur böse Nachrede. Anderseits: Wer Merz ein wenig kennt, glaubt es sofort.

Ich habe im Prinzip nichts dagegen, dass uns die Politik verachtet. Ich gehöre einer Generation an, die in den Journalismus ging, um denen da oben auf die Finger zu klopfen. Dass man einer Partei ein immergrünes Band der Sympathie flicht, war nicht vorgesehen.

Sicher, auch frühere Generationen kannten den Kampagnenjournalismus. Aber kein Bündnis währte lange. Willy Brandt hat sich bitterlich beschwert, als der Wind umschlug, insbesondere über das „Scheißblatt“, den „Spiegel“, der ihn erst groß- und dann kleinschrieb. Auch Helmut Schmidt und Gerhard Schröder mussten erfahren, dass auf die Journaille nicht wirklich Verlass ist. Schröder blieb am Ende nur der treue Gunter Hofmann von der „Zeit“, mit dem er im Dämmerlicht des Kanzleramtes auf den Abschied anstieß.

Es gibt im Netz wunderbare Kompilationen von Journalistenbeschimpfungen. Wie insbesondere Helmut Kohl Redakteure rundmachte, die ihm nicht passten, ist bis heute sehenswert. „Woher kommen Sie denn?“ „‚Panorama‘.“ 
„Das hätte ich mir denken können, so sehen Sie auch aus.“

Man kann nach wie vor mit Medien Geld verdienen. Aber alle erfolgreichen Neugründungen haben entweder einen solventen Verlag im Rücken. Oder einen Milliardär, der eher mäzenatisch veranlagt ist als von Gewinnabsicht getrieben. Das liegt an den Wettbewerbsbedingungen. Solange sich ein Verleger darauf verlassen konnte, dass sein Produkt an jedem Kiosk auslag, und zwar unabhängig davon, ob es dem Kioskbesitzer gefiel oder nicht, herrschte fairer Wettbewerb. In der digitalen Welt entscheiden internationale Monopolisten, welche Informationen erscheinen und welche unsichtbar bleiben.

Die Politik reagiert darauf, indem sie dort, wo sie das Sagen hat, die Schraube noch fester anzieht. Wir haben ein ausgefeiltes Wettbewerbs- und Kartellrecht, auf dessen Einhaltung peinlich genau geachtet wird. Das Gegendarstellungsrecht sucht seinesgleichen. Nur sobald es um die digitale Welt geht, strecken die Kontrollbehörden die Waffen. Da herrscht der Wilde Westen.

Kein Wunder, dass sich die Gewichte immer mehr zugunsten der Plattformkonzerne verschieben. Der internationale Werbemarkt hatte 2024 ein Volumen von einer Billion Dollar. Die Hälfte davon landete bei fünf Konzernen: Google, Amazon, Meta, Alibaba und Bytedance.

Zusagen und Vereinbarungen haben die Lebensdauer einer Stubenfliege. Viele denken, wenn siebei Google nach einer Information suchen, werde ihnen das angezeigt, was besonders wichtig oder relevant sei. In Wahrheit sehen sie nur das, was Google will, dass sie es sehen. Wenn Google findet, dass seine KI ausreichende Dienste leistet, wird gar nicht mehr auf Nachrichtenseiten verwiesen. Das ist der Traum jedes Monopolisten: die Kunden auf ewig in der eigenen Welt halten.

Mein Vorstand bei Burda, Philipp Welte, hat neulich in einem Interview mit der „FAZ“ auf die Ahnungslosigkeit der Politik hingewiesen. Oder soll man von Naivität reden? Klar, auf Jubiläen und Verbandstagen wird der freien Presse ein Kranz gewunden. Dann wird betont, wie wichtig der ungehinderte Zugang zu verlässlichen Informationen für den Fortbestand der Demokratie sei.

Aber wenn es darauf ankommt, 
das Überleben der Verlage zu sichern, herrscht freundliches Desinteresse. 
Die zuständige Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat in ihrer Amtszeit nicht ­einmal Zeit für einen Termin gefunden. Wenn Politiker das Wort „freie Presse“ 
hören, denken die meisten an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das ist ihr Hätschelkind. Da sitzt man praktischerweise gleich im Aufsichtsrat.

Auch die neue Regierung hat Vorstellungen, was sie lesen möchte, das selbstverständlich. „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehaup
tungen ist durch die Meinungsfreiheit 
nicht gedeckt“, heißt es im Koalitionsvertrag im Kapitel 
„Kultur und Medien“. Die Lüge aus der Welt zu schaffen, ist ein Projekt von geradezu biblischer Dimension. Wie das allerdings so ist mit solchen Menschheitsvorhaben: Sie scheitern meist in der Praxis.

Der Satz steht außerdem im Widerspruch zur geltenden Rechtslage. Selbstverständlich fallen ­falsche Tatsachenbehauptungen unter die Meinungsfreiheit. Es ist jedem unbenommen, die Erde für eine Scheibe zu halten und Tofu für einen geeigneten Fleischersatz – so wie man auch ungestraft behaupten darf, dass Friedrich Merz mit seinen Verhandlungskünsten selbst Donald Trump in den Schatten stellt.

Die Wahrheit ist: Wenn sie könnten, wie sie wollten, würden viele Politiker es auch bei uns gerne wie Donald Trump halten. Nur noch diejenigen zu Pressekonferenzen zulassen, von denen klar ist, dass sie Freunde des Hauses sind. Keine dummen Anquatschungen mehr, keine blöden Fragen und Vorhaltungen – das wäre das Paradies.

Hätte man jemals gehört, dass sich ein Facebook-Manager vor Gericht verantworten musste? Oder ein Mitarbeiter von X oder TikTok, über deren Manipulationsmacht die Politiker ständig Klage führen? Natürlich nicht. Das würde ja bedeuten, dass man sich mit Leuten anlegt, die über Milliardenetats zur Durchsetzung ihrer Interessen verfügen.

Da ist es doch viel einfacher, sich einen kleinen Chefredakteur vorzunehmen, der sich in einem unbedachten Post über die Regierung lustig gemacht hat. Da muss man nur die Staatsanwaltschaft in Gang setzen, und schwups steht die Polizei vor der Tür. Sieben Monate Haft für ein satirisches Bildchen der Bundesinnenministerin, wie jetzt in Bamberg als Urteil ergangen ist? Da fällt selbst Ricarda Lang die Kaffeetasse aus der Hand.

Einmal hat es Google bislang erwischt. Über Jahre haben die Verleger ein Wettbewerbsverfahren gegen das Unternehmen wegen dessen marktverzerrenden Verhaltens bei den Shoppingdiensten vorangetrieben. Im vergangenen September hat der Europäische Gerichtshof Google zu einer Strafzahlung in Höhe von insgesamt 2,4 Milliarden Euro verurteilt.

500 Millionen fließen davon in die deutsche Staatskasse. Zumindest dafür wäre ein Dankeschön angebracht.

© Sören Kunz

Die Welt als Feind

Was soll man US-Bürgern raten, die 
einen Europabesuch planen? Vielleicht 
das: bei der Bestellung im Restaurant 
im Flüsterton reden. Oder besser noch: 
sich einen falschen Akzent zulegen, damit man als Brite durchgeht

Wir sind jetzt Feinde des amerikanischen Volkes. Vergewaltiger. Plünderer. Kriminelle. So hat uns Donald Trump am „Tag der Befreiung“, an dem er der Welt den Zollkrieg erklärte, genannt. Befreiung muss man dabei durchaus wörtlich nehmen: Befreiung von jeglicher Form der Rücksichtnahme. Ein jeder für sich und die USA gegen alle, das ist die Quintessenz der neuen Doktrin.

Ganz besonders hat es der Präsident dabei auf die Europäer abgesehen. Die sind unter allen, die das amerikanische Volk ausnehmen, die Schlimmsten. Hinterhältig, verschlagen, dabei nie um eine Ausflucht verlegen, wenn sie zur Rede gestellt werden. Zölle reichen da nicht, um sie für das erlittene Unrecht zur Verantwortung zu ziehen.

Am Montag hat Trump Reparationen verlangt. Für jeden VW, jeden BMW und jeden Mercedes, der auf amerikanischen Straßen rollt, müsse eine Wiedergutmachung her. „Europa hat uns sehr schlecht behandelt“, erklärte er nach einem Golfwochenende in Florida. „Sie wollen reden. Aber es wird keine Gespräche geben, solange sie uns nicht auf einer jährlichen Basis sehr viel Geld zahlen, für die Gegenwart, aber auch für die Vergangenheit.“

Wenn man die ganze Welt zum Feind erklärt, besitzt man allerdings überall auch nur noch ­Feinde. Das ist unausweichlich. Ich persönlich bin Kummer gewohnt. 
Ich bin schon alles Mögliche genannt worden. Aber ich fürchte, viele, die Trump nun als Wegelagerer und Gauner beschimpft, sehen das nicht so entspannt.

Wäre ich US-Amerikaner, würde ich beim nächsten Europabesuch etwas leiser auftreten. Mein Rat: bei der Bestellung im Restaurant am besten im Flüsterton reden. Und im Hotel so tun, als ob man sich in der Adresse vertan hat.

Oder man legt sich einen Akzent zu, der einen als Brite 
durchgehen lässt. Notfalls funktioniert auch Australier, wenn man das mit dem nasalen englischen Tonfall nicht hinbekommt. Bondi Beach statt Oxford, das sollte selbst der 20-Jährigen aus dem Mittleren Westen gelingen.

Wobei: Die meisten aus dem Mittleren Westen waren noch nicht mal in Washington. Die Hälfte der US-Bürger 
verfügt über gar keinen Reisepass, da nimmt man die Abneigung im Ausland gleich gelassener.

Wenn man in Rom, Wien oder Venedig auf einen Amerikaner trifft, ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Wähler der Demokraten. Hilft alles nichts – 
mitgehangen, mitgefangen. Nach dem Überfall auf die Ukraine haben wir bei den Russen auch keine großen Unterschiede gemacht. So ist das, wenn man jemanden wählt, 
der allen den Stinkefinger zeigt: Dann weisen drei Finger auf einen zurück.

Vielleicht helfen Buttons am Revers. „Ich habe nicht für Trump gestimmt und werde es auch nie tun“. So wie die Bumper-Sticker, mit denen man sich als Tesla-Käufer von Elon Musk distanzieren kann („I bought this car before Elon went crazy“). Ist zugegeben nicht besonders subtil, aber es käme auf den Versuch an.

Was ist schlimmer als ein Bully, der alle herumschubst? Ein Bully, der in Selbstmitleid zerfließt, wie gemein doch die anderen zu ihm seien. Die USA dominieren die Unterhaltungsindustrie, die Ölindustrie, die Finanzindustrie. In der Tech-Welt ist ihre Übermacht so erdrückend, dass praktisch kein Handy und kein Computer mehr ohne ihre Hilfe auskommt. Von den 25 wertvollsten Firmen der Welt stammen 23 aus den Vereinigten Staaten.

Aber im US-Fernsehen steht Trumps Heimatschutzberater Stephen Miller und erklärt mit vor Empörung bebender Stimme, dass auf deutschen Straßen kein amerikanisches Auto zu sehen sei. Amerikanische Steaks gibt es angeblich auch nirgends zu kaufen, weil das amerikanische Fleisch „beautiful“ ist und das europäische „weak“, weshalb man das schwache Fleisch durch Handelstricks vor dem schönen schützen müsse.

Diese Erkenntnis stammt von dem neuen Handelsminister Howard Lutnick. Keine Ahnung, wann der Mann das letzte Mal in Deutschland war. 
Ich lade Lutnick gerne ein, die Fleisch
theke beim Simmel, dem Edeka-Markt bei mir um die Ecke, zu inspizieren. US-Prime-Beef findet sich dort in nahezu jedem Reifegrad und jeder Schnittform, als Tomahawk, T-Bone oder Ribeye, ganz wie der Kunde aus München es wünscht.

In den Medien gilt die Trump-Bewegung als rechtspopulistisch. Das ist das Wort, das sich eingebürgert hat. Tatsächlich reden die Spitzenleute so, als ob sie mit 30 Jahren Verspätung den Weg aus der „Globalisierungsfalle“ finden wollen, wie der Bestseller der Antiglobalisierungsbewegung hieß.

Ständig ist vom ehrlichen Stahlkocher und tapferen ­Farmarbeiter die Rede, denen man ihre Jobs zurückbringen werde. Klingt super, alle Gewerkschafter nicken begeistert. Leider wird übersehen, was ein Paar Nike-Sneaker kosten, wenn man sie nicht mehr in China, sondern in New Jersey produzieren lässt. Auch die Bananen und Kaffeebohnen, die man demnächst in Florida und Mississippi anbaut, kommen mit einem ordentlichen Preisschild.

Das ganze Zollprogramm läuft auf die größte Steuererhöhung der jüngeren amerikanischen Geschichte hinaus. Es sind ja nicht irgendwelche ominösen Ausländer, die man zur Kasse bitten kann. Es sind die heimischen Konsumenten, die den Strafzoll zahlen, wenn sie sich für ein Produkt aus Übersee entscheiden.

Was ist die Idee? Das wird von Tag 
zu Tag unklarer. Peter Navarro, das Mastermind hinter Trumps Zollkrieg, sagt: die Globalisierung beenden und die Arbeitsplätze nach Amerika zurückbringen. Das wäre der Ausstieg 
der USA aus dem Welthandel.

Oder geht es darum, die anderen dazu zu bringen, die Zölle auf amerikanische Produkte zu senken? Aber dann müsste man über Zölle sprechen und nicht über Handelsdefizite. Die lassen sich nicht beseitigen, indem man einfach auf alles, was man ins Land lässt, 20 Prozent draufschlägt.

Das Urteil der Wall Street fällt brutal aus. Das Goldene Zeitalter, das Trump seinen Wählern versprochen hat, be­­ginnt mit der größten Vernichtung von Wohlstand, die ein US-Präsident je auf den Weg brachte. Den „weitreichendsten, unnötigsten und zerstörerischsten wirtschaftlichen 
Fehler in der Moderne“ nennt der „Economist“ Trumps 
Programm. Es fällt schwer zu widersprechen.

Wie es weitergeht? In diesem Ringen sitzen wir ausnahmsweise mal am längeren Hebel. Auch die Deutschen besitzen Aktien, aber lange nicht im gleichen Umfang wie die Amerikaner. 160 Millionen US-Bürger haben ihr Geld am Aktien­markt angelegt. Ein Freund aus Washington rechnete mir am Telefon vor, dass ihn die vergangenen Tage 50 000 Dollar gekostet hätten. Er ist mit seinem Verlust nicht alleine.

Wenn man in Echtzeit sieht, wie sich die Altersvorsorge auflöst, ist es mit dem Vertrauen in die Weisheit der ­Politik schnell vorbei. Da kann der Finanzminister im Fernsehen noch so oft erklären, dass sich alles wieder einpendeln werde und dass es doch toll sei, wie „smoothly“ die Finanzmärkte reagieren würden.

Es wird einsam werden. Um 70 Prozent sind die Buchungen aus Kanada eingebrochen. Auch andere werden sich überlegen, ob sie das Wagnis einer USA-Reise eingehen wollen. Man weiß ja nicht, ob man überhaupt reinkommt – oder wieder raus. Anderseits: Nach Yosemite und Yellowstone kann man 
im nächsten Sommer ohnehin nicht mehr. Die Ranger hat der Elon ja alle entlassen.

Die Einzigen, die hierzulande tapfer zu Trump halten, 
sind die Leute von der AfD. Bei der AfD glauben sie noch, Trump sei einer der ihren. Wie nennt man eine Partei, deren Funktionäre einem ausländischen Staatsmann die Daumen drücken, der Millionen deutscher Fabrik­arbeiter um ihre Jobs bringen und die Basis des deutschen Wohlstands zerstören will? Mir fällt gerade das richtige Wort nicht ein. Patriot ist es jedenfalls nicht.

© Silke Werzinger

18 Stunden

Australien hat Social Media für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Auch in England denkt man über Altersbeschränkungen nach. Nur den Koalitionären in Berlin scheint die psychische Gesundheit von Kindern nicht so wichtig zu sein

Stellen Sie sich vor, Ihre zehn Jahre alte Tochter wurde von einem visionären Milliardär für ein Mars-Besiedlungsprogramm ausgewählt. Kinder kämen mit den ungewöhnlichen Lebensbedingungen, die auf dem Mars herrschen, besser zurecht als Erwachsene, heißt es. Nachdem sie die Pubertät durchlaufen haben, werde ihr Körper dauerhaft auf den neuen Lebensraum zugeschnitten sein. So beginnt Jonathan Haidts Buch „Generation Angst“.

Ihnen ist die Sache verständlicherweise nicht ganz geheuer. Da ist die Strahlung. Man versichert Ihnen, dass Astronauten kein signifikant höheres Krebsrisiko hätten als andere Menschen. Aber Studien über einen längeren Aufenthalt im All existieren verständlicherweise nicht. Man müsste es also darauf ankommen lassen.

Dazu kommt das Problem mit der Schwerkraft. Schon nach wenigen Wochen verändert sich der Körper in der Schwerelosigkeit. Die Knochendichte nimmt ab, Körperflüssigkeiten sammeln sich an Stellen, wo sie es besser nicht tun sollten, zum Beispiel im Kopf, was zu Druck auf die Augäpfel führt. Welche Fehlbildungen die geringere Marsgravitation bei Körpern, die sich noch im Wachstum befinden, zur Folge hätte, ist völlig unklar.

Würden Sie unter diesen Umständen Ihr Kind dem Mann anvertrauen, der den Mars besiedeln will? Die Antwort jedes verantwortlich handelnden Elternteils wäre: selbstverständlich nicht. Wa­rum lassen wir es dann zu, dass Unternehmen unsere Kinder in eine virtuelle Welt entführen, wo sie als Testkandi­daten für eine radikal neue Form des Heranwachsens dienen, die im Gegensatz zu 140 000 Jahren Evolution steht, fragt Haidt.

Durchschnittlich 18 Stunden pro Woche verbringen schon Zehnjäh­rige am Handy oder vor dem Computer. Was den schädlichen Einfluss angeht, ist man in diesem Fall nicht mehr auf Vermutungen angewiesen. Jugendliche, die sich weitgehend unkontrolliert auf Social Media bewegen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Angststörungen und Depressionen zu erkranken, sie zeigen häufiger Essstörungen wie Magersucht und Bulimie und entwickeln ein deutlich vermindertes Selbstvertrauen.

In besonders schlimmen Fällen werden sie suizidal, weil ihre Chatgruppe sich gegen sie wendet. Kinder an die Macht? Das kann nur jemand fordern, der keine Ahnung hat, zu welch destruktiver Energie Zwölfjährige fähig sind.

Seit die KI uns künstliche Gefährten zur Seite stellt, braucht es noch nicht einmal Klassenkameraden, damit sich das Leben verdüstert. Die „Spiegel“-Reporterin Frauke Hunfeld hat gerade in einem aufsehenerregenden Text den Fall eines 14-Jährigen aus Florida nachgezeichnet, der sich in einen Chatbot verliebte und sich dann das Leben nahm, als ihm die Maschine den Befehl gab, sich mit ihr zu vereinen. „Character.ai“ heißt die Plattform. Im August 2024 hat Google für 2,7 Milliarden Dollar die Lizenz erworben.

Den Eltern kann man keinen Vorwurf machen. Als sich ihr Kind immer mehr in sein Zimmer zurückzog, haben sie alles kontrolliert: TikTok, WhatsApp, Facebook. Sie fanden dort nichts Beunruhigendes. Woher hätten sie ahnen sollen, dass das Unheil in dem Fall über die Suchmaschine kam? Sorry, sagen die Anwälte von Google. Der tragische Tod täte ihnen leid, aber sie seien nicht haftbar zu machen.

Wir haben alles reguliert. Das Spielgerät ist TÜV-geprüft, Kindersitze gleichen Hightechgeräten. Der Kinderbrei ist selbstverständlich BPA-frei und in jeder Hinsicht 
als unbedenklich zertifiziert. Doch ausgerechnet bei 
den digitalen Medien, mit denen sich die Kinder den
lieben langen Tag beschäftigten, vertrauen wir auf 
die Zusicherung der amerikanischen Konzerne, dass alles 
schon seine Richtigkeit habe.

Es gibt erste Gegenwehr. Australien hat den Zugang zu sozialen Medien für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. In Großbritannien wird diskutiert, ob man dem Beispiel folgen soll. Auslöser ist dort die Netflix-Serie „Adolescence“, in der ein 13-Jähriger seine Mitschülerin ersticht, weil er sich auf Instagram gemobbt fühlt. In Deutschland soll es jetzt in Hessen und Baden-Württemberg ein Handyverbot an Schulen geben. Aber das war es bei uns bislang.

Interessanterweise sieht man vor allem in linksliberalen Zeitungen strengere Regeln skeptisch. Die Gefahren würden weit übertrieben, heißt es. Minderjährige müssten halt lernen, verantwortlich mit den Neuen Medien umzugehen. Das erinnert an das Argument der Waffenindustrie: Es sind nicht die Waffen, die töten, sondern es sind die Menschen, die sie unsachgemäß benutzen.

Es ist wirklich verrückt. Viele Eltern lassen den Nachwuchs keinen Meter mehr aus den Augen. Mancherorts muss die Polizei morgens Sperrzonen errichten, weil die Zahl der Elterntaxis überhandnimmt. Aber sobald die Tür hinter den Kindern zufällt, überlässt man sie für Stunden der Obhut von Internetmilliardären, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie sozial schwer gestört sind.

Welches Suchtpotenzial die digitalen Ablenkungswelten entwickeln, weiß jeder, der über ein Smartphone verfügt. Die Apps sind so programmiert, dass sie direkt das Belohnungszentrum im Hirn ansprechen. Wir erziehen die Kinder zu Junkies und wundern uns dann, wenn sie die Hände nicht vom Telefon lassen können.

Ein Argument, mit dem sich jedes Elternpaar herumschlagen muss: „Aber der Jonas darf das auch.“ Was übersetzt so viel heißt wie: Wollt ihr, dass ich zum Außenseiter werde, gehänselt und verlacht? Es ist ein sehr wirksames Argument. Ich habe fünf Kinder. Die beiden ältesten sind, Gott sei Dank, schon aus dem Gröbsten raus. Aber mit den Kleinen ist es jedes Mal wieder ein Kampf.

Auf eine Art freiwillige Selbstkontrolle der Konzerne zu setzen, scheint mir kein geeignetes Konzept. Das ist so, als ob man dem Schlachter die Kontrolle des Schlachthofs übertragen würde. Kann gut gehen, wenn der Schlachter das Herz einer Nonne hat. Doch in der Regel siegt die Profitgier.

Die staatlichen Kontrollinstanzen? Sind heillos überfordert. Jugendschutz ist ein hohes Gut, aber bei den Techkonzernen streckt man die Waffen. Da reicht ein Klick, mit dem man erklärt, dass man das 16. Lebensjahr erreicht hat, und schon steht einem alles offen. Niemand könne von ihnen verlangen, das Alter der Kunden genauer zu prüfen, heißt es zur Begründung.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr neige ich dazu, das australische Modell für nachahmenswert zu halten. Es wird immer Jugendliche geben, die ein Verbot umgehen. Aber das ist wie mit dem Alkohol. Auch der ist überall verfügbar. Dennoch käme niemand auf die Idee, die Altersbeschränkung beim Verkauf aufzuheben.

Ich habe in den Entwurf für den Koalitionsvertrag gesehen. An alles haben die Unterhändler gedacht: die Einführung einer obligatorischen Elementarversicherung für Hauseigentümer. Die Bekämpfung des illegalen Glücksspiels. Die gesundheitlichen Belange der queeren Community. Selbst die Regulierung des Ticketzweitmarkts für Sportveranstaltungen, um Verbraucher vor überhöhten Preisen zu schützen, ist ihnen eine Erwähnung wert.

Nur die psychische Gesundheit unserer Kinder scheint auch für die neue Regierung kein Thema zu sein. Das Einzige, was sich dazu findet, ist ein Wischiwaschi-Satz, wonach das Aufwachsen mit digitalen Medien Medienkompetenz brauche. Altersbeschränkungen für Minderjährige, Sicherheitsvorgaben an die Techkonzerne? Dazu kein Wort.

Aber das ließe sich ja noch ändern, nicht wahr? Weshalb nicht in den Koalitionsvertrag einen Passus aufnehmen, was man unter Jugendschutz im Zeitalter von Social Media versteht? Es gibt in Deutschland elf Millionen Kinder unter 14 Jahren. Da die meisten bei ihren Eltern leben, darf man davon ausgehen, dass es sich um eine nicht ganz unbedeutende Wählergruppe handelt – größer jedenfalls als die Anhänger des illegalen Glücksspiels oder die queere Community. ­Warum nicht mal zur Abwechslung etwas für die Mehrheit tun? Die wäre dafür dankbar.

© Michael Szyszka

Versuch einer Zermürbung

Seit zweieinhalb Jahren verfolgt die Staatsanwaltschaft Göttingen die Journalistin Anabel Schunke. Der Fall sagt viel über das neue Selbstbewusstsein staatlicher Organe, die im „Kampf gegen Hasskriminalität“ die Meinungsfreiheit beschränken

Im Juni 2009 machte der Philosoph Peter Sloterdijk einen Vorschlag, der ihn fast den Kopf gekostet  hätte. In einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine“ schlug er vor, staatliche Zwangsabgaben durch freiwillige Bürgerspenden zu ersetzen. Beim modernen Steuerstaat handele es sich um eine „rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie“. Was man schamhaft als „Soziale Marktwirtschaft“ bezeichne, sei in Wahrheit ein „Semi-Sozialismus“, gegen dessen fiskalische Enteignung man sich zur Wehr setzen müsse.

Kaum jemand erinnert sich noch daran. Sloterdijk ist seit Langem ein für seine originellen Einreden hochgeschätzter Feuilletongast. Das war vor fünfzehn Jahren anders. Da regnete es mächtig auf den Philosophen herein. „Leeres Sphären- und Blasengeschwätz“ machte die „taz“ in seiner staatskritischen Intervention aus. Als „Reaktionär“ und „geistigen Brandstifter“ fertigte man ihn ab, als einen, der die niedersten Instinkte und Affekte bediene.

Wer als „Staatsfeind“ gilt, kann einpacken. Umgekehrt lässt sich kein größeres Lob denken, als jemand als „staatstragend“ zu bezeichnen. Wenn man über die Grünen sagt, dass auf sie auch in kritischen Stunden wie der Abstimmung über das Schuldenpaket Verlass sei, weil sie so staatstragend wie keine andere Partei seien, wird das selbst von ihnen nicht als Beleidigung, sondern als Auszeichnung verstanden. Das Bewusstsein für staatliche Anmaßung ist dementsprechend schwach ausgeprägt.

Beim Surfen im Netz bin ich Anfang der Woche auf den Fall einer Journalistin gestoßen, der aus meiner Sicht zeigt, warum mehr Staatsskepsis dringend angezeigt wäre. Anabel Schunke heißt die Kollegin, sie schreibt für die „Weltwoche“, „Tichys Einblick“ und die „Achse des Guten“.

Ich finde vieles etwas überspannt. Wie bei vielen, die für sogenannte alternative Medien arbeiten, steht der Zeiger immer auf fünf nach zwölf. Anderseits, Jette Nietzard von der Grünen Jugend scheint mir auch keine besonders ausbalancierte Person zu sein. So ist das manchmal, wenn man mit heißem Herzen dabei ist. Da haut man auch Sachen raus, die man bei zweitem Nachdenken besser nicht rausgehauen hätte.

Im April 2022 setzte Frau Schunke auf Twitter, wie X damals noch hieß, einen längeren Tweet ab. Ich zitiere ihn vollständig, weil in juristischen Auseinandersetzungen jedes Wort zählt.

„Ein großer Teil der Sinti und Roma in Deutschland und anderen Ländern schließt sich selbst aus der zivilisierten Gesellschaft aus, indem sie den Sozialstaat und damit den Steuerzahler betrügen, der Schulpflicht für ihre Kinder nicht nachkommen, nur unter sich bleiben, klauen, Müll einfach auf die Straße werfen und als Mietnomaden von Wohnung zu Wohnung ziehen“, schrieb Schunke. „Wer das benennt, wird von der eigenen Innenministerin des neu erfundenen ‚Antiziganismus‘ bezichtigt. Wie jedwede andere Kritik an einer jahrzehntelang völlig fehlgeleiteten Zuwanderungspolitik soll auch diese unter dem Rassismusvorwurf erstickt werden.“

Wäre ich Sinti oder Roma, würde ich mich zweifellos ärgern. Es gibt auch in dieser Volksgruppe viele Menschen, die brav den Müll entsorgen, ihre Kinder pünktlich zu Schule schicken und ohne Verzug die Miete entrichten. Ist der Post also grob vereinfachend und verallgemeinernd? Mit Sicherheit. Aber ist er auch strafbar? Das ist die Frage, seit die Staatsanwaltschaft Göttingen gegen Anabel Schunke ein Verfahren wegen Volksverhetzung einleitete.

Die Sache zieht sich jetzt seit zweieinhalb Jahren. Erst beantragte die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl, den der zuständige Richter mit dem Hinweis ablehnte, bei dem Post handele es sich um zulässige Regierungskritik im Rahmen der Meinungsfreiheit. Als die Staatsanwaltschaft nicht lockerließ, gab es doch einen Strafbefehl, über 3600 Euro. Weil den wiederum die Journalistin nicht akzeptieren wollte, landete die Sache vor dem Amtsgericht, das den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt sah und Schunke zu einer Strafe von 5400 Euro verurteilte.

Ich bin fest angestellt. Wenn mich jemand wegen meiner Texte verklagt, leite ich das kalt lächelnd an die Anwaltskanzlei Söder Berlinger weiter. Aber das sieht bei einer freien Journalistin anders aus. Die ist nicht so einfach in der Lage, sich auf längere Rechtsstreitigkeiten einzulassen. Das wissen auch die Staatsanwälte, die sie ins Visier genommen haben. Deshalb setzen sie auf Zermürbung. Oder soll man besser von demonstrativer Einschüchterung sprechen?

Wie soll man es nennen, wenn eine Staatsanwaltschaft trotz ihres Erfolges vor Gericht anschließend in Berufung geht, weil sie findet, die Strafe könnte im Grunde noch höher ausfallen? „Die Angeklagte ist Journalistin und genießt hierdurch ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung“, hieß es zur Begründung. „Wenn sie also derartige Inhalte veröffentlichen kann, ohne dass es einschneidende Konsequenzen hat, könnte dies zu einem negativen Vorbildeffekt führen.“

Es hat sich etwas verschoben. Man sieht es auch am Selbstbewusstsein der Ermittler, die eigentlich zur Unparteilichkeit verpflichtet sind. Wie der Zufall es will, hatten Vertreter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet, wie die Göttinger Schwerpunktstaatsanwaltschaft vollständig heißt, einen Auftritt in der CBS-Sendung „60 Minutes“. Es ging um Meinungsfreiheit in Deutschland. Da saßen sie nebeneinander und amüsierten sich über die Bürger, denen sie die Polizei auf den Hals hetzen, um ihnen zur „Strafe“ Computer und Handy wegnehmen zu lassen.

Handy-Entzug als Strafe für vermeintlich anstößige Äußerungen? Das ist eine eher eigenwillige Auslegung der Gewaltenteilung. Normalerweise erfolgt im Rechtsstaat die Strafe erst nach dem Urteil. Aber so ist das, wenn der Staat gegen Hasskriminalität vorgeht: Dann reicht schon der Verdacht eines Fehlverhaltens.

Auch die Empfindlichkeiten nehmen zu. In Nordrhein-Westfalen wurde vor einer Woche eine Meldestelle gegen antiasiatischen Rassismus in Betrieb genommen. Meldestellen für Antifeminismus oder Muslimfeindlichkeit, das kannte man. Aber eine Meldestelle wegen Vorurteilen gegen „asiatisch gelesene“ Menschen, wie die korrekte Bezeichnung in dem Fall lautet?

Das WDR-Magazin „Cosmo“ hat dankenswerterweise in einem Beitrag, in dem die Stelle beworben wurde, plastisch gemacht, was unter antiasiatischem Rassismus zu verstehen ist. Auch scheinbar positive Aussagen wie „Du kannst gut Mathe“ könnten Betroffene verletzen und seien deshalb meldewürdig.

Unnötig zu sagen, dass die politische Gesinnung des Angeklagten nicht unerheblich ist. Ein anderer Netzfund aus dieser Woche: Ein Rechtsanwalt bringt einen Beitrag zur Anzeige, in dem ein X-Nutzer die Abschiebung von Flüchtlingen mit dem Holocaust vergleicht. Die Staatsanwaltschaft Bayreuth stellt das Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung ein. Begründung: Der Beschuldigte bekenne sich dazu, dass der Holocaust ein einmaliges und unvergleichliches Verbrechen gewesen sei, und setze sich auch privat und beruflich für Vielfalt, Toleranz und Inklusion  ein. „Die Auswertung weiterer Posts ergab eine eindeutig linksgerichtete Gesinnung. Damit liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten vor.“

Wie es im Fall Schunke weitergeht? Vor einer Woche kam die 5. Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zu einem Freispruch. Ein Angriff auf die Menschenwürde im Sinne des Volksverhetzungsparagrafen sei nicht erkennbar, die Ausführungen der Angeklagten seien zurückhaltend und insbesondere unter Beachtung der Meinungsfreiheit auszulegen.

Hat die Sache damit ein Ende? Mitnichten. Die Staatsanwaltschaft will in Berufung gehen und den Freispruch anfechten. Was sollte sie daran auch hindern? Im Gegensatz zu der Journalistin, die alle Verfahrenskosten selbst tragen muss, verfügt die Staatsanwaltschaft über nahezu unbegrenzte Mittel.

Vielleicht hatte Sloterdijk doch nicht so unrecht. Der moderne Staat ist nicht nur ein geldgieriges Ungeheuer. Was er dem Bürger entzieht, verwendet er gegen ihn, wenn er sich seinen Anweisungen widersetzt. Das ist dann der ultimative Triumph.

Wenn Rechte weinen

Schwingen sie vielleicht bei der AfD auch deshalb so wilde Reden, damit nicht auffällt, wie soft sie in Wahrheit sind? Nix mit soldatischen Tugenden: Wenn es um Russland oder die Hamas geht, setzt man ganz auf Ökumene und das gute Gespräch

Ich muss mich bei Tino Chrupalla entschuldigen, dem Chef der AfD. Ich habe ihn wegen seiner Physiognomie als SA-Gesicht verspottet. Ich habe mich dazu verleiten lassen, vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Das war voreilig und falsch. Man soll Menschen an ihren Worten und Taten messen und nicht am Aussehen.

Tino Chrupalla hat mit einem Faschisten so viel zu tun wie der Duce mit einem Haschbruder. Wenn es eine Person gibt, an der sich der AfD-Vorsitzende außenpolitisch orientiert, dann ist es Margot Käßmann, die Frau, die Beten mit den Taliban empfahl. Das ist sein Vorbild, nicht der Führer.

Vor drei Wochen wurde der AfD-Vorsitzende gefragt, wie er zu Waffenlieferungen an Israel stehe. Die AfD sei strikt gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete, lautete seine Antwort. Man müsse stattdessen ins Gespräch kommen. Diplomatische Beziehungen suchen, damit der Nahe Osten endlich zur Ruhe komme, das war seine Empfehlung.

Auf die Nachfrage, wie er sich diplomatische Beziehungen zu einer Terrororganisation wie der Hamas vorstelle, antwortete Chrupalla ganz im Sinne des Käßmann’schen Evangeliums, wonach man auch dem Islamisten mit ausgestreckter Hand und offenem Herzen begegnen sollte. Man dürfe nicht vergessen, dass auch 40000 Zivilisten in Gaza gestorben seien, sagte er: „Für mich ist Mensch Mensch, das sage ich ganz ehrlich.“ Schöner hätte es die ehemalige Ratsvorsitzende nicht ausdrücken können.

Nicht einmal Rechte reden, wenn’s um Krieg und Frieden geht, noch wie Rechte. Früher hätte die Lösung auf der Hand gelegen. Da hätte man die Mordbuben so lange unter Feuer genommen, bis sie nicht mehr in der Lage gewesen wären, größeres Unheil anzurichten. Das ist ziemlich genau der israelische Ansatz, aber die Juden haben ja auch nicht das Neue Testament. AfD-Politiker wie Chrupalla hingegen setzen ganz auf Ökumene. Niemals Waffen in Spannungsgebiete, da Waffen die Sache nur schlimmer machen, wie jeder weiß, der Chamberlain für eine Sektmarke hält und D-Day für eine Netflix-Serie.

Leider war in dem Interview, in dem Chrupalla seine Friedenspläne vorstellte, nicht mehr Zeit für eine Nachfrage, wie genau er sich das Zusammenleben mit Leuten vorstellt, die Babys erwürgen und Partys auf Kindersärgen veranstalten. Mir fehlt die Fantasie, wie man mit solchen Menschen friedlich Tür an Tür leben soll. Dass ausgerechnet eine Partei gute Nachbarschaft mit der Hamas empfiehlt, die sonst bei jedem Muslim den Krummdolch im Gewand wittert, gehört zu den Mysterien des politischen Lebens.

Aber so ist das in der AfD-Welt. Sobald der Muslim vor der Haustür aufkreuzt, werden alle hysterisch. Wenn es um internationale Konflikte geht, herrscht hingegen jesusartiges Vergeben und Vergessen. Da schaut man sich tief in die Augen, auf dass aller Hass erlösche. Diplomatische Lösung statt Säbelrasseln, heißt der Zaubersatz. Das ist bekanntlich auch der Ansatz im Umgang mit dem Weltbösewicht Russland.

Ich gebe zu, es ist ein wenig verwirrend. Es waren doch immer die Linken, die auf Parteitagen die Kraft der Sonnenblume beschworen und Friedenslieder anstimmten, wonach das weiche Wasser den Stein bricht. Und nun reden sie bei den Grünen der Aufrüstung das Wort und in der AfD bekommen sie schon weiche Knie, wenn der Russe nur einmal „Atombombe“ sagt.

Rückbesinnung auf die Männlichkeit? Wiederkehr soldatischer Tugenden? Härte gegen sich selbst? Alles Käse. Einen seiner bekanntesten Auftritte verdankt der AfD-Abgeordnete Maximilian Krah dem Loblied auf mehr maskuline Energie. Nur rechte Männer seien echte Männer, wer das beherzige, bei dem klappe es auch wieder mit den Frauen. Ich fürchte, in Wahrheit ist das Einzige, was bei diesen Leuten aufrecht steht, der Hals der Weinflasche, den sie auf dem Weg zum Sofa umklammern.

Wenn der Historiker Herfried Münkler mit seinem Befund recht hat, dass wir in einer postheroischen Gesellschaft leben, dann ist die AfD der beste Beweis. Von der Linkspartei erwarte ich nichts anderes, die waren schon immer auf dem Anti-Bundeswehr-Trip. Das macht sie ja auch zur idealen Partei für Leute, die über „Work-Life-Balance“ reden können, ohne dabei zu lachen, und Sabbatical für den Normalzustand zwischen zwei Praktika halten. Aber rechts der Mitte?

Ich gebe zu, mich haben schon beim Anblick der Krah-Videos Zweifel beschlichen. Wenn jemand so gar nicht nach Pick-up-Artist aussieht, dann Maximilian Krah. Ich würde sagen: eher Abteilung Thekenschwafler, der immer bis zum Schluss bleibt, weil er sich so gerne reden hört.

Krah ist vermutlich auch der Typ, der beim Sex die Socken anlässt. Immerhin, er hat acht Kinder gezeugt, mag jetzt der eine oder andere einwenden. Aber das ist kein echtes Gegenargument. Wie man weiß, bekommen das selbst die Amish hin. Und die machen vorher das Licht aus und lassen nicht nur die Socken an.

Mir kommt das alles seltsam bekannt vor. Ich gehöre zu einer Generation, die noch einer sogenannten Gewissensprüfung unterzogen wurde, wenn sie den Wehrdienst verweigern wollte. Zum angesetzten Termin musste ich mich im Kreiswehrersatzamt in Hamburg-Uhlenhorst einfinden, wo mich drei Bundeswehroffiziere befragten, was ich denn zu tun gedächte, wenn der Russe gegen ein Krankenhaus anrücken würde, in dem ich mich mit Kindern und Frauen befände. Würde ich dann die Waffe aufnehmen – oder die Hilfsbedürftigen ihrem Schicksal überlassen?

Ich habe mich auf eine Art Befehlsnotstand herauszureden versucht. Was auch immer ich täte, meine Seele würde schaden nehmen, erklärte ich, worauf mir einer der beiden Offiziere entgegenschleuderte, ob ich damit sagen wollte, dass jeder Soldat ein seelischer Krüppel sei? Dass ich heute Tino Chrupalla in dem 18-jährigen Wehrdienstverweigerer von damals wiederbegegnen würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

In dem Krankenhaus-Beispiel ist gleichwohl eine Kalamität des Pazifismus beschrieben: Auch wer nicht zur Waffe greift, macht sich schuldig, in dem Fall am Tod von Frauen und Kindern, die er mit Waffengewalt hätte schützen können. Leider gibt es Menschen, die sich durch das demonstrative Zeichen von Schwäche nicht besänftigen lassen, sondern im Gegenteil ermuntert fühlen. Wenn man denen den Hals hinhält, beißen sie erst recht zu. Deshalb sind die Nazis auch nicht durch Zureden in die Knie gezwungen worden, sondern durch Waffengewalt.

Vielleicht sind die AfD-Pazifisten am Ende nur devote Charaktere, die einen Kerl wollen, der sie mal richtig rannimmt. Das wäre die individualpsychologische Deutung. Als ich mich neulich über die neue Russland-Liebe des amerikanischen Präsidenten lustig machte, bekam ich einen Tweet des stellvertretenden Vorsitzenden der NRW-AfD Sven Tritschler in meine Timeline gespült: „Ach Gott, Fleischhauer. Irgendwann ist ein Bild von Dir im Lexikon neben dem Begriff ‚Cuck‘“, schrieb er.

Ich musste das Wort „Cuck“ erst einmal googeln. Es erfreut sich in der rechten Szene außerordentlicher Beliebtheit, wie ich bei der Gelegenheit gelernt habe, und meint einen verweichlichten Mann, der liberalen Ideen anhängt. Na ja, kann ich nur sagen.

Möglicherweise schwingen sie ja deshalb bei der AfD ständig so wilde Reden, damit nicht auffällt, wie soft sie in Wahrheit sind. Die Vorliebe für Tracht und Jagd, die Begeisterung für Leni Riefenstahl, Runenschrift und schwarzes Leder: alles Gemache, alles Show. Ich sehe das Profilbild von Sven Tritschler, und ich sehe die Ledermaus, die auch noch auf der Bondage-Party ungeküsst bleibt, weil niemand Interesse hat, ihr den Hosenboden zu versohlen.

Insofern hat Margot Käßmann vielleicht doch recht: Ein bisschen mehr Liebe, und vieles würde sich von selbst erledigen.

© Michael Szyszka

Der Schattenstaat

Die SPD hat den Verzicht auf alle Fragen nach der Finanzierung sogenannter Nichtregierungsorganisationen zur Vorbedingung für Koalitionsgespräche gemacht. Verständlich: Das Netzwerk der staatlich geförderten Aktivistenvereine ist die heimliche Machtbasis von Rot-Grün.

Deutschland steht am Abgrund. Nein, nicht wegen Donald Trump und dem Theater um Selenskyj. Auch das ist schlimm. Aber noch schlimmer ist es, wenn die Grundfesten des Gemeinwesens von innen ausgehöhlt werden!

Einen Anschlag auf die Demokratie hat die Linkspartei ausgemacht. Grünen-Vorstandsmitglied Sven Giegold sieht ungarische Verhältnisse aufziehen. Es drohe nicht weniger als die Überwachung und Einschüchterung der Zivilgesellschaft.

Was ist geschehen? Die CDU-Fraktion hat eine Kleine Anfrage eingebracht, in der sie die Bundesregierung um Auskunft bat, welche NGO vom Staat finanziert werden. So fragil ist unsere Demokratie: Eine parlamentarische Anfrage im Bundestag und alles, was unsere Verfassungsväter und -mütter auf den Weg gebracht haben, ist in Gefahr.

Ich dachte immer, NGO komme vom englischen Wort „Non-Governmental Organisation“, zu Deutsch „Nichtregierungsorganisation“. Also eine Institution, die unabhängig und überparteilich ist und staatlichen Akteuren kritisch auf die Finger schaut. Wie naiv von mir. Wie man jetzt weiß, steht NGO für „Organisation, die sich so an Staatsgeld gewöhnt hat, dass schon die Frage nach der Höhe als Sakrileg empfunden wird“.

In gewisser Weise verstehe ich die Aufregung. Schlüge mein Herz für Rot-Grün, hätte ich auch ein gesteigertes Interesse daran, dass die Umwegfinanzierung von Vereinen  wie „HateAid“, „Neue deutsche Medien- macher*innen e. V.“ oder dem Recherchenetzwerk „Correctiv“ nicht zu hell ausgeleuchtet wird. Was bei den Grünen unter Zivilgesellschaft läuft, meint in Wahrheit Vorfeldorganisationen der Bewegung. Hier liegt die eigentliche Machtbasis, auf der ein nicht unwesentlicher Teil des gesellschaftlichen Einflusses beruht.

Die „Welt“ sprach in einem Artikel vom „Deep State“. Ich hielt das für eine journalistische Übertreibung. Nach der Aufregung der vergangenen Tage muss ich sagen: Möglicherweise hat die „Welt“ doch recht. Wenn es verboten ist, nach Geldflüssen zu fragen, weil bereits die Frage als demokratiefeindlich gilt, ist „tiefer Staat“ eigentlich noch zu harmlos. Vielleicht sollte man eher von „Schattenstaat“ reden.

Man ist gut vernetzt, auch das zeigt sich jetzt. Wer als Journalist einen Artikel mit einem alarmierenden Zitat illustrieren will, muss nur anrufen, und die Nichtregierungsorganisation der Wahl hilft gerne aus. Die einen liefern die Studien, die andern die mediale Verbreitung, das ist der Deal.

Selbstverständlich hält der Betrieb jetzt auch schützend die Hand über die Partner. „Ich muss es so hart sagen: Ich dachte, ich lese eine Kleine Anfrage der AfD. Bin ehrlich entsetzt“, schrieb die „Spiegel“-Redakteurin Ann-Katrin Müller auf Bluesky. Am Dienstag folgte dann der Artikel über die „große Besorgnis“ linker Wissenschaftler über die „weitere Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft“. 1700 Unterschriften von „Forschenden“, von denen nicht wenige wiederum über enge Beziehungen zu den NGOs verfügen, deren Gelder sie nun unbedingt sichern wollen.

Einige NGOs begnügen sich nicht damit, die erwünschten Stichworte zu liefern. Im Zweifelsfall werden auch Gegner markiert und verleumdet. Ein beliebtes Mittel dazu ist die Liste. Die Bundesregierung fördert ein Projekt gegen Antifeminismus. Die Amadeu Antonio Stiftung richtet eine Meldestelle ein, bei der man jeden anzeigen kann, der sich eines antifeministischen Vergehens schuldig gemacht hat, wozu schon die Behauptung zählt, dass ein Mensch mit einem Penis keine Frau sein könne. So schließt sich der Kreis.

Als zentrale Anlauf- und Umverteilungsstelle staatlicher Gelder fungiert dabei das Bundesfamilienministerium. Hier laufen die Geldströme zusammen, von hier aus fließen sie über eine schier unübersehbare Zahl von Kapillaren auf die rot-grüne Blumenwiese. In manchen Fällen deckt die Förderung nahezu den gesamten Personaletat. Ausweislich des Haushaltsplans für das Jahr 2023 beliefen sich die Personalkosten der Amadeu Antonio Stiftung auf 6 291 809 Euro. Zuschüsse der öffentlichen Hand: 6 055 277 Euro. Womit sich der in Berlin ansässige Verein den Innovationspreis als erste staatseigene Nichtregierungsorganisation verdient hat.

Der größte Taschenspielertrick der Linken bestand schon immer darin, die eigenen Interessen als gemeinnützig auszugeben. Dass sich Lobbyisten für den Aufbau von Windanlagen oder die Einführung des Gendersterns einsetzen, so wie andere für den Schutz der Raucher oder die Rückkehr zu traditionellen Familienwerten – dagegen ist nichts zu sagen. Aber schon dieser Vergleich gilt als anstößig. Wenn linke Interessen berührt sind, geht es immer ums große Ganze. Wer das hinterfragt, stellt die Demokratie und den Rechtsstaat zur Disposition.

„Die sich heute als ‚links‘ Lesenden beziehen ihren Stolz aus moralischer Definitionsmacht“, hat Thierry Chervel, einer der unbestechlichsten Beobachter des politischen Geschehens, anlässlich des 25-jährigen Bestehens des „Perlentauchers“ in einem „taz“-Interview zu Protokoll gegeben. „Sie sehen sich als Wahrer bestimmter Normen und Standards, die sie selber setzen und die es ihnen dann ermöglichen, zu definieren, wer dazugehört und wer ausgeschlossen wird. Ihre Definitionsmacht ist zugleich ein Geschäftsmodell. Wer sich ihren Normen fügt und sie verficht, hat dann eine Chance auf eine Beamtenstelle im Beauftragtenwesen.“ Genau so ist es.

Es gebe nun wirklich Wichtigeres als ein paar Tausend Euro für die „Omas gegen Rechts“, heißt es jetzt. Das ist die zweite Verteidigungslinie: die Verharmlosung und Verniedlichung staatlicher Förderung. Dass dieses Argument von denselben Leuten vorgetragen wird, die eben noch die Demokratie am Abgrund sahen – egal. So ist das im linken Spiegelkabinett: Was gerade klein war, kann plötzlich ganz groß sein, und was eben noch groß erschien, um nicht zu sagen staatstragend, ist im Handumdrehen wieder ganz klein.

Immerhin ist das Thema der SPD als der letzten verbliebenen Schutzmacht der linken Quersubventionierung so wichtig, dass deren Anführer Lars Klingbeil den Verzicht auf weitere Fragen zur Finanzierung zur Vorbedingung von Koalitionsgesprächen gemacht hat. Größer geht’s eigentlich nicht.

Ich habe bei der Gelegenheit gelernt, dass Klingbeils Frau selbst eine NGO leitet, das Digitalnetzwerk D21. Googelt man weiter, erfährt man, dass die Initiative D21 im Geschäftsjahr 2023 von vier Bundesministerien Zuwendungen in Höhe von insgesamt 150 000 Euro erhielt. In jedem normalen Unternehmen wäre es ausgeschlossen, dass die Ehefrau eines der Vorstandsmitglieder aus der Firmenkasse Geld für ihre eigenen Projekte erhält. Aber solche Compliance-Regeln schenkt man sich in der Politik. Da arbeitet man ja für den Erhalt der Demokratie, da kann man auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen, nicht wahr?

Wir werden sehen, wie es weitergeht. Wer sich im Bundesfamilienministerium umhört, erfährt, dass dort, Stand Anfang der Woche, noch keine Anfrage eingegangen war. Auch in anderen Ministerien herrscht Stillstand der Rechtspflege, wie man so schön sagt. Offenbar setzt man im Kanzleramt darauf, dass sich die Sache im Sande verläuft, wenn man einfach so tut, als ob es die Anfrage der Union nie gegeben hätte.

„Die Linke hat keine Mehrheit mehr“, hat Friedrich Merz einen Tag vor der Bundestagswahl seinen Wählern zugerufen. „Die linke Politik ist vorbei.“ Das war keine Prophezeiung, das war ein Versprechen.

Ich wage an dieser Stelle eine Vorhersage. Wenn die Union klein beigibt, dann war’s das mit dem Ende der linken Politik. Dann wissen alle, wer in der neuen Regierung Koch und wer Kellner ist, um ein Wort von Gerhard Schröder aufzunehmen.

Gewiss gibt es wichtigere Themen als die 5000 Euro für die „Omas gegen Rechts“ oder die sechs Millionen für die Amadeu Antonio Stiftung. Aber manchmal ist es das symbolische Detail, das für das große Ganze steht.

Der Präsident als Schläger

Das ist die USA unter Donald Trump: ein Schurkenstaat, der zu Einschüchterung und Erpressung greift, um sich Schwächere gefügig zu machen. Und nun? Nun müssen wir uns halt zur Wehr setzen

Ich habe übers Wochenende den „Paten“ geschaut. Es heißt gelegentlich, Donald Trump verhalte sich wie ein Mafiaboss. Auch ich habe ihn schon als solchen bezeichnet. Aber das ist eine völlig unzutreffende Beschreibung.

Der Mafiaboss agiert in einem festen System von Regeln und Verbindlichkeiten. Die ersten 30 Minuten des „Paten“ vergehen mit der Schilderung einer Hochzeit. Es dauert so lang, weil sich vor dem Arbeitszimmer des Don eine Reihe von Besuchern gebildet hat, die ihm ihre Nöte und Sorge vortragen wollen. Am Hochzeitstag seiner Tochter könne ein Sizilianer keinen Wunsch abschlagen, heißt es an einer Stelle zur Erklärung.

Donald Trump ist kein Pate. Sein Arbeitszimmer steht nur Besuchern offen, die einen Umschlag mit Bestechungsgeld bei sich führen. Oder Lösegeld. In Wahrheit ist er nicht mehr als ein Straßenschläger, der die Verwundbarkeit seiner Opfer ausnutzt. Wenn jemand Schwäche zeigt, langt er zu. Wo er feststellt, dass einer sich zu wehren weiß, geht er auf Abstand.

Im „Wall Street Journal“ konnte man die Tage nachlesen, wie der neue amerikanische Finanzminister Scott Bessent nach Kiew reiste, um dem ukrainischen Präsidenten die Waffe an den Kopf zu setzen. Bei dem Treffen holte der Emissär ein Papier heraus, mit dem sich Selenskyj verpflichten sollte, auf Bodenschätze und seltene Erden im Wert von vielen Milliarden Euro zu verzichten. Als er sagte, er könne das nicht auf die Schnelle unterschreiben, antwortete Trumps Emissär, dann habe er ein Problem.

Wörtlich schreibt das „WSJ“ über die Begegnung: „Bessent schob das Papier über den Tisch. Selenskyj warf einen kurzen Blick darauf und erklärte, er würde es mit seinem Team besprechen. Bessent schob das Papier noch näher an Selenskyj heran. ‚Sie müssen das unterschreiben. Die Leute in Washington sind sonst sehr unglücklich.‘“ Als Selenskyj sich weiterhin weigerte, hieß es danach, er sei ein Diktator und habe den Krieg gegen Russland begonnen, weshalb man ihm keine weitere Hilfe gewähren werde.

Das ist die USA unter Donald Trump: ein Schurkenstaat, der zu Einschüchterung und Erpressung greift, um seinen Willen durchzusetzen. Wer sich den Forderungen widersetzt, wird mit Drohungen überzogen – oder gleich den russischen Horden ausgeliefert. Trump erledigt die Drecksarbeit ja nicht einmal selbst. Die überlässt er dem Sauron im Kreml. Dagegen sind selbst notorische Halsumdreher-Staaten wie Saudi-Arabien regelbasierte Gemeinwesen. Da kann man wenigstens mit einem gewissen Zutrauen in einmal getroffene Verabredungen darauf setzen, dass die Zusagen gelten, die gemacht wurden.

Ich glaube, die meisten haben noch nicht wirklich begriffen, was die zweite Amtszeit Trump für Deutschland bedeutet. Was wir erleben, ist mehr als das Ende der Nachkriegsordnung, in der wir uns darauf verlassen konnten, dass die USA bereit stand, wenn es ernst wurde. Dafür hätte ich sogar ein gewisses Verständnis. Dass die Amerikaner es leid sind, die Hauptlast der Verteidigungskosten zu tragen, um dann von den Europäern gesagt zu bekommen, was sie alles falsch machen – darauf hätte ich auch keine Lust. Aber der Bruch geht viel weiter. Europa ist nicht nur kein Verbündeter mehr. Wir sind jetzt selbst als Feind markiert.

Dass man nicht alles für bare Münzen nehmen sollte, was Trump so erklärt? Darauf sollten wir uns nicht verlassen. Wir können auch nicht mehr darauf setzen, dass es in der Nähe des Präsidenten Menschen gibt, die seine Impulse mäßigen. Um zur Entourage zu gehören, muss man alles nachplappern, was der Präsident vorgibt. Das ist die Voraussetzung. Es ist ein komplett geschlossener Kreis von Menschen, die sich gegenseitig retweeten.

Was also tun? Wie es der Zufall wollte, war ich vergangene Woche in Brüssel, als die Nachricht lief, dass die USA jetzt gemeinsame Sache mit den Russen machen. Am zweiten Tag meines Besuchs lud mich die „Vereinigung europäischer Journalisten“ zu einem „Working Lunch” ein, wie dort die Kombination aus Mittagessen und Arbeitssitzung heißt. Alles très français.

Neben mir saß der neue Sprecher des Europäischen Parlaments. Die Gastgeber hatten vermutlich erwartet, dass wir einander beharken würden. Aber am Ende hatte ich den Eindruck, dass sie in der EU durchaus begriffen haben, dass diese Krise alles ändert. Statt den Bürgern das Leben schwer zu machen, indem man immer neue Regelungen ersinnt, Europa zum Verteidigungsbündnis umzubauen: Das wäre ja mal etwas, was viele unterstützen könnten. „Defend Europe“ klingt doch ganz anders als die nächste Inaussichtstellung einer weiteren Vertiefung des Lieferkettengesetzes.

Einige meiner Leser wird das überraschen: Ich denke, wir können froh sein, dass Ursula von der Leyen die Kommission anführt. Ich weiß, sie genießt nicht den besten Ruf. Aber sie verfügt über eine Reihe von Eigenschaften, die sie aus meiner Sicht zur richtigen Frau am richtigen Ort machen. Sie ist kampferfahren, sie ist relativ furchtlos und sie kennt sich mit komplexen Organisationsaufgaben aus.

Man darf nicht vergessen, sie hat schon Angela Merkel die Stirn geboten – und überlebt. Auch ihre Bilanz als Verteidigungsministerin ist im Nachhinein nicht so schlecht. Ich hatte die Gelegenheit, mit einigen Generälen über ihre Erfahrungen mit den diversen Amtsinhabern zu reden. Der absolute Tiefpunkt war Christine Lambrecht, da waren sich alle einig. Das Urteil über Ursula von der Leyen war erstaunlich differenziert. Sie habe sich in die Materie wirklich eingearbeitet, sie habe zuhören können und dann auch rasch entschieden.

Wir sind nicht wehrlos, das ist die gute Nachricht. Europa ist der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Wer uns zu drangsalieren versucht, lässt ebenfalls Federn. Angeblich erwägt Trump, auf alle deutschen Produkte 19 Prozent Strafzoll zu erheben, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, dass die Mehrwertsteuer amerikanische Produkte benachteilige. Hätte er Leute in seiner Nähe, die sich auskennen, könnten die ihm erklären, dass die Mehrwertsteuer auch für deutsche Produkte gilt. Aber er hat leider nur Elon Musk.

Als Trump beim letzten Mal mit Strafzöllen drohte, war die Antwort aus Brüssel, dass man dann eben Sonderabgaben auf Harley Davidson und Bourbon erheben müsse. Ich fürchte, das wird diesmal nicht ausreichen. Gerade die Tech-Giganten haben in Europa viel zu verlieren. Warum nicht Facebook das Leben schwer machen oder Google? Oder über Nacht plötzlich Arbeitsvorschriften entdecken, die Amazon leider nicht erfüllt? In Brüssel sitzen 30000 Beamte, die Meister darin sind, Dinge zu komplizieren. Man muss ihnen nur ein neues Ziel und eine neue Aufgabe geben.

Eine andere Frage wird sein, wie wir künftig unsere Verteidigung organisieren. Bislang haben wir uns ganz komfortabel im Schatten des Hegemons eingerichtet. Aber auch hier sind wir unserem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert. Europa hat 1,2 Millionen Menschen unter Waffen, das ist nicht Nichts. Die Rüstungsindustrie sendet Signale, dass sie durchaus in der Lage wäre, die Produktion schnell hochzufahren, wenn es denn verbindliche Zusagen gäbe.

Es schmerzt mich, das schreiben zu müssen, und das sage ich nicht einfach so dahin. Ich war immer ein Verfechter der transatlantischen Freundschaft. Der Antiamerikanismus gehörte zu den Dingen, die mich von der Linken dauerhaft entfremdeten. Ich habe vier Jahre in den USA als Wirtschaftskorrespondent verbracht, diese vier Jahre gehören zu den besten meines Lebens. Ich habe auf meinen Reisen dort so viele großzügige, hilfsbereite und freundliche Menschen kennengelernt. Aber es nützt nichts. Das sind sentimentale Erwägungen. Und aus Sentimentalität erwächst noch keine politische Strategie.

Auch in den Vereinigten Staaten werden wieder andere Zeiten kommen. Bis dahin sind wir gut beraten, uns der Realität zu stellen. Es ist die spezifische europäische Realitätsverleugnung, die uns in die vertrackte Lage gebracht hat, in der wir jetzt stecken.

© Silke Werzinger

Das Tier im Mann

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, dass jeder dritte Asylbewerber unter psychologischen Problemen leide. Droht eine Gewaltkrise? Und was wäre die Antwort: Therapeuten für alle?

Mehr Therapeuten, das wäre eine Lösung. Ein dichtes Netz an Sozialarbeitern, Medizinern und psychiatrisch geschultem Personal, das jeden auffängt, der Auffälligkeiten zeigt.

Die „Zeit Online“-Redakteurin Vanessa Vu hat den Weg bei „Caren Miosga“ gewiesen. „Wir haben Menschen in Not, offen- bar psychiatrisch auffällig, offenbar haben sie nicht die Hilfe erhalten, die sie gebraucht hätten, um solche Taten nicht zu begehen, das ist einfach insgesamt sehr bestürzend“, sagte sie nach der Bluttat von Aschaffenburg. Außerdem, so Frau Vu weiter, müsse man grundsätzlich fragen, warum es immer junge Männer seien, die zur Waffe griffen – oder wie sie mit Rücksicht auf den Flüchtlingsstatus sagte – „verzweifelte junge Männer“.

Das wäre eine weitere Möglichkeit: alle Männer unter Beobachtung stellen lassen. Nicht die Herkunft oder die ideologische Überzeugung, sondern die Geschlechtszugehörigkeit sei das verbindende Element, so hat es auch der Soziologe Andreas Kemper geäußert: „Es sind immer Männer, die sich ermächtigen, willkürlich zu morden. Egal ob Schweden, Afghanen, Deutsche: DAS ist das Problem.“

Beim Blick auf die Führungsriege der Grünen Jugend, die da sofort mit dem Kopf nickt, habe ich zugegeben Mühe, einen Überschuss an gefährlicher Männlichkeit zu erkennen. Bevor einer wie Jakob Blasel auch nur die Stimme erhebt, muss erst einmal eine Einverständniserklärung seiner Co-Vorsitzenden her. Aber wer weiß, vielleicht wohnt auch ganz tief drinnen in Jakob Blasel ein Tier, das lediglich darauf wartet, von der Leine gelassen zu werden.

Dann wäre da noch der Vorschlag einer rigideren Grenzkontrolle, wie ihn der Kanzlerkandidat der CDU favorisiert. Statt jeden ins Land zu lassen, der bei drei „Asyl“ ruft, könnte man in Zukunft genauer hinschauen, wer da eigentlich kommt. Das würde zwar keine Gewalttaten von Flüchtlingen verhindern, die bereits im Land sind. Aber es würde die Wahrscheinlichkeit verringern, dass der Anteil von Menschen, die in Deutschland nicht zurechtkommen, beständig größer wird. Doch dieser Vorschlag ist selbstverständlich völlig indiskutabel, weil viel zu pragmatisch.

Bleiben wir aus gegebenem Anlass für einen Augenblick bei der Miosga-Lösung. Auch nach der Amokfahrt von München hieß es als Erstes, man müsse mehr in die Vorsorge investieren, weil der Täter im Asylverfahren eine posttraumatische Belastungsstörung geltend gemacht hatte.

Da kommt einiges auf die Kommunen zu, wenn sie nun auch noch die psychologische Betreuung sicherstellen sollen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, dass jeder dritte „Geflüchtete“ unter psychologischen Problemen leide. Das ist eine enorme Zahl. Allein vergangenes Jahr hat Deutschland 250000 Asylbewerber aufgenommen, zusätzlich zu den 2,7 Millionen, die seit 2015 ihren Weg zu uns gefunden haben. Wenn ein Drittel davon behandlungsbedürftig ist, dann wären das annähernd eine Million Menschen.

Ob Herr Lauterbach oder Frau Vu oder Frau Miosga mal versucht haben, einen Therapieplatz zu ergattern? Selbst akute Fälle werden vertröstet, weil es nicht genug Fachpersonal gibt. Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass es schon jetzt 7000 Kassensitze zu wenig gibt. Ich will gar nicht über die Kosten reden. Ich sage nur: Wenn man die Bürger so richtig gegen sich aufbringen will, kommt man mit so einer Idee um die Ecke.

Ich kenne mich ein wenig bei mentalen Problemen aus. Zwei Jahre habe ich als Zivildienstleistender in einer psychiatrischen Nachsorgeeinrichtung in Hamburg gearbeitet. Unter den Bewohnern gab es alles, was der psychotische Formenkreis zu bieten hat: Manien, bipolare Störungen, schwere Depressionen, Schizophrenien. Aber dass sich je-mand ins Auto gesetzt hätte, um dieses in eine Menschenmenge zu steuern, ist in all den Jahren, die es die Ein- richtung nun gibt, nicht ein einziges Mal vorgekommen.

Eine Leserin hat mich darauf hin-gewiesen, dass auch nach dem Ko-sovo-Krieg viele traumatisierte Menschen nach Deutschland gekommen seien. Den Überlebenden des IS- Terrors wurde ebenfalls Furchtbares angetan. Trotzdem hat man bislang nicht vernommen, dass einer der Kriegsflüchtlinge wahllos auf Kinder eingestochen hätte.

Bis heute klammern sich viele an die Vorstellung, man könnte eine Änderung der Migrationspolitik umgehen, wenn man irgendwie mehr Verständnis für die Täter aufbringen würde. Weshalb fällt es gerade Politikern links der Mitte so schwer, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen? Auch im linken Milieu kann man bei gesellschaftlich schädlichem Fehlverhalten sehr un-nachsichtig sein. Einmal die Hand zum Hitlergruß gehoben oder im Suff „Ausländer raus“ gegrölt und selbst kirchentagsbewegte Grüne fordern sofortige Exklusion. Nur wenn es um afghanische Gewalttäter geht, herrscht erstaunliche Geduld.

Ich glaube, muslimische Flüchtlinge dienen als Projektionsfläche. Sie sind der Ersatz für die Unterdrückten und Entrechteten, die der Linken mit der Arbeiterklasse abhandengekommen sind. Dazu kommt eine gewisse Romantisierung. Schon der Ahnvater der Bewegung, der französische Phi-losoph Jean-Jacques Rousseau, schwärmte vom „edlen Wilden“, der im Einklang mit der Natur lebe, unberührt von allen Defiziten der Moderne. Dass es sich bei dem „edlen Wilden“ um eine westliche Fantasie handelte, gehört inzwischen zum Stand der Wissenschaft – nur bis zu den modernen Bewunderern des indigenen Weltenwanderers scheint sich das noch nicht herumgesprochen zu haben.

Kritiker sagen, dass man nicht so tun solle, als ob ungesteuerte Migration das größte Problem Deutschlands sei. Es ist vielleicht nicht das größte, wäre meine Antwort, aber ein sehr großes. Ich kenne aus dem Kindergarten eine Reihe von Eltern, die inzwischen Menschenansammlungen meiden. Wir leben in einem der sichersten Länder der Welt, keine Frage. Aber wenn sich normale Bürger nicht mehr auf Weihnachtsmärkte oder Straßenfeste trauen und die Gewerkschaften Demos aussetzen, weil sie ihre Mitglieder nicht dem Risiko eines Angriffs aussetzen wollen, liegt etwas im Argen.

Auch ökonomisch bleibt der unkontrollierte Zuzug nicht ohne Folgen. Nahezu 50 Milliarden Euro geben wir dieses Jahr für das sogenannte Bürgergeld aus, wobei die Hälfte der Bezieher, anders als das Wort Bürgergeld vermuten lässt, gar keinen deutschen Pass hat. Dazu kommen die Kosten für Unterbringung, medizinische Versorgung, Schule, Kita und natürlich die Asylverfahren.

Der Attentäter von München hat nicht nur zwei Anhörungen im Bundesamt für Migra-tion und Flüchtlinge durchlaufen, wie man der Zeitung entnehmen konnte. Anschließend hat sich auch noch ein Gericht mit seinem Fall befasst, da er den abschlägigen Bescheid nicht hinnehmen wollte. Die Bundesregierung hat in ihrer un- endlichen Weisheit kurz vor dem Bruch der Ampel verfügt, dass ausreisepflichtigen Ausländern automatisch ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wird, der ihnen hilft, gegen die Ausweiseverfügung vorzugehen. All das will bezahlt sein. Zusammengerechnet kommt man auf einen Betrag, der leicht an den Verteidigungshaushalt heranreicht.

Bei „Markus Lanz“ saß neulich Michael Kyrath, der vor zwei Jahren bei der Messerattacke von Brokstedt seine 17-jährige Tochter verlor. Man sei inzwischen mit weit über 300 Elternpaaren im Kontakt, die das Schicksal teilten, sagte er. Und er fuhr dann fort:

„Was uns alle eint, es ist immer dasselbe Täterprofil, es ist dasselbe Tatwerkzeug, es ist nahezu derselbe Tathergang, es sind nahezu dieselben Tatmotive und es sind am Ende einer Tat dieselben Floskeln, die wir seit Jahren hören, die Versprechungen der Politiker ‚wir machen, wir tun‘ – ge-schehen ist überhaupt gar nichts. Wir werden die nächsten Fälle wieder erleben. Und wir werden wieder erleben, dass die üblichen politischen Verantwortlichen an der nächsten Tatstelle stehen und wieder Bedauern bekunden, wie schrecklich das doch ist, und wieder versprechen, was sie nicht alles in Bewegung setzen wollen, und danach wird wieder nichts passieren.“

Ich will nicht zu pathetisch werden, aber am 23. Februar geht es auch um die Frage, ob Herr Kyrath Recht behält oder nicht.

© Michael Szyszka

Der Niedergang

„Sagen, was ist“, hat „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein seinen Redakteuren mit auf den Weg gegeben. Heute verfährt die Redaktion lieber nach dem Motto: „Sagen, was sein soll“. Dabei kommt es zu haarsträubenden Fehlern

Der Brief, der die Meinung der „Spiegel“-Redaktion über Friedrich Merz zusammenfasst, ist 22 Zeilen lang. Er findet sich auf den letzten Seiten des Heftes, wo die Zuschriften der Leser abgedruckt sind.

Peter Krizan aus dem bayrischen Neuötting berichtet dort von einem desaströsen Auftritt des heutigen Kanzlerkandidaten an der Universität St. Gallen. Vor 20 Jahren habe Merz eine Vorlesung als Honorarprofessor gegeben, die so blamabel verlaufen sei, dass der Auftritt von der renommierten Hochschule als Schande empfunden worden sei. Unter den Studenten sei es zu Tumulten gekommen. Die Universitätsleitung habe sich gezwungen gesehen, sich vorzeitig von Merz zu trennen, um das ramponierte Image wiederherzustellen. Quite a story, wie der Engländer sagen würde.

Leider stimmt an der Geschichte nichts. Merz war nie zu Vorlesungen in St. Gallen; er hat schon gar nicht Wirtschaftswissenschaften unterrichtet, weder in der Schweiz noch anderswo. Merz ist Jurist, wie man leicht ergoogeln kann. Der Leserbriefschreiber, ein pensionierter Verfahrenstechniker, existiert, das immerhin. Aber alles andere entspringt der Fantasie.

Wie Krizan der „Süddeutschen“ berichtete, hatte er sich erinnert, dass sein Sohn in St. Gallen studiert und von einem Auftritt des CDU-Politikers erzählt habe. Weil der Sohn gerade nicht greifbar gewesen sei, habe er ChatGPT befragt, was die KI zu dem Vorfall wisse, worauf ihm obige Geschichte präsentiert worden sei, die er wiederum als Leserbrief nach Hamburg an den „Spiegel“ geschickt habe. Naja, habe er sich gedacht, die haben ja einen Faktencheck, die werden das schon überprüfen. Umso größer dann sein Erstaunen, als der Brief unverändert im „Spiegel“ erschien.

Ich habe 30 Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet. Ich hatte dort eine prima Zeit. Anders, als viele vermuteten, wurde ich auch nicht weggemobbt. Der damalige Chefredakteur hat mir glaubhaft versichert, dass er meinen Wechsel aufrichtig bedauere, als ich zu Burda ging. Aber wenn ich heute das Blatt lese, erkenne ich es kaum wieder.

Der Redaktion steht eine Dokumentation zur Seite, die ihresgleichen sucht. Jeder Text geht durch mehrere Hände, auch die Leserbriefe. Wie kann es also sein, dass ein Brief, der Behauptungen enthält, die jeder Plausibilität entbehren, seinen Weg ins Heft findet? Tumulte an einer Uni, weil BWL-Studenten mit der Qualität einer Vorlesung nicht einverstanden sind – und das ausgerechnet in der Schweiz? Da lachen ja die Hühner, wie man so schön sagt.

Der Quatsch fällt niemandem auf, weil er das Bild bedient, das man sich bis in die Chefredaktion von der CDU und ihrem Kandidaten gemacht hat. Hätte es sich um Robert Habeck gehandelt, wäre ein solcher Brief gleich in der Ablage Papierkorb gelandet. Aber bei Merz scheint alles möglich. Das ist wie beim Fall Relotius: Auch da versagten alle Sicherheitskontrollen, weil die Geschichten perfekt der Erwartungshaltung der Redaktion entsprachen.

„Sagen, was ist“, steht an einer Wand im Atrium des Verlagsgebäudes an der Hamburger Ericusspitze, ein Satz des Gründers Rudolf Augstein, mit der er seine Redakteure verpflichten wollte, über den politischen Gestaltungswillen die Wirklichkeit nicht zu vergessen. Tempi passati. „Sagen, wie es sein soll“, lautet das Motto, dem sich die Redaktion heute verpflichtet fühlt.

Damit man mich nicht missversteht: Es gibt wunderbare Kollegen beim „Spiegel“. Immer wieder findet man auch Geschichten, die es in dieser Qualität nur dort gibt. Aber es ist ein Glücksspiel geworden, ob sich der Kauf des Heftes lohnt. Oft herrscht nur gähnende Ödnis.

„Es ist bitter zu sehen, wie die ‚Zeit‘ jetzt regelmäßig den ‚Spiegel‘ abkocht“, schrieb ich neulich einem Kollegen, der wie ich inzwischen woanders arbeitet. „Mir liegt das Blatt immer noch am Herzen, und ich leide wirklich mit, dass es jetzt oft so abgehängt wirkt“, schrieb er zurück.

Früher hat man sich beim „Spiegel“ lustig gemacht, dass die „Zeit“ am Donnerstag die Geschichten kommentierte, die zuvor im „Spiegel“ gestanden hatten. Heute ist es genau umgekehrt. Wie die FDP den Ampel-Bruch vorbereitete oder die Grünen einen der ihren mit erfundenen Me-Too-Vorwürfen erledigten, liest man zuerst in der „Zeit“. Im „Spiegel“ folgt dann die Nachbereitung in der „Lage am Morgen“ – oder eine „Analyse“ der Vorgänge aus der Feder der stellvertretenden Berliner Büroleiterin Maria Fiedler.

Nichts gegen gepfefferte Kommentare. Aber selbst die wirken heute oft seltsam blutleer, weil kaum noch jemand aus der Reihe tanzt. Natürlich sind die Grünen, bei allen Fehlern, die Partei der Wahl. Selbstverständlich ist Trump verachtenswert und Musk noch verachtenswerter und die Sorge um die Demokratie und den liberalen Westen das, was uns alle bewegen muss.

Weil das auf Dauer kein abendfüllendes Programm ist, verlegt sich die Redaktion darauf, dieselben Gegner einfach noch einmal zu vermöbeln. Wenn ich mich nicht verzählt habe, gab es nach der Abstimmung über die Migrationspläne der CDU allein sechs Kommentare, weshalb Merz einen desaströsen Fehler begangen habe. Dass mitunter die Korrekturhinweise unter den Kommentaren fast so lang sind wie der Kommentar selbst, weil sich die Kommentatoren in ihrem Eifer über alle möglichen Fakten hinweggesetzt haben? Geschenkt. Es geht ja gegen die Richtigen.

Ginge es nur um den „Spiegel“, könnte man sagen: Nun ja, der „Spiegel“ halt. Aber ich sehe hier einen Trend. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es mit der Selbstabschottung eines journalistischen Milieus zu tun, das alles, was der eigenen Meinung widerspricht, einfach ausblendet – oder zum Werk von Feinden erklärt, denen man aus höheren Gründen trotzen müsse.

Wie sich die Dinge verschoben haben, sieht man bei dem, was für preiswürdig gehalten wird – und was nicht. Man kann aus der journalistischen Jurypraxis geradezu ein Gesetz ableiten: Wenn sich Teile der Berichterstattung als fragwürdig oder unwahr herausstellen, erhöht das eher die Chance auf eine Auszeichnung.

Wer erhielt den renommierten „Stern“-Preis für die „Geschichte des Jahres 2022“? Der „Spiegel“ für seinen Artikel „Warum Julian Reichelt gehen musste“ – und dabei blieb es auch, als sich wesentliche Vorwürfe der Hauptbelastungszeugin als frei erfunden erwiesen. Wer bekam die Auszeichnung für die „Geschichte des Jahres 2024“? Die „Süddeutsche“ für den Ursprungstext über den Fall Aiwanger, von dem selbst der „SZ“-Chefredakteur in einer Redaktionskonferenz gesagt hatte, das man das so im Nachhinein nicht hätte machen sollen.

Wer sind die „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2024“?: Das Team des Recherchenetzwerks „Correctiv“, dessen aufsehenerregende Reportage über die Remigrationspläne der AfD vor den Gerichten so zerpflückt wurde, dass man die Redaktion gerichtsfest der Unwahrheit bezichtigen darf. Funfact: Am Tag, als das „Medium Magazin“ die „Correctiv“-Mannschaft als Vorbild für die Branche auszeichnete, erklärte das Landgericht Berlin II die Bezeichnung „dreckige Lüge“ für den von ihr publizierten „Geheimplan“ als zulässig.

Wird sich etwas ändern? Ich habe wenig Hoffnung. Am Montag entschuldigte sich der „Spiegel“ bei seinen Lesern für den Abdruck des fehlerhaften Leserbriefs. Man habe ihn „depubliziert“. Das ist das Wort, auf das man sich redaktionsintern geeinigt hat. Es klingt nicht nur ungleich vornehmer als „gelöscht“ oder „entfernt“. In ihm schwingt auch die Suggestion mit, bei der Löschung handele es sich um eine souveräne Entscheidung der Redaktion.

Selbstverständlich saß die stellvertretende Chefredakteurin Melanie Amann, die am Wochenende die Depublizierung verfügt hatte, am Sonntag schon wieder bei „Caren Miosga“ – als „die einzig Unparteiische hier an diesem Tisch“, wie die Talkshow-Moderatorin die „Spiegel“-Frau vorstellte. Unparteiisch? Da muss nicht nur der „Spiegel“-Abonnent herzhaft lachen. Anderseits gilt bei Miosga jeder als unparteiisch, der sein Kreuz links der Mitte macht. Parteiisch sind immer die andern. So schließt sich der Kreis.

Weil nichts Konsequenzen hat, auch die haarsträubendsten Fehler nicht, gibt es auch keine Veranlassung, etwas zu ändern. Das Vertrauen der Leser erodiert, aber das ist ein anderes Thema. Damit beschäftigt man sich dann auf Podien, in denen man das sinkende Vertrauen in die Demokratie beklagt.

© Sören Kunz

Unter Belagerung

Hinter den Deutschen liegen zwei aufregende Wahlkampf-Wochen. Fünf Lehren – über alte weiße Frauen, die moralische Überlegenheit der Linken und ProSieben als Bastion der Anständigkeit

Noch zwei Wochen bis zur Bundestagswahl. Was lehrt uns der Wahlkampf? Vielleicht Folgendes:

  1. Das Alter macht leider auch böse

Im Konrad-Adenauer-Haus, der Bundesgeschäftsstelle der CDU, haben viele schon Angela Merkel mit Hingabe gedient. Ich erinnere mich an den Wahlabend 2005, als es so aussah, als könnte Merkel knapp die Wahl verloren haben. Nicht wenige waren damals den Tränen nahe.

Seit Tagen ist das Adenauer-Haus unter Belagerung. Tausende versammeln sich vor der Parteizentrale, um allen, die für die CDU einstehen, ihre Ablehnung zu zeigen. Am Donnerstag voriger Woche musste die Polizei den Mitarbeitern empfehlen, das Haus zu räumen, weil ernst zu nehmende Drohungen eingegangen waren. Und was macht Angela Merkel in dieser Situation? Veröffentlicht ein Statement, in dem sie sich von ihrer Partei distanziert und damit allen recht gibt, die vor der CDU-Zentrale aufmarschieren. Kein Wort zu den Drohungen und Beleidigungen, kein Wort zu den Einschüchterungen.

Manche denken, das Alter mache milder. Angela Merkel ist der Beweis, dass es auch böser und selbstsüchtiger machen kann. Eine selbstsüchtige Person war sie immer. Mutti war schon zu Amtszeiten ein in jeder Hinsicht unpassender Begriff. Tatsächlich hat kein anderer Regierungschef so sehr darauf geachtet, die Bürger gewogen zu stimmen. Deshalb ist das Land ja auch in dem Zustand, in dem es ist.

Es gehört schon eine besondere Form des Narzissmus dazu, ausgerechnet die Leute hängen zu lassen, die sich für einen ins Zeug gelegt haben. Gerhard Schröder hat nach Ausscheiden aus dem Kanzleramt ebenfalls nur noch auf eigene Rechnung gearbeitet. Aber er ist seiner Partei zumindest nicht öffentlich in den Rücken gefallen.

Was treibt Merkel? Sie erträgt die Vorstellung nicht, dass nach ihr wieder jemand von der CDU ins Kanzleramt einziehen könnte. Der ideale Kandidat war so gesehen Olaf Scholz, der sich als sozialdemokratischer Nachlassverwalter verstand. Schon bei Armin Laschet hat sie keine Hand gerührt. Sie hat das damit begründet, dass es ihrer Rolle als Ex-Kanzlerin nicht angemessen gewesen wäre, sich in den Wahlkampf einzumischen. Aber das war immer Mumpitz. Sie wollte einfach nicht helfen.

Einen Trost gibt es: In der politischen Hölle hält der Teufel einen speziellen Platz für Menschen frei, die alle verraten, die treu zu ihnen hielten.

  1. Nur tote Juden sind gute Juden

Vor wenigen Tagen am SPD-Wahlkampfstand. Das Kind greift nach den Gummibärchen, schon ist man im Gespräch. „Na, der Merz hat sich ja ganz schön verzockt“, sagt einer der Wahlkämpfer. „Ach“, sage ich, „schauen wir mal, wie es am 23. Februar ausgeht.“

Von der Seite nähert sich eine Frau mittleren Alters mit zwei Olaf-Scholz-Buttons am Revers: „Mit Nazis paktieren in der Woche des Holocaust-Gedenktags!“, ruft sie. Das ist das Argument, das jetzt nahezu unweigerlich kommt, wenn man mit Sozialdemokraten diskutiert: aber der Holocaust-Gedenktag!

Meine Antwort lautet: „Nie wieder“, finde ich super. Allerdings fände ich es noch besser, wenn es einem nicht nur zu Gedenktagen einfallen würde. Deutschland hat die höchste Zahl tätlicher Angriffe auf Juden gemessen an der Größe der jüdischen Bevölkerung, wie aus einer aktuellen Berechnung der Antidefamation League hervorgeht.

Was ich nicht gesagt habe, aber hätte sagen sollen: Der effektivste Schutz jüdischen Lebens ist die Abweisung von Menschen, denen von klein auf eingebimst wurde, Juden zu verachten. Es gibt unter den Flüchtlingen aus Afghanistan und Pakistan sicher viele anständige Kerle. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass man jemand ins Land lässt, der üble Vorurteile hegt, ist halt ziemlich groß.

Ich glaube, die Wahrheit ist: Links der Mitte schert man sich nicht wirklich um Antisemitismus. Das fällt einem immer ein, wenn man die eigene Argumentation moralisch aufbrezeln will. „Nie wieder ist jetzt“, heißt es auch in dem Aufruf, den eine Reihe von Schauspielern veröffentlichte, um gegen den Bruch des „historischen Konsens“ zu protestieren, darunter bekannte Namen wie Daniel Brühl, Jella Haase und Karoline Herfurth.

Ich habe mir die Liste der Unterzeichner angesehen. Es sind ziemlich genau die gleichen Leute, die nie die Zähne auseinanderbekamen, als jüdische Studenten bedroht und bespuckt wurden. Die eisern schwiegen, als an den Unis das Siegeszeichen der Hamas auftauchte und Vergewaltiger und Mörder als Widerstandskämpfer glorifiziert wurden. Aber wenn es gegen Friedrich Merz geht, entdecken sie plötzlich ihre Solidarität mit der jüdischen Gemeinde in Deutschland.

  1. Die größten moralischen Knallchargen kommen von ProSieben

Apropos Zivilcourage. Natürlich finden sich auf der Liste auch wieder die Namen von Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt, den beiden politischen Schwergewichten von ProSieben. Da fiel mir ein: Als der umtriebige „Welt“-Reporter Frédéric Schwilden die beiden vor anderthalb Jahren kontaktierte, ob sie ein paar Sätze der Anteilnahme für die in Deutschland lebenden Juden hätten – nichts Politisches, nichts zum Nahost-Konflikt, einfach nur ein Zeichen der Solidarität – antworteten deren Agenten, dass man leider aus zeitlichen Gründen absagen müsse. Auch die Nachfrage, ob eventuell zu einem späteren Zeitpunkt, ging ins Leere: „Leider sehen wir in naher Zukunft generell keine Kapazitäten.“

So gesehen muss man sagen: Wie schön, dass die zwei Rassismusexperten ihre Sprache wiedergefunden haben.

  1. Hetzer sind immer die anderen

Um was es am Ende bei der Abstimmung am Freitag im Bundestag ging? Um das Wort „Begrenzung“. Das war der Begriff, den die SPD partout nicht in dem Gesetzesentwurf der CDU sehen wollte und weshalb sie ihre Zustimmung verweigerte. Wäre ja auch zu schade gewesen, wenn man die Gelegenheit, Merz als Faschistenhelferlein hinzuhängen, hätte ungenutzt verstreichen lassen.

Ein Freund von mir, SPD-Mitglied seit 38 Jahren, sagt, er schreie regelmäßig den Fernseher an, wenn dort Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef, auftauche. So weit ist es bei mir noch nicht. Aber ich kann ihn verstehen.

Mützenich steht für alles, was die SPD heute unausstehlich macht: Nichts hinbekommen, das Land in drei Jahren so runtergerockt, dass buchstäblich gar nichts mehr funktioniert. Aber dafür den ganz hohen Ton anschlagen. Mich erinnert er in seiner verlogenen Rechtschaffenheit an einen dieser Evangelikalen, die von den Freuden der Treue predigen und dann beim Kaffeekränzchen mit der Gemeinde, den Frauen heimlich in den Ausschnitt starren.

  1. Die Mehrheit findet man nicht auf der Straße

Im Netz kursiert ein Augenzeugenbericht von der großen Brandmauer-Demo in Augsburg. Danach wurden folgende Forderungen erhoben: Aussetzung jeglicher Abschiebungen. Verbot der AfD. Und Befreiung von der Marktwirtschaft. Anschließend sangen alle im Chor: „Scheiß Friedrich Merz“.

Der Aufstand gegen Rechts wird gerne als Protest der Mitte verkauft. Aber in Wirklichkeit ist er zu einem Gutteil ein Gruppentreffen der Versprengten diverser Weltrevolutionen. Noch zwei Wochen solche Umzüge – und die CDU steht am Wahltag bei 35 Prozent.

In die Wahlkabine darf ja leider kein Vertreter des Anstands-Deutschlands. Das wäre natürlich der Traum: Wahlabgabe nur unter Aufsicht, damit niemand sein Kreuz an der falschen Stelle setzt. Aber bislang scheitert das an den Wahlgesetzen. Also ist man am 23. Februar auf die Einsicht der Wahlbürger angewiesen.

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen die Remigrationspläne der AfD zu demonstrieren. Und dann? Dann landete die SPD bei der Europawahl auf dem schlechtesten Ergebnis seit 1887. Ich habe das extra nachgeschaut: 1887, da ging es bislang noch einmal tiefer hinab.

© Silke Werzinger

Horrido zur Nazijagd

Woran erkennt man einen Nazi? An seinem Tesla. An Dackel und Polohemd (sagt die „SZ“). Und an seinem Wunsch nach sicheren Grenzen. „Keine Zusammenarbeit mit Nazis. Seit 1863“, lautet die Antwort der SPD auf Friedrich Merz

Ich kenne zwei Kollegen, die Tesla fahren. Ich werde ihre Namen nicht nennen. Man soll andere nicht ohne Not bloßstellen. Aber nachdem sie mit ihrem Kauf schon die Kampagne zur Wiederwahl von Donald Trump unterstützt haben, stellt sich nun die Frage, ob das Fahren eines Teslas nicht dem Zeigen eines verfassungsfeindlichen Symbols entspricht.

Eine Woche wogte der Streit, ob Tesla-Chef Elon Musk bei der Amtseinführung von Donald Trump einen Hitlergruß zeigte. Für Musks Unschuld sprachen: die Anti-Defamation League, der Historiker Niall Ferguson sowie diverse Kenner des Dritten Reichs.

Aber spätestens, nachdem der „Spiegel“ die „studierte Politologin“ Kira Ayyadi von der Amadeu-Antonio-Stiftung als Gruß-Koryphäe aufbot („Das war definitiv ein Hitlergruß“), darf die Sache in Deutschland als entschieden gelten: Wer in ein S-Modell steigt, kann auch gleich mit einem Hakenkreuz spazieren fahren.

Es reicht weniger als ein Tesla, um als Nazi identifiziert zu werden. Dackel, Polohemd und Sneaker sind ebenfalls verlässliche Anzeichen für eine braune Gesinnung. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das stand neulich in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ über „moderne Fascho-Fashion“.

Wenn alle Stricke reißen: Der Kampf gegen den Nationalismus geht immer. Auch retrograd, also rückwärts in der Geschichte. „Keine Zusammenarbeit mit Nazis. Seit 1863“, hat der SPD-Parteivorstand als Antwort auf die Migrationspläne von Friedrich Merz gepostet.

Vor 162 Jahren war Adolf Hitler noch nicht einmal geboren. Außerdem haben eine ganze Reihe ehemaliger Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus erfolgreich in der SPD Karriere gemacht, die können schon mal nicht gemeint sein. Aber egal, mit einem fröhlichen Horrido zur Nazijagd liegt man nie falsch.

Mal sehen, ob es auch als Argument für die Bundestagswahl reicht. Ich habe da meine Zweifel. In der grünen Blase kommt das wunderbar an, klar. Da ist der Kampf gegen Rechts das, was man ein Feelgood-Thema nennt. Deshalb sah man am Wochenende auch nur gut gelaunte Gesichter bei der großen Antifa-Demo am Brandenburger Tor.

Viele fanden es unangemessen, dass die grüne Parteispitze bei der ersten Kundgebung nach dem Kindermord von Aschaffenburg die Gelegenheit für fröhliche Selfies nutzte. Aber das verkennt die Funktion solcher Aufmärsche. Niemand, der dort aufläuft, glaubt daran, dass sich eine nennenswerte Zahl von Nazis von dem Motto „Magie ist stärker als Hass“ beeindrucken lässt. Solche Events dienen der Selbstvergewisserung. Endlich mal wieder das Gefühl haben, auf der richtigen Seite zu stehen – darum geht’s.

Die Grünen waren zuletzt arg geplagt von den sozialpolitischen Eskapaden ihres Kandidaten, dazu kommt die leidige Gelbhaar-Geschichte. Auch bei den Sozialdemokraten herrschte wahlkampfmäßig eher tote Hose. Der Antifaeinsatz wirkt in einer solchen Situation wie politisches Viagra. Aber darüber hinaus? Ich glaube, viele Wähler sehen das Treiben mit Befremden. Die meisten denken sich: Sicher, man kann nicht wachsam genug sein. Aber dass jetzt ausgerechnet Friedrich Merz die Tür zu einem neuen tausendjährigen Reich aufstößt, wie der SPD-Fraktionsvorsitzende behauptet: Das erscheint dann doch etwas weit hergeholt, da haben wir gerade drängendere Probleme.

Ich bin auch dagegen, dass die CDU sich mit der AfD einlässt. Aber darum geht es bei der sogenannten Brandmauer nur noch am Rande. In Wahrheit ist sie so etwas wie ein Dauerticket auf Regierungsbeteiligung ohne parlamentarische Mehrheit.

Egal, was sie sich im Adenauer-Haus einfallen lassen: Erst muss die CDU im Bundesvorstand der Grünen und im Willy-Brandt-Haus nachfragen, ob sie es dort ähnlich sehen. Nur wenn es dort ein Okay gibt, kann’s weitergehen. Das ist die genialste politische Erfindung seit Entdeckung der Wahlurne.

Der grüne Kandidat hat die Funktionsweise der Brandmauer sehr schön auf den Punkt gebracht, als er gefragt wurde, ob Parteien ihre Anträge stoppen sollten, wenn die Falschen zustimmen könnten. „So ist es“, sagte er in dankenswerter Klarheit. Kein Wunder, dass sie bei den Grünen trotz aller Rückschläge so gute Laune haben.

Ich kenne das Argument. Es heißt „Beifall von der falschen Seite“. Wenn ich den Eindruck habe, dass sich unter meinen Beiträgen zu viele Menschen sammeln, die von allen guten Geistern verlassen sind, steuere ich gegen. Oft reicht ein Post, indem man Annalena Baerbock lobt, und diese Follower zerstreuen sich in alle Winde.

Aber ich würde nie meine Positionen danach ausrichten, ob mir die falschen Leute zustimmen. Wenn man damit anfängt, kommt man in Teufels Küche. Das ist wie Opportunismus andersherum: Zu behaupten, dass eins und eins nicht zwei sind, weil das angeblich den falschen Leuten nutzt, führt direkt ins Verderben.

Wenn man die Position von Grünen und SPD zusammenfassen sollte, lautet die: Alles nicht schön, aber uns sind die Hände gebunden. Die SPD hat zwei Seiten veröffentlicht, weshalb alle Vorschläge der CDU, die Situation an der Grenze unter Kontrolle zu bekommen, nicht gehen.

Auch in den Talkshows wird eine Phalanx von Experten aufgeboten, die vor allem sagen können, was alles nicht möglich ist: also keine Zurückweisung an den Grenzen, keine Inhaftierung von ausreisepflichtigen Asylbewerbern, keine Aussetzung des Familiennachzugs.

Mich erinnert das an das Jahr 2015, als Angela Merkel sich zu Anne Will in die Talkshow setzte und unter dem schafsköpfigen Nicken der Moderatorin erklärte, dass man die deutsche Grenze leider nicht schützen könne. Das war damals so falsch wie heute. Es ist diese Schicksalsergebenheit, die Menschen an der Politik verzweifeln lässt.

Es muss alles so bleiben, wie es ist? Nein, sagt eine deutliche Mehrheit der Wähler, das wollen wir so nicht akzeptieren. Und sie haben aus meiner Sicht absolut recht. Genau das ist doch die Aufgabe von Politik: Auf Unsinniges oder Gefährliches zu reagieren, indem man es ändert.

Auch Europarecht ist nicht in Stein gemeißelt. Nennen Sie mich meinetwegen einen heillosen Chauvinisten, aber wenn der größte Nettozahler der EU damit droht, wegen Überforderung seine Zahlungen zu stunden, werden sich die Nachbarn überlegen, was ihnen wichtiger ist: deutsches Geld oder das Beharren auf offenkundig widersinnigen Regelungen.

Zumal unsere Nachbarn es mit den europäischen Verträgen ja auch nicht so genau nehmen. Würden sie es genau nehmen, würden bei uns nicht Tausende anklopfen, die über Italien oder Bulgarien oder einen anderen Dublin-Staat eingereist sind.

Es gibt jetzt sogar eine antifaschistische Wirtschaftspolitik. Der Begriff stammt von der in rot-grünen Kreisen hochgeschätzten Ökonomin Isabella Weber. Um Menschen davon abzuhalten, sich in die Arme rechtsextremer Parteien zu begeben, sollten die anderen Parteien in Deutschland umgehend die Schuldenbremse aufheben, empfiehlt sie. Die Schuldenbremse sei eine Gefahr für die Demokratie, da sie Verteilungskämpfe befördere.

Zur Verteidigung von Frau Weber muss man vielleicht hinzufügen, dass sie mit den politischen Verhältnissen in Deutschland etwa so vertraut ist wie Elon Musk. Sie sitzt zwar nicht in Texas, sondern im beschaulichen Amherst, einem der wokesten Colleges der USA. Aber auch von dort hat man einen eher eingeschränkten Blick auf den Rest der Welt.

Mit dem Wirtschaftsprogramm der AfD scheint sich die Professorin jedenfalls nicht näher beschäftigt zu haben. In Wahrheit ist es noch neoliberaler als das der FDP. Weshalb ausgerechnet eine Ausweitung des Sozialstaats die Anhänger der AfD von ihrer Wahlentscheidung abbringen soll, bleibt das Geheimnis von Frau Weber. Aber wenn es gegen rechts geht, ist alles egal, auch die Logik.

Annähernd 70 Prozent der Deutschen denken in der Migrationspolitik so ähnlich wie Friedrich Merz. Angeblich finden seine Vorschläge sogar unter sozialdemokratischen Anhängern eine Mehrheit. Für mich klingt das nach einem ziemlich starken Argument.

Man kann gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen die ganze Zeit regieren. Man kann gegen die Mehrheit eine Zeit lang regieren. Aber man kann gegen die Mehrheit nicht die ganze Zeit regieren.

© Michael Szyszka

Die Pforte zur Hölle

Was lehrt der Fall Stefan Gelbhaar? Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen: Von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie vielleicht besser fernhalten

In Umfragen geben 13 Prozent der Deutschen an, sie würden für die Grünen stimmen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Weitere zwölf Prozent sagen, dass sie sich eine Wahl der Grünen grundsätzlich vorstellen könnten.

Was macht die Grünen für Wähler attraktiv? Der Einsatz für den Klimaschutz? Sicher. Der Kampf für Gleichberechtigung und Minderheitenrechte? Auch das. Aber das eigentliche Versprechen ist ein anderes. Dass es in der Gesellschaft menschlich zugehe, dass nicht Neid und Missgunst regieren, sondern Anstand und Ehrlichkeit, das ist das wahre Angebot.

So steht es auch auf den Plakaten. Wo die anderen mehr Rente oder günstigere Mieten in Aussicht stellen, prangt bei den Grünen einfach das Wort „Zusammen“. „Ein Mensch. Ein Wort“, das ist der Satz, mit dem Robert Habeck und Annalena Baerbock für sich werben.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind 48 Jahre alt, mit zwei Kindern, seit sieben Jahren sitzen Sie im Deutschen Bundestag. Wenige Tage vor der für Sie entscheidenden Abstimmung, in der über den Listenplatz für die nächste Bundestagswahl befunden wird, tauchen Gerüchte auf, Sie hätten sich Frauen in ungebührlicher Weise genährt.

Es gibt nichts Fassbares, keine Namen oder konkrete Angaben, nur allgemeine, dazu anonyme Anschuldigungen. Aber das reicht, um Ihnen den Rücktritt nahezulegen. Sie müssten zurückziehen, werden Sie aus der Spitze der Partei bedrängt, dazu gäbe es keine Alternative.

Sie sind wie vom Donner gerührt, sie können sich auf alles keinen Reim machen. Dann steigt das Fernsehen ein. Und die Anschuldigungen werden immer wilder. Es heißt, sie hätten sich eine Frau gefügig gemacht, indem sie diese mit K.-o.-Tropfen betäubt hätten. Einer anderen Frau sollen Sie gegen ihren Willen an den Busen gefasst, einer weiteren einen Kuss aufgezwungen haben. Woher die Journalisten die Informationen haben? Sie können nur raten. Bis eben galten Sie als einer der Stars Ihrer Partei, Sie haben eines der wenigen Direktmandate gewonnen. Aber binnen weniger Tage bricht alles zusammen.

Wohin Sie sich auch wenden: Niemand ist bereit, sich für Sie zu verwenden. Die Bundestagsfraktion umfasst 117 Abgeordnete, jeder kennt jeden. Aber auch hier regt sich keine Hand zu Ihrem Schutz. Es gibt allenfalls ein verlegen genuscheltes Wort des Bedauerns, das ist es.

Sie bitten darum, dass man Ihnen die Chance einräumt, sich zu verteidigen. Aber das wird Ihnen verwehrt. Genauere Angaben, was Ihnen vorgeworfen wird? Das sei leider aus Rücksicht auf die Opfer nicht möglich. Sie ziehen einen Anwalt bei und strengen eine Strafanzeige wegen Verleumdung an. Aber es nützt nichts. Am Ende nimmt man ihnen auch noch das Direktmandat.

Eigentlich ist längst entschieden, dass Sie wieder für Ihren Wahlkreis antreten werden. Aber Ihre Gegner setzen eine Wiederholung der Abstimmung an. Die Gegenkandidatin erklärt, sie wolle, dass die Partei auch für Frauen sicher sei. Es klingt, als seien Sie ein gefährlicher Triebtäter, den man unschädlich machen müsse. Sie haben keine Chance.

Ein Mensch, ein Wort? Der Mann, der seinen Ruf und sein Amt verlor, heißt Stefan Gelbhaar. Seit ein paar Tagen kennt ihn die halbe Republik. Denn das alles war erfunden: die Geschichten über den erzwungenen Beischlaf, die aufgedrängten Küsse, der Griff an den Busen. Die wichtigste Belastungszeugin hat es nie gegeben, sie ist die Erfindung einer Parteikollegin. Die Frau, die sich das alles ausgedacht hat: eine Bezirkspolitikerin vom linken Flügel der Partei, gut vernetzt, wie es heißt.

Gibt es einen vergleichbaren Fall in der deutschen Parteiengeschichte? Ich kann mich an keinen erinnern. Dass man in der Politik mit Gerüchten und Unterstellungen arbeitet, um Konkurrenten zu Fall zu bringen, das hat es immer wieder gegeben. Aber eine Verleumdung, die eine Karriere zerstört, ohne dass jemand aus der Parteispitze auch nur eine Nachfrage stellt: Das ist einmalig. Auch einmalig beängstigend.

Viel war in den vergangenen Tagen von den eidesstattlichen Erklärungen die Rede, die vorgelegen hätten, so wollte man den Vorwürfen Glaubwürdigkeit verleihen. „Wer eine falsche stattliche Erklärung abgibt, macht sich strafbar“, hieß es in der ersten Stellungnahme der grünen Parteispitze – so steht es auch auf der Webseite des RBB, der die Anschuldigungen in Umlauf brachte.

Auch das gehört zum Mummenschanz, mit dem Gelbhaar zur Strecke gebracht wurde. Bei Journalisten abgegebene Versicherungen an Eides statt kennt das Strafrecht nicht, sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Wie eine Nachfrage des „Tagesspiegel“ ans Licht brachte, hat der RBB sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Identitäten der angeblichen Zeugen zu prüfen. Eine eidesstattliche Versicherung ohne Geburtsdatum und ladefähige Adresse: Das gibt es nur in der Berliner Welt.

Muss man noch erwähnen, dass die personellen Verflechtungen der Redaktion mit der grünen Partei außergewöhnlich eng sind? Man kennt sich, man schätzt sich. Der heutige Wahlkampfmanager der Grünen, Andreas Audretsch, der den Machtkampf gegen Gelbhaar für sich entschied: ein ehemaliger RBB-Redakteur. Der Ehemann der Berliner Spitzenkandidatin für die Bürgermeisterwahl Bettina Jarasch: war unter anderem Leiter der Abteilung „Aktuelle Magazine“.

Es ist nicht ganz klar, was der Ombudsstelle der Grünen vorlag, als sie den Stab über Gelbhaar brach. Waren es die Vorhaltungen, die dann auch beim RBB landeten und die, wie man jetzt weiß, größtenteils auf falschen Vorwürfen beruhten? Lagen ihr weitere Aussagen vor? Und wenn ja, waren diese ebenfalls anonym oder hat sich jemand im Bundesvorstand mal die Mühe gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen? Dem Beschuldigten gegenüber wurde die Partei nie konkret, über Andeutungen ging es nie hinaus.

Dem „Business Insider“ gegenüber hat Gelbhaar geschildert, wie ihm die Situation zugesetzt hat. Wie er nächtelang wach lag und darüber grübelte, was vorgefallen sein könnte. Wie er sich mit Beruhigungsmitteln runterzubringen versuchte. „Das Ganze zieht enorm Kraft, es macht einen fertig. Man weiß, da ist nichts dran, aber man sucht trotzdem nach einer Erklärung. Wo kann was so krass missverstanden worden sein, das ist ein zielloses Selbstgespräch. Es zermürbt einen.“

Und nun? Nun will es keiner gewesen sein. Die Schuld trägt aus Sicht der Partei allein der RBB und die bis eben noch für ihre „intersektionale, feministische Perspektive“ geschätzte Bezirkspolitikerin, die den Stein ins Rollen brachte.

Der grüne Kanzlerkandidat zog es zunächst vor, sich gar nicht zu äußern. Wäre man Spötter, würde man sagen, er brauchte halt Zeit, seine Gedanken zu sortieren, um zu überprüfen, wer er ist und was wir sein können. Die Außenministerin erklärte, als Außenministerin könne sie zu dem Fall gar nichts sagen, es gebe gerade andere Herausforderungen weltweit.

Das Tor zur Hölle hat sich nicht durch Zufall geöffnet. Der Verzicht auf die Unschuldsvermutung ist bei den Grünen kein Versehen, es ist für sie Ausdruck von Fortschrittlichkeit. Die Parteispitze hat sich ausdrücklich von dem Prinzip verabschiedet, Anschuldigungen zu überprüfen, bevor man aus ihnen Konsequenzen zieht. „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend“, erklärt die Ombudsstelle, bei der alle Verfahren landen, ihr Selbstverständnis.

Und daran soll sich auch nichts ändern. Eine feministische Partei könne sich keine Unschuldsvermutung leisten, erklärte die Vorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, in Verteidigung der Parteilinie. Die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber die Grünen seien kein Gericht, sondern eine politische Organisation. Widerspruch vom grünen Kanzlerkandidaten? Keiner, jedenfalls keiner, den man vernehmen konnte. Lassen Sie es uns vielleicht so sagen: Wo immer Grüne demnächst politische Verantwortung übernehmen – von Positionen, in denen sie über das Schicksal von Menschen zu entscheiden haben, sollte man sie besser fern halten.

© Sören Kunz

Schlangenölverkäufer

Viele haben sich aufgeregt, dass die Grünen ein Habeck-Bild auf das Siegestor in München projizierten. Dabei lautet die Frage: Warum nicht gleich die Feldherrnhalle? Das hätte doch bei dem Wahlkampf viel näher gelegen

Die Deutschen müssen ein glückliches Volk sein. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man gewinnt, wenn man sich den Wahlkampf der Regierung ansieht.

Sicher, hier und da klemmt es. Das eine oder andere könnte besser laufen. Aber im Prinzip ist das Land auf dem richtigen Weg. Deshalb kann man sich auch vor allem den Gefahren zuwenden, die außerhalb lauern, jenseits der Grenzen dieses kleinen Paradieses.

Da ist der amerikanische Präsident, dieser Berserker, der mal eben die Grenzen verschieben will. Grönland zu Amerika? Nein, das können wir ihm nicht durchgehen lassen. Also stellt sich der Kanzler ins Kanzleramt und erinnert Trump daran, dass das Völkerrecht für jeden gelte. So steht es dann anderntags auch in den Zeitungen: Scholz weist Trump in die Schranken.

Dann ist da natürlich Elon Musk, dieser überdrehte Kindskopf, von dem es heißt, dass er unsere Demokratie zerstören wolle. Als die „Welt“ neulich einen Gastbeitrag des Milliardärs veröffentliche, stand im „Spiegel“ zu lesen, das sei ein Tabubruch.

Ich habe mir unter Tabubruch bislang etwas anderes vorgestellt. Dass Jürgen Klopp zu Red Bull wechselt zum Beispiel, das fällt für mich unter Tabubruch. Aber die Veröffentlichung eines Gastkommentars des reichsten Mannes der Welt in einer deutschen Tageszeitung? Anderseits: Was verstehe ich schon von Tabus, nicht wahr? Deshalb lesen sich meine Kolumnen ja auch, wie sie sich lesen.

„Die deutsche Sprache ist die tiefste, die deutsche Rede die seichteste“, schrieb Karl Kraus. Er kannte die Grünen nicht. Hätte er sie gekannt, hätte er noch ganz anders geurteilt.

Robert Habeck hat Auskunft darüber gegeben, was aus seiner Sicht die Gesellschaft zusammenhält und was nicht. Was sie nicht zusammenhält, sind Fakten – sagt Habeck. „Wir kommen nicht weiter, meine ich, wenn wir uns nur die Zahlen um die Ohren hauen, der eine sagt drei, der andere sagt vier, und der Nächste sagt: Wenn der vier sagt, sage ich fünf, und die Wahrheit ist aber dreieinhalb. Das bindet noch nicht eine Gesellschaft zusammen. Wir sind ganz wesentlich das Land, das wir uns sagen, das wir sein wollen, über das wir reden“, erklärte er vor ein paar Tagen in einem Interview.

Auf X schrieb jemand, der Auftritt erinnere ihn an seinen Gemeinschaftskundelehrer auf Abifahrt nach drei Bieren (alkoholfrei). Wer viel redet, liegt auch mal daneben, ließe sich anführen. Aber bei Habeck hat das Prinzip.

Wie sein Vorsatz für 2025 aussieht? „Kanzler werden, Mensch bleiben“. Als ich einem Freund in den USA von dem Plakat erzählte, dachte der, ich würde einen meiner üblichen Scherze machen. Zwei Tage später rief er mich an und sagte, das Plakat gäbe es ja wirklich, er habe es gerade im Netz gesehen.

Viele haben sich darüber aufgeregt, dass die Grünen ein überlebensgroßes Habeck-Bild auf das Siegestor in München projizierten. Ich habe mich gefragt: Warum nicht gleich die Feldherrnhalle? Das hätte doch viel näher gelegen.

Im Wahlkampf kommt ein Volk zu sich selbst. Hier bespricht es, was wichtig ist und was nicht so wichtig. So weit die Theorie. Auch die SPD legt eine Form der Unernsthaftigkeit an den Tag, die in merkwürdigem Kontrast zur Lage steht. Wenn der Kanzler Wachstum verspricht, und zwar „mit Sicherheit“, so als müsse ein Regierungschef nur den Hebel umlegen, damit die Sache wieder läuft, weiß man, dass sie sich bei den Sozialdemokraten von jeder Seriosität verabschiedet haben.

Im 19. Jahrhundert gab es die Schlangenölverkäufer, die übers Land zogen und den Leuten Wundertinkturen anboten, die alle Malaisen über Nacht zu heilen versprachen. Zur Ehrenrettung dieser Wunderheiler muss man sagen, dass sie immerhin nicht den Anspruch erhoben, das Land zu regieren.

Die Lage ist bedrohlich, anders kann man es nicht sagen. Deutschland ist gerade aus der Liste der 20 reichsten Nationen geflogen. Der Geschäftsklimaindex ist im Dezember auf den tiefsten Stand seit vier Jahren gesunken. Wenn kein Wunder geschieht, werden wir 2025 das dritte Jahr ohne Wachstum erleben. Wer einen Job hat, tut gut daran, an ihm festzuhalten. Noch sieht man den Abschwung nicht richtig auf dem Arbeitsmarkt. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er dort durchschlägt.

Man kann sich auch nicht damit herausreden, dass es im Rest von Europa ja nicht besser aussähe. Die Rahmenbedingungen sind überall nahezu gleich, aber nur Deutschland taumelt von einem Rezessionsmonat zum nächsten. „Überall läuft es, außer in Deutschland“: Das war die Überschrift in der „Süddeutschen Zeitung“, die nun wirklich nicht in Verdacht steht, ein neoliberales Kampfblatt zu sein.

Gut, die Bürokratie gedeiht. Allein im Regierungsapparat gab es einen Aufwuchs von 1600 Beamtenstellen, ein Plus von acht Prozent. Insgesamt stiegen die Personalkosten aller Bundesbehörden unter der Ampel auf 43,5 Milliarden Euro an, das ist gut ein Fünftel mehr als zu Regierungsbeginn. Aber ob auf Dauer ein Land funktioniert, in dem niemand mehr produktiv tätig ist, weil alle nur noch einander verwalten? Das wäre das Deutschland-Experiment.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe verglich die Wirtschaftslage in einem aufrüttelnden Aufsatz für die „FAZ“ mit der Spätphase der DDR. Dort wuchs am Ende auch nur noch der Staat. Tatsächlich ist ein hypertrophes Staatswachstum nicht Zeichen der Stärke, sondern im Gegenteil ein Zeichen des Niedergangs, wie der Historiker belegen kann. Doch eigenartig, in den Reden vieler Politiker kommt das nicht vor. Oder wenn, dann als Schicksal, das man halt ertragen muss.

Die Grünen haben sich komplett auf das Gefühlige verlegt. „Zusammen“ und „Zuversicht“ sind die Schlagworte, mit denen sie antreten. Im letzten Wahlkampf versprachen sie immerhin noch eine funktionierende Bahn und ein Internet, auf das man sich verlassen kann. Okay, wir wissen, wie das ausgegangen ist. Deshalb nun der sanfte Robert als Wahlkampfhit.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich es nicht anders machen. Wenn ihr Kandidat mal konkret wird, wie mit dem Vorschlag, Sozialabgaben auf Kapitalerträge zu erheben, muss die gesamte Parteispitze ausrücken, um die Sache zurechtzubiegen. Wer im Wolkigen bleibt, braucht es mit den Fakten nicht so genau nehmen. Das ist ein unbestreitbarer Vorteil.

Wie wird der nächste Kanzler heißen? Natürlich Olaf Scholz. Sagt Olaf Scholz. Die große Mehrheit der Deutschen meint etwas anderes, aber das bekümmert den Kanzler nicht. Wenn die Wähler am Wahltag aufgefordert sind, sich zwischen Friedrich Merz und ihm zu entscheiden, werden mehr Leute für ihn als für den Herausforderer stimmen. So verkündet es Scholz.

Zumindest in der SPD scheint es genug Leute zu geben, die das glauben. An der Basis macht sich leichte Panik breit. Wenn sich die Umfragen bewahrheiten und die SPD bei 15 Prozent landet, muss ein Drittel der Abgeordneten seinen Platz räumen. Und nicht jeder, der dann ohne Mandat dasteht, hat eine gut gehende Anwaltskanzlei, in die er zurückkehren kann. Aber an der Parteispitze: kein Zucken.

Das Ganze nötigt mir schon wieder Respekt ab. Einfach sein Ding durchziehen. Sich nicht darum scheren, was die andern sagen. Ich kenne das von dem verhaltensauffälligen Kind aus der Nachbarschaft. Das lebt auch in seiner ganz eigenen Welt.

Historiker Plumpe erinnerte zum Ende seines „FAZ“- Textes an zwei Grundsätze, die er bei Gottfried Benn gefunden hatte: „1. Erkenne die Lage. 2. Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“

Wir haben das umgedreht: Wir gehen von den Parolen aus und halten sie für Bestände.

Die Meute

Wir wiegen uns im Glauben, wir wären als Mensch zivilisierter als unsere Vorfahren. Die Zeiten, als wir uns zusammenrotteten, um Jagd auf Einzelne zu machen, lägen hinter uns. So betrügen wir uns gern selbst

Der Universalgelehrte und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti war zeit seines Lebens vom hypnotischen Sog fasziniert, den das Aufgehen in der Menge auf den Menschen ausübt. „Masse und Macht“ heißt sein Hauptwerk, an dem er mit Unterbrechungen fast 30 Jahre arbeitete.

Ein Kapitel widmet sich der „Hetzmasse“, wie Canetti die Meute nannte, die erst ablässt, wenn sie ihr Opfer zur Strecke gebracht hat. „Die Hetzmasse bildet sich auf ein rasch erreichbares Ziel“, heißt es dort. „Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist ihr auch nah. Mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los; es ist unmöglich, sie darum zu betrügen.“

Jetzt hat die Meute also den Journalisten Thilo Mischke zu Fall gebracht. Seit die ARD verkündete, dass sie dem mehrfach prämierten Fernsehmann die Moderation der Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ übertragen wolle, setzte eine Gruppe „Kulturschaffender“ alles daran, ihn zu Fall zu bringen. Am vergangenen Samstag knickte der Sender ein und erklärte, Mischke sei raus, man werde sich nach einem anderen Moderator umsehen.

Das Vergehen des Reporters? Er hat vor 15 Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel „In 80 Frauen um die Welt“. Außerdem hat er in einem Podcast erklärt, dass Männer biologisch gesehen Vergewaltiger seien, eine These, für die man als Kulturchefin beim „Spiegel“ sofort zwei Seiten freigeräumt bekommt. Ach ja, und er hat den Namen einer Gesprächspartnerin falsch betont. Das reichte, um zur Jagd auf ihn zu blasen.

Mischke hat niemanden unsittlich berührt. Er hat keine Frau durch anzügliche Bemerkungen in Verlegenheit gebracht oder seinen Status ausgespielt, um eine Kollegin herumzukriegen. Alles, was man ihm zu Lasten legen konnte, war loses Reden.

In dem offenen Brief, die seine Absetzung verlangte, hieß es, er befördere den Sexismus in der Gesellschaft. Das ist das Argument, auf das sich die Erstunterzeichner verständigten. Aber das ist erkennbar Unsinn. Mischkes Buch ist so alt, dass es nicht einmal als E-Book mehr verfügbar ist. Wie soll ein Text, den keiner mehr lesen kann, den Sexismus befördern?

Tatsächlich hat sich Mischke eines viel simpleren Vergehens schuldig gemacht: Er hat den Verhaltenskodex der Leute, die ihn verfolgen, missachtet. Er hat sich über ihre Benimm- und Sprachregeln hinweggesetzt – das war unverzeihlich.

Stilfragen sind auch immer Fragen der Exklusion. Mischke ist der seltene Fall eines Journalisten, dessen Karriere nicht über die Journalistenschule, sondern über Populärorgane wie „Playboy“, „GQ“ und ProSieben führte. Der 43-Jährige kommt aus dem proletarischen Osten und damit einer Welt, die man in den Kreisen, in denen man nun zum Halali blies, bestenfalls vom Hörensagen kennt. Darüber kann auch die Selbstproletarisierung als „Kulturschaffende“ nicht hinweghelfen.

Nichts triggert die Meute so verlässlich wie die Erkenntnis, dass einer nicht dazugehört. Das funktioniert wie vor 500 Jahren. Das Opfer steht immer am Rand, es ist der Außenseiter, der entweder als zu privilegiert oder als zu glaubensschwach oder als politisch nicht verlässlich genug gilt. Da kann sich einer noch so sehr bemühen, den richtigen Ton zu treffen, um nicht aufzufallen. Die Meute riecht sofort, ob er einer der ihrigen ist oder eben doch nur ein Parvenu.

Selbstverständlich hält man in dem Milieu, aus dem Mischke stammt, einen Titel wie „In 80 Frauen um die Welt“ nicht für degoutant, sondern für lustig. Zumal wenn am Ende der Weltreise die große Liebe steht. Hier käme auch niemand auf die Idee, von einem Moderator grundsätzlich als „Moderator*in“ zu sprechen, weil man nicht von Außen beurteilen könne, welches Geschlecht jemand als das seine bevorzuge.

Am Ende ist es die Feigheit der Institutionen, die der Meute den Triumph ermöglicht. Die meisten, die gelobten, niemals mehr einen Fuß in eine „Titel, Thesen, Temperamente“-Sendung zu setzen, würden nie in die Verlegenheit geraten, auch nur in die Nähe einer Erwähnung zu kommen. Wer hätte je von Zara Zerbe, Luca Mael Milsch oder Fikri Anıl Altıntaş gehört?

Und die drei, vier Namen, die man kennt, gehören zu den üblichen Verdächtigen, die immer dabei sind, wenn es darum geht, sich aufzublasen. Der Autor Saša Stanišić, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – Leute, die alles dafür geben, dass ihr Name in der Zeitung steht, und für die man früher, als der Tag noch nicht mit einem Blick über die Schulter begann, das schöne Wort Arschkrampe verwendet hätte.

Es wäre so einfach, man müsste nur für ein paar Tage die Neven behalten. Am Ende hat die Petition „Verhindert Thilo Mischkes Moderation von ‚Titel, Thesen, Temperamente‘“ nicht einmal das selbst gesteckte Ziel von 5000 Unterschriften erreicht, sondern blieb bei 3600 stecken. Aber zu solcher Gelassenheit sind sie bei der ARD nicht in der Lage, das ist die politische Dimension. Die Journalistin Wiebke Hollersen hat das klar erfasst, als sie den Kotau der Programmdirektion in der „Berliner Zeitung“ eine „Katastrophe“ nannte: „Ein paar Tausend Menschen können bestimmen, wer in der ARD nicht moderieren darf“, das sei das Beängstigende.

Unter den Unterzeichnern findet sich auch die Person, die in einer „Taz“-Kolumne Polizisten auf den Müll wünschte. Ich hätte gedacht, dass man vorsichtiger urteilt, wenn man selbst einmal in die Mühle geraten ist. Dass man sich nicht zum Unterschriftenclown macht, wenn man als Autorin ernst genommen werden will. Doch da habe ich mich geirrt. Am Ende ist diesen Leuten das Ansehen, das sie in ihrer kleinen Welt genießen, wichtiger als jede Integrität.

Wenn die Annika anruft und um Unterstützung bittet, mag man nicht Nein sagen. Es könnte ja darauf hinauslaufen, dass die Annika in Umlauf bringt, dass auf die Hengameh auch kein Verlass mehr ist. Und dann, Gott bewahre, in ihrem Podcast ein paar abträgliche Bemerkungen fallen lässt. Der findet zwar praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil sich kein normaler Mensch für ihre feministische Esoterik interessiert. Aber wer weiß, einer könnte es ja doch mitbekommen, und davor hat man Angst.

Das alles ist so arm und eng, dass man weinen möchte. Aber so gesehen passt es dann wiederum zur Kulturwelt der ARD, in der man sich nicht an dem orientiert, was die Zuschauer interessieren könnte, sondern an dem, was die „Community“ denkt. Das steht in der Erklärung, mit der die ARD Mischke beerdigte, wörtlich so: Die Diskussion über die Personalie stehe den Themen im Weg, die „wir gemeinsam mit der Community diskutieren möchten“.

Vielleicht sollte man sich die Liste der Unterzeichner aufbewahren, damit man weiß, von wem man sich besser fernhalten sollte, wenn man sich sein Vertrauen in die Menschen bewahren will. Man muss nur die 100 Erstunterzeichner auf Google suchen, dann sieht man das ganze Elend. Es sind erstaunlich viele frühzeitig gealterte Menschen, die schon mit 35 solch tiefe Magenfalten um den Mund haben, als litten sie an einem furchtbaren Ulkus. Niedertracht macht hässlich, innen und außen.

Canetti kannte sich aus mit den Menschen. Deshalb traute er ihnen auch nicht. Der Einzelne mag verträglich sein, sein Verderben ist die Zusammenrottung. „Der Abscheu vor dem Zusammentöten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht“, schrieb er in „Mensch und Masse“. „Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrichtungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und kann unter hundert Einzelheiten bei denen verweilen, die einen besonders erregen.“

Und weiter: „Nicht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuss. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. Aber man weiß mehr darüber als in früheren Zeiten, da man stundenlang gehen und stehen musste und schließlich auch nur wenig sah.“

Denn auch das gehört ja zur traurigen Wahrheit: Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit im „Spiegel“, in der „Zeit“ oder der „Taz“ wäre die moderne Hetzmeute machtlos. Dann würde kaum jemand in der großen Welt von ihren Rasereien Notiz nehmen und alles würde da enden, wo es seinen Anfang nahm: in der Einsamkeit des unerfüllten Lebens.

© Michael Szyszka